Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Siebentes Kapitel

Der Jäger vom Brandenstein

(1623)

 

In alten Zeiten der Slawenwald – saltus slavorum –, in einer Urkunde vom Jahre 1039, worin der Kaiser Konrad Il. dem Landgrafen Ludwig I. einen Teil dieses Waldes zueignet, „Leibe“ genannt, das von dem slawiſchen Lovia: eine dichte, undurchdringliche Waldwüste, Laube, stammt, birgt der Thüringer Wald, namentlich in seinen Abzweigungen und Ausläufern nach der „Provinz Saalfeld“ hin, heute noch mancherlei Spuren aus der slawischen Zeit, besonders in den Sagen.

Wie die bewaldeten Gebirge die Feuchtigkeit festhalten und deshalb in Frische strotzen und von einer erquickenden Atmosphäre durchdrungen sind, so halten sie auch Sage und Sitte fest, so erhalten sie ein frisches Volksleben. Diesen Reiz des Waldgebirges haben auch die Flachländer ausgefunden und kommen zur Anfrischung ihres Blutes – sogar von der großen Insel herüber – in die Berge gezogen, mit Vorliebe auch in den ehemaligen saltus slavorum, und durchklettern Höhe und Tiefe, Blöße und Dickicht, wie einst die Bären und Wölfe. Heute ist es schwierig, im Thüringer Wald ein Plätzchen aufzufinden, wo man ungestört traulich und beschaulich einen Tag verleben könnte. Vor dritthalbhundert Jahren war es aber noch anders. Da hatte man in der Lovia vor Engländern und Märkern Ruhe, und von Lufthäusern und befrackten Kellnern war nichts zu sehen.

Ziemlich am Ausgang eines heimlichen Thüringer Waldtales, dessen fischreiches Flüßchen sein klares Wasser der Saale zusendet, stand ein einzelnes Wirtshaus. Es war Ende September des Jahres 1623; die Dunkelheit des Abends war in der kleinfenstrigen

Wirtsstube um einige Schatten satter als draußen, und während die Tannenwipfel auf den Bergesspitzen noch mit den Strahlen des Abendrotes kosten, brachte das Wirtstöchterlein den großen hölzernen Kandelaber geschleppt und stellte ihn an die Tischecke. Bald erhellte ein langer brennender Buchenspan die Gesichter zweier an dem Tisch in traulicher Unterhaltung begriffnen Männer.

Der eine, der Jägermeister Eckhold, zu dessen Füßen etliche Hunde lagen, zog aus seiner Jagdtasche ein kleines Instrument, durch dessen Röhrenspitze er eine Rabenfeder zu ziehen beschäftigt war, als das Wirtstöchterlein ihm den gefüllten Krug vorsetzte. „Was habt Ihr da Neues, Herr Jägermeister?“, fragte neugierig das Mädchen und griff in zutraulicher Art nach dem Ding mit den Worten: „So was hab ich noch nicht gesehen. Damit wird wohl der Zunder im Feuerzeug angeblasen?“

Der Jägermeister lachte. „Beinahe erraten, lieb Kind!“, sagte er. „Daraus wird Tabak getrunken; der edle Graf Günther hat es mir von Dresden als Neuigkeit mitgebracht und auch ein Säcklein dürres Kraut dazu; hat mir es auch vorgemacht, wie man den Tabak trinkt. Ist ein absonderlich Zeitvertreib und macht einem die Stirn ein wenig warm. Aber als Nasenwärmer in der Kälte mag sichs wohl bewähren.“

Der Jägermeister stopfte sich sein Pfeifchen, wie wir heute sagen. Das Mädchen hatte sich einen Schemel herbeigeholt, die Hunde unter die Bank gewiesen und sich dicht vor des Rauchenden Knie gesetzt. Als er die ersten Rauchwölkchen nach des Jüngferchens Gesicht hinblies, rieb es sich die Augen, fing an zu husten und lief davon. Die Hände zusammenschlagend, rief sie: „Herr Jägermeister! So einen kleinen Meiler im Gesicht herumtragen ist Narretei! Hätt nicht gedacht, daß so ein braver Mann solch Possenwerk treiben könnte!“

Sprichst die Wahrheit, mein Mäuslein! Habs auch schon gedacht. Aber wenn man das Ding in der Tasche hat und das dürre fremdländische Kraut dabei, so kommt man leicht auf den Einfall, es herauszunehmen; man füllt es, brennt es an und zieht und bläst und denkt, es sind Narrenspossen, und zieht und bläst und schwitzt dabei, und denkt, schwere Not! Was machst du da? Und ruht halt doch nicht, bis es ausgebrannt ist. – Hätts wohl in meinen Pulverkasten geschlossen, das Meilerding; aber es soll gut sein gegen das Beschreien, gegen Hexen, böse Geister und den Teufel.“

Glaubt Ihr auch an Hexen, Herr Jägermeister?“, fragte der andre am Tisch, ein von Jena kommender Student.

Wird auf Euern Akademien denn jetzt der Unglaube gelehrt, daß Ihr also fragt? Oder seid Ihr etwan gar kein Student? – Hexen? – Hahaha! – Wie oft haben mir diese Rabenäser schon auf die Zündpfanne gespuckt, wenn ich der wilden Katz oder dem Luchs die Lichter auslöschen wollte, oder wenn mir ein Sechzehnender stand. Welche Tücken und Drangsale hat mir das Gesindel schon angetan! Da ist eine – na, Ihr kennt sie ja nicht! Aber was sagt Ihr denn, wenn ich behaupte, daß es sogar Hexenmeister gibt, noch dazu blutjunge? Da ist ein Kerl, kann vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahr alt sein, hat das Spitzbubenmetier erwählt: bald ist er zu Fuß, bald zu Roß an der Spitze seiner Bande. Glaubt man, man hätt den Kerl einmal im Kessel, ist er längst über alle Berge. Er muß fliegen und sich verwandeln können in einen Adler, oder Raben, oder eine Fledermaus. Wenn man zugreift, hat man ihn nicht, und es saust einem etwas des Ungeziefers am Ohr vorbei. Bald spukt er draußen im Hennebergischen, bald da bei uns herum; draußen heißen sie ihn den Marschall Hans. Der kriecht durch das Schlüsselloch in den Marstall und holt sich das Beste. Und sitzt er auf seinem Raub, so hört und sieht man weder Roß noch Mann. – Und Er will fragen, ob ich an Hexerei glaube? Behaltet Eure neue Weisheit für Euch, Herr Student!“

Martin Bötzinger sah in das Wasser unter der Flamme und schwieg. Eine glühende Kohle nach der andern fiel zischend in den nassen Spiegel. Dem Jägermeister war die Pfeife ausgegangen; er zündete an und stieß aufgeregt eine Wolke nach der andern hervor. Etliche Züge aus dem kühlen Krug versetzten ihn jedoch bald wieder in eine gutmütige Laune. „Weiß Er was, Herr Student? Ich pfeif in die ganze Hexerei! Ich will Ihm eine alte Jagdgeschichte erzählen, die ich von meinem seligen Großvater vielmal gehört habe. Zur Zeit des Kaisers Heinrich Il., der die Reichdomäne Saalfeld dem Pfalzgrafen Ehrenfried zu Aachen übergeben hatte, gabs da bei uns herum viel Bären, die die greulichsten Verwüstungen anrichteten und über Siedelei und Stadt Furcht und Schrecken verbreiteten.Heda! Pluto, das wär ein Spaß für uns gewesen!“ – Pluto knurrte unter der Bank. – „Ward selbigmal ein Bär darunter befunden, der an Wut und Grausamkeit, aber auch an übermäßiger Körpermasse alle übrigen seines Geschlechts übertraf und ein wahres Ungeheuer war. Zur Befriedigung seiner Gefräßigkeit haben Hirsche, Damhirsche und eine Menge kleinerer Tiere bei weitem nicht hingereicht, sondern er ist bei hellem Tage, ohne sich durch das Begegnen eines Jägers abschrecken zu lassen, aus seinem Lager mit fürchterlichem Rachen in die benachbarte Gegend herausgebrochen und hat starfe Zugochsen an Wagen und Pflügen angefallen, erwürgt und verzehrt. – Wär was für uns gewesen, Pluto! – Da haben die Einwohner selbigen Landes hinwegziehen wollen, ihre Sicherheit unter einem andern Himmelsstrich zu suchen. Aber ehe sie zum Wanderstab griffen, haben sie doch erst wollen noch einen Rettungsversuch machen und sich an ihren Landesherrn, den Pfalzgrafen Ehrenfried zu Aachen gewandt, im Vertrauen auf dessen Tapferkeit und Stärke, und ihn dringend gebeten, sie von diesem bösen Feind zu befreien, maßen dessen Verwüstungen sich sonderlich über die Saalfeldische Provinz verbreiteten. Der Pfalzgraf hatte aber einen Spürhund mit langen Zottelhaaren und von ganz absonderlicher Stärke mit Namen Lyciska – ein Hundegeschleht, das sich aus einer Vermischung mit Wölfen ableitet und dem Virgil schon bekannt war. Mit diesem mächtigen Hund kam der Pfalzgraf herzu, das Land von seinen großen Bärenschrecknissen zu befreien. Nachdem die Jäger mit ihren Hifthörnern das ungeheure Tier ausgespürt hatten, ist es mit furchtbarem Gebrüll aus dem Dickicht gebrochen und hat mit aufgehobnen Tatzen den Pfalzgrafen angefallen. Der aber hat, während Lyciska es beim Ohr packte, dem Ungeheuer die beiden Vordertatzen abgehauen und es mit dem Jagdspieß vollends zu Boden gestreckt. Die Haut dieses Bären, dessen Fleisch zu einem frohen Gastmahl zubereitet worden ist, hat fünfzehn Fuß in der Länge gehabt.“

Diese Geschichte lehrt uns“, sagte Martin Bötzinger, „daß man mit Bären, und wenn sie noch so groß sind, noch fertig werden kann.“

Seitdem das Pulver erfunden ist, ist die Jägerei ja eine ganz andre Sache. Mit so einer Blitzwaffe kann just einer, der noch nicht hinter den Ohren trocken ist, einen Bären auslachen.“

Ja, einen Bären! Aber so eine Jagd, Herr Jägermeister, von der Ihr erst erzählt habt, so ein Kesseltreiben auf einen Marschall Hans, scheint mir doch die schrecklichste Jagd!“

Da hat er ja Recht, Student, aber mein Rohr hätt ihn nunmehr erreicht, wenn er kein Hexenmeister wär.“

Martins Wangen glühten, und er entgegnete: „Der Hans ist kein Hexenmeister. Er war ein braver Bursche, den die Verzweiflung der Hölle in den Rachen gehetzt hat, weil sie seine Mutter verbrannt haben.“

Da riß der Jägermeister die Augen weit auf und richtete sie wetterleuchtend auf den erregten Akademiker, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „Da habt Ihrs ja! Seine Mutter haben sie verbrannt, und ihr Bankert soll rein sein von der schwarzen Kunst? Hahaha!“

Martin schwieg. Er ging mit sich zu Rat, ob er dem Jägermeister erzählen sollte, was er wußte, oder nicht; es kämpfte in seinem Innern. Der Herr Jägermeister tat einen großen Zug kühlen Bieres, klopfte sein Pfeifchen aus und begann es zu stopfen. Er schwieg auch. Pluto knurrte verhalten. Die Totenuhr pickte im Tisch. Die Tannenwipfel auf den Bergspitzen wiegten sich nunmehr auch in Dunkelheit. Die stummen Äschen in dem geschwätzigen Flüßchen träumten von ihrer Herbstreise flußabwärts. – Das Wirtstöchterlein steckte einen neuen Span auf und warf den brennenden Rest ins Wasser, daß es zischte und ein kleiner Nebel aufstieg, und setzte sich dann in die Hel und schielte träumerisch nach dem merkwürdigen Studenten.

Da tat sich leise die Tür auf. Und wie hergezaubert stand auf der Schwelle ein schmucker junger Mann, vornehm kostümiert, in ritterlicher Haltung, mit lächelndem Spiel in den edeln Gesichtszügen, in der Rechten ein Pistol, ein Schwert an der linken Seite. Der Jägermeister erblaßte und starrte wie versteinert die Erscheinung an. Pluto erhob sich neben seinem Herrn und schlug an. Seine Kameraden, ein Säufänger und ein Dachs, taten desgleichen. Da wandte sich auch der in sich versunken gewesene Martin nach der Tür, und – mit einem Schrei des Entsetzens fuhr er mit der Rechten nach dem Tisch, um sich anzuhalten, während sich die Linke zur abwehrenden Gebärde erhob. In diesem Augenblick erhob die Gestalt auf der Türschwelle das Pistol und sagte halblaut: „Guten Abend, Märt!“ – Es klang fast herzlich. Unmittelbar auf den Gruß krachte das Feuergewehr: der brennende Buchenspan ward durch eine in die Wand schlagende Kugel in zwei Stücken geteilt, sodaß plötzlich das tiefste Dunkel die Situation verschlang.

Durch den Schuß gereizt waren die Hunde bellend nach der Tür gesprungen. Diese hatte sich ihnen vor der Nase geschlossen: der Scharfschütz war verschwunden.

Komm, Pluto! Da hilft alles nichts!“, sagte der Jägermeister. Das Wirtstöchterlein wollte Feuer schlagen; aber es versagten ihr die Glieder, so lag der Schreck darin.

Da erhob sich der Jägermeister und näherte sich dem Mädchen; er war so weichmütig, daß man ihn um einen Finger hätte wickeln können, und schäkerte: „Käthe, Käthe! Wenn ders dir nicht angetan hat, heiß ich Hans! Hättst dus gesagt, daß du ihn erwartest, wärn wir lange auf und davon gegangen. – Her mit dem Stahl! Wo ist der Stein? – Hab ihn!“

Bald hatte der Herr Jägermeister Licht. Er zündete einen Span an und steckte ihn auf, trank seinen Krug aus und sagte, sich niedersetzend: „Wo sind denn deine Leut, Kind? Wenn der Student und der Jägermeister jetzt nicht da gewesen wären, hätte was passieren können im Haus.“

Käthe stand mitten in der Stube und blickte auf den Studenten, der sich immer noch mit der Rechten am Tische anhielt.

Da hilft alles nichts, Käthe! Wo ist der Wirt und die Wirtin?“

Sie sind nach Rudolstadt. Ich laure schon zwei Stunden auf sie.

Und der Friedel und der Matthes?“

Die sind ins Holz gefahren und könnten auch nunmehr da sein.“

Und die Grete und Kunnel?“

Die eine hab ich den Eltern, die andre dem Holzfuhrwerk entgegengeschickt.“

Bist eine brave Tochter! – Heda, Herr Student! Was denkt Er denn von der schwarzen Kunst? Wär mir das Ding da nicht ausgegangen, das Meilerding, der Kerl hätts nicht riskiert!“

Martin stand auf und sah verwirrt nach der Stubentür.

Ja ja! Herr Student! So stehts“, sagte der Jägermeister. „Ihr habt längst ausgetrunken. Käthe, hol dem Herrn da einen frischen Krug; mir auch einen! – Also Ihr kennt den Marschall Hans auch; Ihr habt ihn erkannt und seid mehr vor ihm erschroden als ich, der ich doch mehr Ursache hätt, ihn zu fürchten, weil ich an die schwarze Kunst glaube. Ihr habt keine Partie genommen vorhin und wißt, daß seine Mutter verbrannt worden ist; Ihr haltet ihn für einen braven Burschen, und ist doch bei seinem Anblick ein mörderischer Schrecken in Euch gefahren. Da kenn sich einer aus! Wißt Ihr was, Herr Student? Ihr seid mir ein närrischer Kunde!“

Ich hab mir schon oft über den Unterschied zwischen Narren und vernünftigen Leuten den Kopf zerbrochen, Herr Jägermeister; ist aber bei diesen meinen Untersuchungen noch nie was herausgesprungen. Haltet Ihr mich für einen Narren, so muß ich mir das gefallen lassen: habe ich doch schon ganz respektable Leute als Narren anzusehen Ursache gehabt. Das Leben ist ein Gemengsel von Vernunft und Narrheit, aus dem wohl der Weiseste nicht klug werden mag. Habt also Geduld mit meiner Narrheit, Herr Jägermeister!“

Hab ich den Fuchs in seinem Bau locker gemacht? Das laß ich mir doch gefallen, daß Er einmal blank von der Kalaune schwatzt, Er Schwerenöter! Und nun frag ich Ihn auf seine gottverdammte Narrheit hinein, wo Er den Hans hat kennen gelernt? Unter seinem Kommando kann Er doch nie gestanden haben, wenns wahr ist, daß Er studiert hat.“

Er versteht sein Wild zu kreisen, Herr Jägermeister! Ist der Kreis eng genug, läßt Er den Krätzer spielen. Gut, Er solls erfahren, was ich nicht gern erzähle. Aber fragt nicht dazwischen; denn was ich verschweige, hängt an dem, was mir ans Herz gewachsen ist und geschont sein will.“

Ist recht, Junge! Wir werden schon einander noch leiden können. – Aber ehe mir durch Euern Anfang das Fragen abgeschnitten wird, eine Frage: Wie kommt Ihr dazu, in diesen Kriegszeiten die Reise hinaus nach Franken durch den Thüringer Wald allein zu wagen, ohne Hund, ohne Büchse, Pistol, Spieß und jegliche Wehr, solo, blank und bloß wie eine Schnepfe auf dem Strich?“

Noch fürcht ich nicht diesen Krieg auf meinem Spaziergang durch das Gebirge. Aber er wird noch wüten, daß es uns bange werden wird. Im Frieden haben sie unzählige Mütter und Jungfrauen verbrannt auf Scheiterhaufen: nun wird die Kriegsfackel die Dörfer und Städte verbrennen; vor fünf Jahren hat sie am Himmel gestanden. Sie ist herunter gefallen und hat ihr Werk begonnen. Wehe über das arme Deutschland! Die Lohe der Scheiterhaufen ist auf zu den Wolken gestiegen und hat sich da oben auf dem großen Notizbuch unsers Herrgottes abgebildet als eine Strafrute. Die Welt ist erschrocken; aber was kann aus einem Gemengsel von Narrheit und Vernunft aufgehen, wenn ein Schwanzstern hineinfällt? Nach des weisen Gottes Rat nichts als verzehrendes Feuer, Tod und Verderben! – Und der selige Bischof Julius in Würzburg hat recht gehabt, als er sagte, die evangelischen Gewissen führen aus einander wie Heuhüpfer, ohne Ziel, und die Evangelischen seien ein in lauter Klötzer zerrissener Haufen, den die Verwesung treffe gleich als das Wetter einen Schutthaufen. – Die Fürsten, auf die das evangelische Volk hoffte, haben dieses Volk verraten, als sie die protestantische Union auflösten. Habt Ihr von dem Buch gehört, Herr Jägermeister, worin die Taten der Union verzeichnet stehen? In diesem Buch sind alle Blätter leer! Aber das schöne Lied kennt Ihr:

 

Der Unierten Treu ging ganz verloren,

Kroch endlich in ein Jägerhorn,

Der Jäger blies sie in den Wind,

Das macht, daß man sie nirgends find?

 

Ich glaub nicht, daß Ihr der Jäger wart, der die Union in den Wind geblasen hat!“

Weiß Er was, Herr Student? Wenn Er auch ein närrischer Kerl ist, aber Er ist kein dummer Kerl! Ich die Union in den Wind geblasen? Da hab ich vor etlichen Tagen ein neues Buch auf des Grafen Tisch gesehen, heißt: Colloquium trium principum; darin stand:
 

Die Dölpel könnens nicht verstehn,

Die gänzlich dafür halten,

Es treff an die Religion

Und lassen uns drin walten,

Wir haben viel ein ander sinn,

Wir suchen nur Ihr Taschen u. s. w.

 

Kurzum, Herr Student! Diesen Krieg soll der Teufel holen! Da hat Er ganz recht! Aber es ist doch ein närrisch Ding, so ganz allein in den Thüringer Wald spazieren zu gehen, wo ein Hexenmeister als Spitzbubenmarschall haust. Was sagt Er dazu?“

Da hat Er ja recht, Herr Jägermeister! Aber davon wußte ich nicht. Meine Franken sind mit einander nach Erfurt gereist in Ferien. Da ich aber aus Mangel der sumtuum nicht weiter studieren kann, hab ich auch nicht Geld zum Reisen und muß darum allein in patriam zurückkehren.“

Halt! Da kommen wir auf das, was Er erzählen wollte vom Marschall Hans. Will nun nicht mehr fragen.“

Martin Bötzinger begann zu erzählen. Der Jägermeister horchte gespannt auf. Mit Schonung umging Martin seine Eltern; aber der Lindenelsa Zeugnis betonte er. Da er also verschwieg, daß seine Eltern Hansens Mutter in den Hexenprozeß gestoßen hatten, und daß dadurch in des unglücklichen Sohnes tiefstem Innern auch der Haß gegen Martin mit gesäet ward, so blieb dem Jägermeister der Hauptskrupel ungehoben. Er gab sich aber zufrieden mit dem, was er gehört hatte.“

Käthe saß in der Hel wie eine Schlafende; aber ihre Augen waren zwischen den Fingern, die ihr Gesicht verbargen, auf den Erzähler gerichtet, mit viel mehr Interesse, als ihr lauschendes Ohr für seine Tätigkeit hätte beanspruchen können. Mit viel mehr Interesse aber lauschte ihr Ohr, als einst das des Wirtes zu Volkach, wenn ihm die weinseligen Pfaffen zur Beichte saßen. Die Ohren des Beichtstuhles und die Ohren der Wirtshäuser erlauschen gar oft des Herzens Geheimnis, das ohne sie vergraben bliebe. Und so ernten die Diener Gottes und die Diener der Welt durch entgegengesetzte Mittel dieselben Früchte.

Das Holzfuhrwerk, Friedel und Matthes mit der nach ihnen ausgeschickten Kunnel, kam an. Käthe sprang auf und eilte hinaus.

Herr Bötzinger! Der Marschall Hans hat Ihn hier erwischt, von dem Er sich nichts Gutes versieht. Hier würde er schlecht schlafen die Nacht. Er geht jetzt mit mir nach Rudolstadt und übernachtet bei mir. Ich leb auch noch wie ein Junggesell; aber es soll Ihm gefallen bei mir. Sicher soll Er schlafen und fest wie ein Engel in Abrahams Schoß. Er bleibt etliche Tage bei mir; ich will mich nicht umsonst mit Ihm herumgehärt haben.

Martin nahm die Einladung an, und beide, nachdem der Jägermeister der wiedergekehrten Käthe die Zeche bezahlt und sich von ihr verabschiedet hatte, schritten wie Freunde in Begleitung der Hunde festen Mutes dem Grafensitz zu.

Der Abend war frisch, und vom wolkenlosen Himmel glitzerten die Sterne in ihrer alten Ordnung so friedlich hernieder auf die alte Erde, als ob da auch alles in schönster Ordnung wäre. Dem gestirnten Himmel grollt niemand. Seiner freuen sich die mordbrennerischen Horden Tillys und die Scharen des wilden Christians von Braunschweig und Wilhelms und Bernhards von Weimar in ihren Lagern; seiner freut sich der Marschall Hans mit seinen Spitzbuben, die Käthe im Schwarzatal, der Pfarrer Paul Wolf am Fenster seiner Studierstube, der Peter mit seiner Bärbel unter der großen Linde zu Bischleben. Die wunderbare Wirkung des Sternenhimmels auf das menschliche Gemüt hatte auch Martin Bötzinger manchmal verspürt. Auch heute goß dieser Himmel seinen Frieden dem jungen Mann, der vor einer Viertelstunde noch in so großer Aufregung gewesen war, in die Seele.

Auf einen lustigen Jagdschwank, den der Jägermeister zum besten gegeben hatte, erzählte Martin die große Jagdgeschichte, die er vor drei Jahren in Jena erlebt hatte: die Drachenkreisung. Da kam der Herr Jägermeister in die heiterste Stimmung und lachte so herzlich, daß er stehen bleiben mußte.

Als aber Pluto anschlug und seine Kumpane zu knurren begannen, zupfte der Herr Jägermeister Martin am Ärmel und sagte: „Guter Freund, da ist was nicht in Ordnung.“ Er tat sein Gewehr von der Schulter, gab dem jungen Freunde seinen Degen und kommandierte leise: „Nun vorsichtig vorwärts!“

Bald wurde galoppierender Hufschlag hörbar, und in wenig Minuten sauste ein Reiter vorüber. Die Hunde schlugen an; ein Pistolschuß fiel, und ein verhallendes Gelächter folgte. Es war nichts mehr zu hören und zu sehen.

Marschall Hans!“, rief der Jägermeister. „Aber da hilft alles nichts! – Doch, da wollen wir nicht stehen bleiben. Auf Grafenpferden hat der Teufelsfechser gut reiten! Er wird doch meinem Herrn nicht wieder in den Marstall gebrochen sein! Aber da hilft alles nichts! Ich werde von meinem dürren Kraut was in Brand stecken; das kann nichts schaden.“

Der Jägermeister stopfte sein Pfeifchen und schlug sich Feuer. Dann marschierten die aus dem Sternenfrieden Gefallnen schweigend weiter. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie weinen, schimpfen und fluchen hörten. Martin blieb stehen und sagte: „Herr Jägermeister, da ist was passiert!“

Kann mir denken, was passiert ist. Vorwärts in geschlossener Kolonne! Pluto, Achtung!“

Bald stieß die bewaffnete Macht auf ein Kleeblatt, von dem zwei Abteilungen weinten und eine fluchte. „Gutfreund!“ war die Losung beim Zusammenstoß.

Das fluchende und ein weinendes Drittel waren Käthes Eltern, und das andre weinende Drittel war Grete. – „Mein fettes Schwein ist fort!“, sagte der Wirt; „was meine Frau eingekauft hat, haben sie ihr abgenommen; und was ich an Geld noch übrig behalten hatte, mußt ich auch hertun. Da soll doch gleich die Pestilenz dreinfahrn!“

Wer hats Euch genommen?“, fragte der Jägermeister.

Drei Kerle. Machten nicht viel Federlesens. Und als ich einen Reiter anrief, der dazu kam, rief der: Seid Ihr fertig? Ins Lager!“ Und sprengte davon.“

Da hilft alles nichts!“, rief der Jägermeister, „aber warum geht Ihr nicht eher heim, beim Donnerwetter!?“

Da vergaß der Wirt sein Mißgeschick und rief: „Er hat noch weiter nach Haus als ich, Herr Jägermeister!“

Da hilft alles nichts! Gute Nacht! Ihr seid nun sicher, da Ihr leer seid“, rief der Jägermeister im Weitergehen.“ – So war der Zusammenstoß ohne Blutvergießen verlaufen.

Hat er meinem Herrn die Stute gestohlen, kann er dem Wirt auch einmal ein Schwein stibitzen. Das hat er in Münze geholt, unsers in natura. Aber da hilft alles nichts!“

Martin Bötzinger schritt unter dem Sternenschimmer dahin wie im Traum; er hatte kein Auge mehr für den Himmel. Nun hatte der Himmel auch keinen Frieden mehr für seine Brust. In seinem brütenden, gedankenlosen Zustande hatte er auch den Jägermeister vergessen, der sich eben das Pfeifchen wieder gestopft und angezündet hatte und deshalb etwas zurückgeblieben war.

Der Jägermeister holte seinen Studenten bald wieder ein, faßte ihn am Arm und brachte ihn zum Stehen. „Horch Er einmal, was in der Luft vorgeht! Hört Er nichts?“

Herr Jägermeister, ich höre nichts!“

Ihn hat der Reiter und das Spitzbubenelend angepackt. Aber da hilft alles nichts! Horch Er einmal genau!“

Herr Jägermeister, ich höre nichts!“

Pistolenschüsse sinds freilich nicht, auch keine Drachen. Horch Er einmal genau! Hört Er nicht dann und wann einen langgezognen feinen Vogelruf aus der Höhe? Etwa so! Z–z–z–zb!“

Ja, Herr Jägermeister!“

Das sind Weindrosseln. Sie kommen aus Polen und ziehen nach dem Süden. Das sind Zugnächte: das Herz lacht einem im Leibe! Morgen abend bleiben wir daheim und gehen zu Bett, wenn sich die Hühner aufsetzen, daß wir des Morgens um zwei Uhr ausgeschlafen haben zu einem Spaziergange, wie Er in seinem Leben noch keinen gemacht hat.“

Weindrosseln? Weindrosseln hab ich noch nicht gesehen. Sind die größer als ein Bachsterz, Sperk oder Rotzagel?“

Da merkt man recht deutlich, daß Er studiert hat! Ein Sperk? Ein Rotzagel? Er ist wohl nicht bei Trost! Na, genug davon für heute. Er soll einen Morgen erleben, daß Er gradnaus gucken wird, einen Herbstmorgen. Davon haben wenig Mensſchen einen Begriff.

 

In der folgenden Nacht war das wieder ein Leuchten und Glitzern am Himmel, es war eine Pracht! Und in der Saale hatte sich auch ein Himmel aufgetan. Daraus stieg es empor, leise, aber eilig: ein unabsehbares Heer kleiner Geister mit weißen Mützen wie die Konditorbuben. Sie rannten über das Tal hin und an den Bergwänden empor und über das Feld und den Wegen entlang an den Rändern, und auf das Laub der Sträucher und Bäume, wenn sie ihnen nicht zu hoch waren, setzten sie sich und begannen in eifriger

Geschäftigkeit mit durchsichtigen, unsäglich geschickten Fingerchen jedes Hälmchen und Härchen, Blättchen und Steinchen mit den feinsten weißen Kristallnädelchen dicht zu besetzen. Und wenn ein Hase oder ein Fuchs, ein Reh oder ein Hirsch, ein Eber oder Dachs zwischen ihnen hindurch lief und von den plumpen Füßen die feine, prächtige Arbeit zertreten wurde, waren flugs viel tausend feine Fingerchen geschäftig, den Schaden wieder auszubessern. Und zwischen den friedlich glitzernden Sternen oben und den weißmützigen, emsig bildenden Kristallgeistern unten zogen durch die Luft wieder die reisenden Drosseln und riefen ihr sehnsüchtiges „Z–z–z–zb“ in die stille Nacht hinein.

Aber der eiserne Perpendikel im Schloßturm, ewig in gedankenvoller Bewegung ob des Treibens menschlichen Wahnwitzes am hellen Tage und des geheimnisvollen Waltens unzähliger Geister in stiller Nacht, mußte der eisernen Fledermaus ihr Tänzchen gestatten, zu dem die zwei Glockenschläge nach Mitternacht aufspielen. Da trat der Jägermeister mit einem Lämpchen in Bötzingers Schlafgemach und rief: „Hallo! Auf, zum Spaziergang!“

Und vor dem Saaltor rief ein langbespießter Wächter „Werda!“.

Hanfried, sei kein Narr! Uns könntst du nunmehr kennen. Habn freilich großen Huckepack; aber wir tragen die Stadt nicht fort.“

Dacht nicht gleich an Euch; wart mir auch zu sehr im Schatten. Ja, Hansas! Es ist keine Kleinigkeit, Wächter sein, wenn die Spitzbubn mit dem Gottseibeiuns akkordiert habn.“

Hast recht, Hanfried! Möcht wissn, wies der Kerl anfing. Der Löwenwirt ist doch auch nicht ohne.“

Ja doch! Aber er war auf eine Brunnröhre gebunden. Der soll seinen Fuchs wieder sehn!“

Adjes, Hanfried! Wir haben notwendig. Der Herr Jägermeister will heut kommen mit Besuch. Heut gibts mehr Vögel als im verwichnen Frühjahr Maikäfer. Wenn unser Jägermeister nur keine Weibsleut mitbringt, sonst ist der Kohl versalzen!“

Wieso, Hansas?“

Weil die nicht Ruhe halten.“

Ei, es gibt auch unter den Männern solche, denen die Unruh das Maul molestieret! Nun bhüt Euch Gott!“

Hansas, mit einem großen, zwei Ellen breiten, drillichüberzognen Reff auf dem Rücken, fädelte den Saalsteg ein, und sein Gehilfe, ebenso befrachtet, folgte still: Vogelsteller sprechen nicht mit einander.

Auf dem Schloßturm machte die eiserne Fledermaus ihren Dreiuhrtanz; der eingesperrte Pluto gab seinem Trennungsschmerz den hundemäßigen Ausdruck, und der Herr Jägermeister schritt mit seinem Studenten durch das Saaltor und ebenfalls über den Saalsteg.

Warum habt Ihr die Hunde heut nicht mitgenommen?“, fragte Bötzinger, „die zeigen doch an, was man nicht gleich siehet, sonderlich der Pluto.“

Guter Freund, heut darf nichts angezeigt werden von meinem Hund. Geschickt zu schweigen und geschickt zu täuschen ist heut die Hauptsache!“

Herr Jägermeister! Das scheint mir auch keine geringe Sache im gemeinen Leben. Wir hängen alle im Netz der Täuschung und des Wahns!“

Student! Student! Schon wieder Schrullen! Na, Er soll heut sehn, wie man im Netz hängt.“

Die ganze Menschheit hängt im Netz!“

Wer sind denn die vermaledeiten Vogelsteller, in deren Netz Er die Leute alle hangen sieht?“

Das sind der Glaube, die Liebe, die Hoffnung – Selbstsucht, Haß, Neid, und wie sie alle heißen. Sie täuschen uns und verstricken uns in Wahn, bis uns die Erde verschlingt.“

Was sind das für Morgenphantasien! Gottsdonnerwetter! Wenn er einmal als Pfarrer das Netz seiner Vogelsteller zerreißt, so fliegen seine Beichtkinder alle in die Luft. Ich bleib doch dabei: Er ist ein närrischer Kerl! Liegt Ihm denn der vermaledeite Spitzbubenmarschall noch immer in den Gliedern?“

Diese Gestalt verfolgt mich durchs Leben. Und vor dieser Gestalt taucht die Welt in ein Nebelmeer unter, wie eine Ente. Und wenn der Hans verschwunden ist, und die Welt aus dem Meer wieder aufsteigt, kommt sie mir vor wie ein begossener Pudel, diese Trödlerbude, in der sich wahnwitzige Gecken im Heiligenschein bekomplimentieren.“

Ich sags ja! Er sprengt einmal seine Beichtkinder alle in die Luft! Aber da wir einmal auf den Spitzbubenmarschall gekommen sind: den Löwenwirt hat er nicht schlecht heimgeschickt. Weils gerade der Löwenwirt ist, so mags noch sein. Dem hat er seinen prächtigen Fuchs gestohlen, als er gerade drauf saß.“

Herr Jägermeister, Euer Latein versteh ich nicht und muß mir zwei Kuriosa in Eurer Rede erklären lassen. Zum ersten: Warum mag es sein, da es der Löwenwirt ist? Zum andern: So der Hans den Fuchs gestohlen hat, als der Löwenwirt gerade darauf saß, muß der Löwenwirt doch auch abhanden kommen sein?“

Na, das Studieren hat Ihm doch nicht so viel geschadt, als ich dachte! Dem Löwenwirt gönn ichs, weil er mich verwichnen Winter im Knobeln so garstig hat anlaufen lassen. Aber der Fuchs ist fort, und der Löwenwirt sitzt nicht mehr drauf. Der saß hernach auf einer Brunnröhre.“

Auf einer Brunnröhre? Dieses Kuriosum wird immer spitzfindiger!“

Ja, sieht Er, Herr Bötzinger! Einen solchen Streich haben die Studenten in Jena noch nicht zuwege gebracht. Will Ihm darauf helfen – aber nicht auf die Brunnröhre! Der Teufelskerl, der Hexensohn, lag mit etlichen seiner Leute im Busch: kommt der Goldfuchs, mit seinem neuen Herrn im Sattel, angetänzelt, riecht des Marschalls Stute und geht nicht von der Stelle und führt sich auf, daß es gar aus ist. Wie das Wetter ist der Marschall mit seiner Stute zur Seite. Und seine Spitzbuben sind auch schon zur Hand, ziehen den Löwenwirt herunter und werfen ihrem Marschall die Zügel des Fuchsen zu. Im Galopp geht es davon, und der Fuchs wiehert dabei vor Lust, daß es dem Löwenwirt das Herz im Leibe bald zerreißt. Und was machen die verfluchten Kerle? Wie echte Rudolstädter Spaßvögel setzen sie den Löwenwirt rittlings auf eine Brunnröhre, die über einen tiefen Graben läuft, binden ihn fest und laufen davon. Die Botenfrau von Schaala hat ihn hernach logeschnitten.“

Der Humor ist nicht zu verachten, und wenn man ihn bei Spitzbuben findet“, sagte Bötzinger lächelnd.

Wenn ich nur wüßte, wie Ihm ein wenig beizubringen wäre! Ich hab an Ihm bis jetzt noch keine Spur dieses Sonnenscheins entdecken können.“

Die beiden Herren hatten schon Schloß Cumbach hinter sich und schlugen eben einen steilen Fußpfad ein. Als sie hernach stehen blieben, sich ein wenig zu verpusten, fragte der Jägermeister: „Hört Er nichts?“

Ja, Herr Jägermeister! Weindrosseln.“

Er läßt sich gut an. Gott segne seine Studia! So ist es bei solchen Nächten überall von Polen bis an das Meer im Süden. Stünde Er jetzt auf dem Harzgebirge, wo zu Walpurgi auch der Spitzbubenmarschall hinreitet zum Stelldichein auf dem Blocksberg, oder im Erzgebirg, oder im Böhmerwald, in Franken oder Schwaben, in Tirol oder im Hessischen – überall das Z–z–z–zb! Und wenn dann der Tag graut, fallen sie müde und hungrig ein in die Beeren auf den Bergen, hier auf dem Berg, und drüben auf jenem Berg, auf allen Bergen des ganzen Thüringer Gebirges, und auf allen Bergen des Harzes und allen Bergen aller Wälder, Gebirge und Länder. Und so geht es bei guter Witterung über acht Tage fort, bei schlechter noch länger. Nun rechne Er einmal aus als ein Studierter, wie

viel es Weindrosseln gibt! Aber außer den Weindrosseln sind noch mancherlei andre Vogelgeschlechter auf der Reise in großer Zahl, wie Er heut noch sehen wird.

Die beiden Spaziergänger waren auf dem Scheitel des Berges angekommen. Da zeigte der Jägermeister nach Osten. „Sieht Er den feurigen Strich drüben am Himmelssaum? Das ist der erste Gruß des Tages. Nun greift die Nacht nach ihrer dunkeln Schleppe und zieht sie von den Bergspitzen weg. Die Jäger dürfen es nicht mit ihr verderben; denn sie ducken sich gern ein wenig unter ihren Schleier.“

Herr Jägermeister, es riecht nach Rauch!“

Hat eine gute Nase. Der Hansas hat uns ein warmes Stübchen gemacht.“

Steht hier oben auch ein Schloß?“

Nein, Herr Student! Wenn auch der Sinn des Vogelstellers hoch hinaus läuft, sein Haus muß niedrig sein, daß es vom Buschwerk gedeckt wird. – Hier! – Guten Morgen, Hansas! Guten Morgen, Christ! Habt Ihr alles gut besorgt?“

Guten Morgen, Herr Jägermeister! Alles in Ordnung!“

Wir wollen jetzt die Leute nicht stören, Herr Bötzinger! Komm Er!“ Mit diesen Worten öffnete der Herr Jägermeister die Tür eines im Buschwerk versteckten Häuschens. Die Herren traten ein in ein zwar kleines, aber auf Bequemlichkeit eingerichtetes, warmes Stübchen.

So, Herr Bötzinger! Jetzt zum ersten Frühstück! Kurz vor dem Abstellen kommt das zweite!“, sagte der Jägermeister und brachte aus seiner Jagdtasche Brot, Wildbret, Hasenbraten, Butter, Käse und eine steinerne Flasche edeln Weins.

Es war hohe Zeit; die Lockvögel werden rege!“, sagte der Jägermeister. Das verstand nun freilich Bötzinger nicht. Da aber heute einmal geschickt geschwiegen werden mußte, so fragte er nicht und frühstückte tapfer darauflos. Als die Flasche geleert war, stand der Jägermeister auf und winkte seinem Besuch, zu folgen. Im Freien zeigte er wieder nach Osten und fragte: „Sieht Er, was aus dem feurigen Strich geworden ist? Wenn mich so eine Morgenröte anlacht, ist es mir allemal, als wär die ganze Schöpfung wieder neubacken, und der Herrgott machte mich zu einem jungen Jäger und spräch zu mir: „Weil dirs Spaß macht, erlustiere dich dran!“ Aber nun hierher, Bötzinger! Sieht Er die langen Stangen mit dürren Ästen da im weiten Kreis herum? Das sind die Antritte. Auf denen lassen sich zuerst die Luftreisenden nieder, wenn sie unsre Lockvögel vernehmen. Schau Er einmal etwas verstohlen dahinten herum. Hinter den dicken grünen Reisigwischen an den Pfählen hängen kleine Vogelbauer: in jedem ist ein Lockvogel. Ich kann sie Ihm noch nicht zeigen, weil sie wild werden, wenn sie Unbekannte sehen. Den Hansas und den Christ kennen sie; die können überall herum laufen. Gib Er Achtung, Herr Bötzinger! Hansas, was für Lock hast du?“

Herr Jägermeister, zwölf neue! Mit denen ist noch nicht viel; und zweiundzwanzig alte: vier Zippen, vier Weindruschel, drei Zeimer, zwei Kramtsvögel, einen Kernbeißer, zwei Meeramseln, drei Ouäker und drei Finken, einen Reithahn, einen Hochzigbier und einen Weiterspazier – lauter Fetzenvögel! Jeder seine Karlin wert! Die Herrn werden sich wundern, wenns losgeht.“

Hat Ers gehört, Herr Bötzinger? Hier sieht Er auf Bogen Stangen aufgenagelt und mit Wacholderbüschen bedeckt, dazwischen die roten Vogelbeertrauben, hinten einen viereckigen Rasen und vorn einen desgleichen, auf jedem ein Vogel an einen Pflock in der Mitte gebunden mit einer Schnur, daß er auf dem Rasen herum laufen kann: das sind die Läufer. Die Flügel sind ihnen gebunden, damit die auf den Antritten sitzenden Reisenden sie für sicher schmausende, fidele Kameraden halten. Ihr Futtertrog steht dabei. Sieht Er, wies ihnen schmeckt? Wenn sie dabei flattern könnten, würden die oben ausreißen, denn: ein sicher schmausender Vogel hat die Flügel anliegen, daß er glatt aussieht wie ein Aal. Das Ganze, diese lange, grüne halbe Walze mit den Beeren, ist der Busch. In dem Graben hüben und dem Graben drüben liegt das Garn, das an den gebognen, liegenden Stangen, den Federn, befestigt ist. Dort läuft ein Seil ins Haus. Wird daran gezogen, so springen die Federn zurück, und das Garn schlägt über dem Busch zusammen; das nennt man das Rücken. Er soll heut auch einmal rücken!“

Allewetter, Herr Jägermeiater, es kommen Vögel! Wir sind fertig – geschwind hinein!“, rief Hansas. Der Herr Jägermeister und Martin Bötzinger saßen wieder im Stübchen, und nun auch die Vogelsteller, jeder an einem Guckloch. Es war so still, daß sie einander atmen hörten. Draußen wurde es um so lebendiger.

Die Zeimer ließen ihren gewaltigen, eine halbe Stunde weit hörbaren Gesang und ihr Schnarren ertönen, die Zippen jubelten ihre rhythmischen Strophen dem Morgenrot zu und ihr „Zipp“, die Finken schmetterten ihr „Reithahn, Hochzigbier und Weiterspazier“ so metallisch wie im Frühjahr, und dazwischen streute das einsilbige Korps der Meeramseln, Quäker und Weindrosseln ihr „Tack, tack!“ „quä–k“ und „Z–z–z–zb!“ Sparsamer fiel der Kramtsvögel „Dijeckjeckjeck“ darein.

Martins Lippen taten sich immer weiter auseinander, als könnte das Ohr allein nicht alles fassen; aber er fragte nicht.

Plötzlich blieben alle Schnäbel geschlossen. Kein Laut war mehr zu hören. Hansas sprang auf und sagte zu dem Gast: „Ein Stötzer hat sich sehen lassen; muß einmal hinaus, daß er mir keinen Läufer holt.“

Nun brach auch Martin das Schweigen und fragte: „Herr Jägermeister, das ist mir wieder ein Kuriosum. Im Herbst singt kein Vogel, auch der in der Freiheit nicht; aber diese Gefangnen da tun, als wäre Maienwonne über sie gekommen.“

Er ist durch seine Studia doch nicht so verderbt, als ich dachte. Diesen Lockvögeln werden im Frühjahr die Schwänze ausgerissen – ein Vogel ohne Schwanz singt nicht –, und verhängt werden sie, finster gemacht, daß sie keine Ahnung von der Frühlingssonne bekommen. Dann sitzen sie in ihrem Käfig und lassen sichs schmecken und schweigen. Wenn ihnen nun im Herbst da oben auf dem Berg das Morgenlicht aufgeht – die Schwänze sind ihnen ja längst wieder gewachsen –, da kommt allerdings Maiwonne über sie.“

Hansas kam wieder in das Stübchen gestürzt und flüsterte: „Der Stötzer ist fort; es kommt ein Zug Weindruscheln!“ – Wieder herrschte tiefes Schweigen im Stübchen und draußen Frühlingsjubel. Hansas schob den Christ von seinem Guckloch hinweg und winkte Herrn Bötzinger, und nun postierte sich dieser davor.

Die Weindrosseln in den Käfigen ließen sehr eifrig ihr „Z–z–z–zb“ hören; sie riefen immer lebhafter und stärker. Da kamen auf den Antritten gegen fünfzig Hungernde an, deren „Z–z–z–zb“ von den Lockvögeln weit aus der Luft schon vernommen worden war. Sie blieben ruhig, schienen aber die Bescherung da unten mit einigem Mißtrauen zu betrachten. Jetzt wurden Quäker und Finken sehr eifrig im Locken; auch die Zeimer schienen Kameraden in der Luft zu spüren, denn sie begannen einen Wetteifer im Schnarren und Pfeifen zu entwickeln, daß Christ, dem das Guckloch entzogen war, sich hinter dem Ohr kratzte. Bald ließ sich eine große Schar Finken und Quäker, die gewöhnlich zusammenreisen, auf den Antritten nieder. Kaum angetreten, fielen schon etliche Quäker ein, das heißt sie flogen herab auf den Busch. Jetzt riskierten es auch einige Weindrosseln. Als aber ein Quäker wieder auf einen Antritt retirierte und seinen Schnabel verlegen an dem dürren Ast wetzte, kehrten alle Eingefallnen wieder zur Armee auf den Antritten zurück. Da kratzte sich auch Hansas hinter dem Ohr. Eben traten noch gegen zwanzig Stück Zeimer an. Hansas begann zu zittern vor Aufregung. „Wenn nur jetzt der Stötzer nicht wieder kommt. Es wird doch niemand niesen müssen oder husten!“ Jetzt fällt eine Weindrossel ein – noch eine – nun fünf; jetzt ein Quäker und Finke nach dem andern. Die Droſſeln lassen sichs schmecken. Es sind bereits alle Weindrosseln eingefallen – nun auch die Zeimer noch bis auf drei: auf dem Busch ist ein Leben wie auf einem Ameisenhügel. Auf den Antritten sitzen nur noch die drei Trotzköpfe. „Auf die wird nicht gewartet“, flüsterte Hansas, spuckte in die Hände, ergriff das Querholz am Rückseil und tat einen Riß, daß er beinahe zu Boden gestürzt wäre. Kaum war das Garn zusammengeschlagen, als auch die beiden Vogelsteller draußen waren, jeder mit einem Reisigbesen versehen, und ihr Morden begannen. Sie hieben auf die an das Netz emporschießenden Vögel ein, bis die meisten tot oder betäubt dalagen oder in den Netzmaschen hingen. Dann drückten sie denen in den Ecken steckenden lebenden und denen mit dem Tod kämpfenden mit dem Daumen das Rückgrat ein. Nun wurde das Netz wieder aufgezogen, gesäubert und in die Gräben gelegt. Hansas suchte die befiederten Leichen zusammen in einen Korb, während Christ alle Federspuren beseitigte und dann den Busch wieder in Ordnung brachte. Alle diese Verrichtungen wurden von den Vogelstellern mit Geschicklichkeit und Hast ausgeführt, sodaß Martin Bötzinger glaubte, ein paar Narren hantieren zu sehen.

Vor fünf Minuten noch reisewütig die frische Morgenluft durchrudernd und mit dem Ruf des Hungers den Lockvögeln antwortend, liegen die lieblichen Betrognen nun da als ein Leichenhaufen.

Als Hansas mit dem Korb ins Stübchen kam, setzte sich Martin an den Tisch und legte von jeder Art ein Stück vor sich hin: einen Finken, einen Quäker, eine Weindrossel und einen Zeimer, und erfreute sich an der Farbenzeichnung. Die Vogelsteller waren bereits wieder an ihren Gucklöchern. Da sagte der ihm gegenübersitzende Jägermeister zu Martin: „Von den Zeimern da gehen zwei aufs Klupp, von den Weindrosseln – nun sieht er sie leibhaftig vor sich – vier, und von den Quäkern und Finken zwölf.

Für den fernern Verlauf dieses Morgens zeigte Martin wenig Interesse: das Vogelmorden hatte ihn verstimmt. Es fiel ihm nicht mehr schwer, geschickt zu schweigen.

Als die eiserne Fledermaus auf dem Schloßturm nach den zehn Schlägen des Hammers tanzte, hatte die freundliche Herbstsonne schon die Arbeit der weißbemützten Saalgeister hinweggeküßt. Es war bereits angenehm warm geworden. Und weil die befiederten Reisenden in den jungen Fichtenbeständen oder auf den Waldwiesen und Blößen Atzung suchten oder sich putzten oder sich im Schein der wohlmeinenden Sonne einem stärkenden Schlummer hingaben, je nachdem ihnen das Geschäft der Magenbefriedigung bis jetzt gelungen – in den Lüften also Ruhe war, so waren Hansas und Christ daran, abzurüsten und zur Heimkehr einzupacken. Der Herr Jägermeister saß aber mit Martin beim zweiten Frühstück im Vogelherdhäuschen.

Herr Bötzinger, wenn Ihn dieser Morgen nicht kuriert hat, so ist Er ein Hasenfuß!“

Was ich heut gesehen habe, war mir zwar alles neu; aber erfreuen konnte mich nicht alles. Die Täuschung ist Betrug. Man soll auch die Vögel nicht betrügen. Da sich nun aber einmal das Leben aus Vernunft und Wahn mischt, so nahm ich auch diesen Morgen als eine Bestätigung dieses Faktums hin.“

Er ist kein Hasenfuß, Bötzinger! Ich habe sein Gesicht jetzt zum erstenmal von der Sonne beschienen gesehen, und ich muß Ihm sagen, so jung Er ist, ich hab da in seinem Gesicht was entdeckt, was mir das Herz aufschließt. Vielleicht hat Er recht mit seinen Wahnphantasien. Aber zu dem, was ich noch mit Ihm sprechen muß da oben auf diesem Berg, ist diese Hütte zu eng. Komm Er hinaus!“

Die Vogelsteller hatten eben ihre Reffe, gut bepackt, aufgehuckt und gingen von dannen.

Der Herr Jägermeister stand da auf der kleinen Bergplatte wie kopfsgrößer. Seine Wangen waren blässer als gewöhnlich, und seine Augen leuchteten wie ein paar Goldkäfer auf der Weißdornblüte.

Nun seh Er sich einmal um, guter Freund! Da unten das liebe Rudolstadt und die freundlichen Dorfschaften ringsum; das breite Tal entlang die stolze Saale, die schön bewaldeten Berge, und flußabwärts das herrliche Talbild mit der Leuchtenburg im Hintergrund: eine wahre Bildergalerie! Und in der Mitte dieses Paradieses stehe ich allein – ein verfluchter Adam!“

Der Herr Jägermeister wandte sich ab.

Was ist das? Er hat auf mich räsonnieret wegen meiner Phantasien; nun fängt Er an zu phantasieren. Das ist ein neu Kuriosum, Herr Jägermeister!“

Er hat recht, Bötzinger! Aber runter muß es von der Kalaune! Nun dreh Er sich einmal um!

Dort nach Süden hin liegt der Brandenstein. Man sieht ihn nicht; die große Heide ist im Weg. Hat Er einmal vom Brandenstein gehört?“

Vom Brandenstein? Ich hab ihn zwar noch nicht gesehen, aber der Brandenstein ist mir ans Herz gewachsen.“

Was, Junge? Plagt Ihn der Teufel, mir so was zu sagen? Ich werde – na, Bötzinger, sachte! Ist das sein Ernst?“ Bei diesen Worten drehte sich der Jägermeister dreimal im Kreis herum.

Raus mit der Farbe! Warum ist Ihm der Brandenstein ans Herz gewachsen?“

Ich kenne ein Mädchen vom Brandenstein, Herr Jägermeister!“

Alle Hagel! Ich auch! – Er ist wohl nicht bei Trost! Er will mich wohl foppen?“

Das ist nun wieder ein absonderlich Kuriosum! Da ist vorerst festzusſtellen, ob Er so jung war wie ich, als er das Mädchen vom Brandenstein kannte, oder ob Er das Mädchen in den letzten Jahren erst kennen gelernt hat. Wenn der erste Fall vorliegt, so ist sein Mädchen nicht mein Mädchen.“

Ein zweiter Salomo! Mein Mädchen, will sagen Fräulein, wird wohl sein Mädchen nicht sein, sintemal meine Geschichte vor zwanzig Jahren passiert ist. Und die will ich Ihm nun erzählen; dann erzählt Er mir eine Geschichte. – Eine alte, böse Geschichte! Will wünschen, daß die seinige besser endigt als die meinige.“

An der dem Brandenstein zugekehrten Seite des Vogelherdhäuschens war eine Moosbank angebracht. Dort ließ sich der Jägermeister nieder, und neben ihm Herr Martin Bötzinger. Der Alte brachte sein Pfeifchen hervor und begann es zu stopfen.

Plötzlich aber ließ er beide Fäuste auf die Knie sinken, ließ seinen Blick über die Waldhöhen nach Südosten schweifen und rief: „Nein! Das Ding wird mir doch ausgehen, wenn ichs anzünde.“ Er schob das Rauchzeug wieder in die Jagdtasche, unterdrückte einen Seufzer, strich sich über die Stirn und sagte leise: „Den Brandenstein muß Er einmal sehen, Bötzinger! Ein liebliches Nest! – Ich war Jäger auf dem Brandenstein und wär vielleicht heut noch dort, wenn mir die Geschichte nicht arrivieret wär. Wenn man auf dem Brandenstein zum Tor herausgeht, stehen neben etlichen uralten Eichen vielleicht ein Mandel Nußbäume. Saß ich darunter auf einem Steinblock, den wahrscheinlich in alter Zeit einmal ein Riese vom Ranhügel herübergeschleudert hat, die aufgehende Sonne hinter mir, und sah hinüber nach Saalfeld und nach dem Gebirge hinaus: da hätte ein Sechzehnender oder der große Bär kommen können, ich hätte nicht geschossen! Saß ich am Abend hinter der Mauer und sah hinein in die Baumkronen unter mir, die den jähen

Abhang bekleiden, und hörte den Rotkätlich zu, die sich alleweil auf das höchste Spitzchen postieren, um sich hören zu lassen, und den Finken im alten Geäst der Eichen und den Amseln, Zippen und Baumlerchen und den Grasmücken am schwatzenden Bach im Wiesgrund: da wurde mirs so sonderbar zu Mut, daß mirs über die Wangen herunter in den Bart träufelte. Es mußte das eine Art Sehnsucht sein, und ich mochte mirs hin und her überlegen, ich brachte nicht heraus, nach wem ich mich hätte sehnen können. – Die weiße Jungfrau, die in den unterirdischen Gemächern der Teufelskanzel, gegenüber vom Brandenstein, hausen und am Semptizbache, wo die Grasmücken singen, spazieren gehen soll, konnte es nicht sein: die hat keinen Kopf – wenigstens trägt sie ihn unterm Arm. – Einmal in der faulen Zeit des Juni lag mein Herr acht Tage als Besuch beim Grafen von Schwarzburg, und ich war sein Begleiter. Spät abends waren wir von Schwarzburg zurückgekehrt, und am andern Morgen, ehe die Sonne aufging, rückte ich schon wieder aus mit einer Botschaft nach Könitz. Als ich von Könitz komme und die Wiesen am Semptizbache, die der angebrochne Abend schon mit seinem Tau zu erfrischen begann, überschreite, steht im Gebüsch drüben am Fuße des Brandensteins die weiße Jungfrau! So dachte ich in meinem Schrecken. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre die

Erscheinung an. Aber siehe da, die Jungfrau hat einen Kopf. Und auf diesen Kopf fällt ein Schein vom goldigen Abendhimmel. – Als mir in meinem Weidmannsleben der erste Hirsch stand, zitterte ich und konnte nicht schießen. Bei dem Anblick dieser Jungfrau war auch so ein Schrecken über mich gekommen. Da kam es mir doch vor, als lächle mich die Erscheinung an. Ich ging auf sie zu. O, daß ich wieder umgekehrt wäre und fortgelaufen bis an das Ende der Welt! Aber es war mir auf einmal, als käme die ohne Kopf hinter mir her und greife nach mir, und als winke die drüben mit dem Kopf. Ich lauf also auf die mit dem Kopf zu und sehe mich bei Leibe nicht um nach der ohne Kopf. – Und da hatte ich nun die Bescherung. – Ich will mich nur kurz fassen. Während unsrer Abwesenheit war ein Fräulein von Schaumberg, Tochter des Burgvogts Ernst von Schaumberg auf Rauenſtein, nach dem Brandenstein auf Besuch gekommen.“

Da sprang Martin Bötzinger auf, als wäre er plötzlich von Wespen angefallen worden, und lief wie toll um das Häuschen herum. Der Jägermeister sprang auch auf, faßte den Martin und hielt ihn fest und drückte ihn wieder nieder auf die Bank.

Es ist schon festgestellt, daß es nicht sein Mädchen war; nun gib Er sich zufrieden und höre weiter: es muß runter von der Kalaune!“

Martin stützte seinen Ellenbogen auf die Knie und barg den Kopf zwischen den Händen.

Der Jägermeister fuhr fort: „Das Fräulein von Schaumberg ging ganz zahm mit mir selbigen Abend auf den Brandenstein und erzählte mir, wie gern sie seit ihres Hierseins die schöne Umgebung durchstreife. Ihre langwimperigen Augen und ihr gesprächiger Mund, von dem es wie Lautenspiel tönte, brachten mir die Kalaunen in großen Aufruhr. Als ich am andern Abend hinter der Mauer saß und das Vogelleben unter mir und die Gegend vor mir sich noch breiter machten als sonst, sah ich nicht und hörte nicht. Aber ich wußte nun, wonach ich mich gesehnt hatte. Hernach kam der Lautenschläger von Jena und lehrte die Damen in der Musik. Und das Fräulein von Schaumberg sang mir dann vor, und die Vögel ringsum verstummten. Und der Lautenschläger ging. Als er wieder kam, sang das Fräulein von Schaumberg nicht mehr. Ich durfte das Fräulein nicht ehelichen, da ich nicht von Adel war. Das Fräulein verschwand, und ich wurde Jägermeister des Grafen von Schwarzburg. Freilich hatten wir uns heimlich kopulieren lassen. Aber da es nun einmal nicht sein sollte vor der Welt, mußte der Ehre wegen alles verheimlicht werden, auch die Frucht unsrer heimlichen Ehe. Das ist die Geschichte vom verfluchten Adam. – Und nun wart Er mit seiner Geschichte noch ein wenig. Wenn ich wiederkomme, erzählt Er!“

Martin Bötzinger blieb unbeweglich sitzen, den Kopf zwischen den Händen. Nach wenig Minuten kam der Jägermeister wieder, schlug Martin mit der Hand auf die Schulter und sagte: „Es ist nun runter! Halt Er von mir, was er will. – Nun erzähl Er!“

Martin fuhr empor wie aus einem Traume.

O, wie wunderbarlich führt der Herr der Heerscharen doch dies Menschengewürm! Die langwimperigen Augen! Die Mysterien der Musika in der Sprache! Vor drei Jahren fand ich Schutz vor einem Unwetter neben der Tochter des Burgvogts von Rauenstein in ihrem festgefahrnen Wagen. Und ihre Tochter Susanna, Pflegekind des Lautenschlägers Erasmus Schmid in Jena, habe ich geküßt, obwohl mich keine weiße Jungfrau ohne Kopf dazu getrieben hat.“

Wie? Was? – So wäre mein Mädchen doch sein Mädchen? Das hätt Er mir nächten schon sagen können, schon vornächten! Hörst dus, Brandenstein da drüben, was der da sagt?“

Brandenstein, Saaltorturm! Hebt euch in die Lüfte! Fliegt hierher! Fallet auf uns nieder, zerschmettert uns! Vorüber! Alles vorüber!“

Nein! Erst muß ich dich umarmen, mein Junge! Dann mögen sie uns zerquetschen wie ein paar Wacholderschwämme!“

Der Jägermeister schloß Martin Bötzinger in seine Arme und drückte ihn stöhnend an seine Brust. Nach einigen weitern Aufklärungen, die der Jägermeister stürmisch aus Martin herausexaminierte, faßte der aufgeregte Mann den jungen Theologen am Arm, führte ihn an den Rand der Bergplatte und rief: „Schaut her, Rudolſtadt, Leuchtenburg, ihr alten Berge alle ringsumher! Ich werde der heimliche Schwäher von dem da! Und der wird einmal Generalsuperintendent in Rudolstadt, und meine Geliebte von Rauenstein, meine heimliche Ehehälfte, wird die Schwieger des Rudolstädter Generalsuperintendenten! Dann ist der verfluchte Adam erlöst! So wirds, Junge! Da hilft alles nichts!“

Der „zukünftige Generalsuperintendent von Rudolstadt“ hielt sich noch vierzehn Tage bei „seinem zukünftigen heimlichen Schwäher“ auf.

Der Abschied fiel auch Bötzinger schwer; aber den Jägermeister schmerzte es tief, als im Schwarzatal eine Wegkrümme den Scheidenden seinem umflorten Blick entzog.