Drittes Kapitel
Die große Fledermaus
Nur noch in den Geschäftsfirmen, die durch fürstliche Gnade mit „Hof“ geziert sind, trägt unsre Zeit eine Erinnerung an die alte Hofsökonomie.
Besoldete Metzger, Bäcker, Brauer, Büttner u. s. w., unter der Kontrolle eines Schloßvogts, hatten für die vierundzwanzig Tafeln, woran der Hofstaat des Herzogs Johann Kasimir – zweihundertunddreizehn Personen – beköstigt wurde, den Bedarf zu liefern. Der Glanz und Aufwand am Koburger Hofe war durch die von Dresden gekommne Herzogin Anna bedeutend gesteigert worden.
Die wegen einer zwölfjährigen Verlängerung der Land- und Tranksteuer nach Gotha berufnen Landstände nahmen aber nicht Anstoß an dem kostspieligen Aufzug der Fürsten, die – Herzog Johann Kasimir von Koburg mit zweihundertundsechsunddreißig, Herzog Johann Ernst von Eisenach mit einhundertundsiebenundvierzig Pferden zum Transport ihres Hofstaats – sich in Gotha einfanden, und verwilligten die geforderten Steuern, jedoch unter Hinzufügung des Wunsches, „daß mehrere Landesgebrechen abgestellt, besonders aber dem unordentlichen Münzwesen gesteuert, das Land mit gemeiner Usualmünze an Pfennigen, Dreiern und Groschen versehen, die hohen Preise der Lebensmittel vermindert, auch bei Besehung der geist- und weltlichen Ämter die Landeskinder den Auswärtigen vorgezogen werden möchten.“
Schon längst hatte Herzog Johann Kasimir den Druck des Luxus und Wohllebens, woran die damalige Zeit krankte, gefühlt. Er untersagte in einem Mandat vom Jahre 1613 den Gebrauch ausländischer Trachten, es möchten spanische , englische oder französische sein, und befahl, sich bloß der deutschen Kleidung zu bedienen. Die Ratsweiber und ihre Töchter durften keine Perlen, goldne Ketten, Gehänge von Edelsteinen, geschmelzte und geschlagne goldne Rosen tragen, – die Bürgersweiber seinen Sammet, Atlas und Damast; – der Bauer sollte bei der gewöhnlichen Tracht bleiben und nichts von Seide oder Sammet, noch weniger etwas von Gold oder Silber an sich haben, sondern sich mit Landtuch, Leder und schlechtem Barchent begnügen. Für die Schmausereien an Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen waren über die Zahl der Gäste, Gerichte u. s. w. Verordnungen ergangen. Seine fürstliche Weisheit und Fürsorge hatte auch „eine Menge andrer Polizeigesetze, die auf Abstellung des übermäßigen Trinkens und Spielens, der Zauberei, Gotteslästerung, des Fluchens und Schwörens, der Wucherkontrakte u. d. m. Abzweckten“, ins Land geschickt.
Aber der omnium unflatissimorum unflatissimushatte ein zähes Leben: es wurde fortgespielt und fortgetrunken – am schlimmsten an den Höfen –, bis der lange Krieg den Flitter wegsengte und dem Faß den Boden ausschlug.
Das Jahr 1613 hatte dem Herzog Johann Kasimir eine Extraeinnahme von 14 020 Gulden in die Privatkasse gespielt. Der Landrentmeister – „die Seele des Staats“ – hatte einen Überschuß von 135 947 Gulden aufzuweisen, und die Privatkasse des Herzogs hätte noch besser gespickt werden können, wenn nicht Nürnberg gewesen wäre.
Johann Kasimir, Johann Ernst und der Kurfürst Christian Il. hatten in einer Zusammenkunft 1609 „die verbindliche Abrede genommen, ihre Jülichschen Erbfolgeansprüche mit vereinigten Kräften im Wege des Rechtens durchzusetzen.“ Als auch die im Koburgischen für den glücklichen Ausgang des Prozesses eingerichteten Betstunden und das besonders zu diesem Zweck verabfaßte und den Kanzeln für die Sonn- und Festtage anbefohlne Gebet nichts helfen wollten, „so glaubten die Herzöge, ihre an sich so gerechte Sache mit Geld zu erzwingen,“ und borgten vom Stadtrat zu Nürnberg „zu dieser Absicht große Summen“, die sich auf 160 137 Gulden beliefen. Daß diese Summe nicht in Prozeßkosten aufgegangen war, zeigt eine Landtagsproposition vom Jahre 1614, worin der Herzog „unter andern auch des vielen Spendierens erwähnte, das in der Jülichschen Successionssache bei den Reichsgerichten geschehen müsse.“ Die Jülichsche Erbfolgeangelegenheit taucht 1648 wieder als Gegenstand des westfälischen Friedensschlusses auf.
Also verhielt sichs mit Nürnberg, und von dem Überschuß aus dem Jahre 1613 wurden eben 114137 Gulden 10 Groschen nach Nürnberg zur Schuldentilgung geschickt.
Aber für das Jahr 1614 konnte Johann Kasimir nun doch wieder einmal ein hübsches Fest in Aussicht nehmen: die Extraeinnahme erlaubte eine Extraausgabe.
In Dresden hatte Johann Kasimir auf dem kurfürstlichen Armbrustschießen 1610 den Kranz erworben. Er war „zwar vorlängsten dahin bedacht gewesen, wie solcher Kranz fortzupflanzen, hatte darzu aber bishero keine fügliche Gelegenheit haben können, jedoch aber nicht gemeinet, denselbigen bei ihm genzlichen verwelken zu lassen; sondern zu gebürlicher Folge und Fortsetzung desselben, auch ehrlicher nachbarlicher Zusammenkünften, löblicher Übung und Ergetzlichkeit wegen, ein frei gemein Gesellen-Schießen mit dem Armbrust, zu einem Kranz-Circul-Blatt in eine unversehrte Zielstatt, dreihundert Coburger Werkschuh weit zu sitzen, auf Montag nach Cantate, wird sein der 23. Mai alten Calenders, zu halten sich entschlossen.“
Die Schützenpatente mit einer Beilage, die in einer Zeichnung den Bolzen und den Koburger Werkschuh bestimmte, wurden hinausgesandt an die befreundeten Höfe und an die Städte Nürnberg, Worms, Rothenburg, Frankfurt, Erfurt, Wießheim, Kassel, Schweinfurt, Dresden, Leipzig, Schmalkalden, Pirna, Plauen, Zwickau, Schneeberg, Annaberg, Chemnitz, Meißen, Oschatz, Freiberg, Torgau, Wurzen, Pegau, Großenhahn, Eulenburg, Wittenberg, Naumburg, Zeitz, Weimar, Heidelberg, Kitzingen, Eisenach, Kreuzburg, Salzungen, Hildburghausen, Gotha, Eisfeld, Römhild. Auch die Stadt Koburg ward besonders geladen.
Mitte April ging der Bote Görg nach Zwickau ab, den Pritschmeister Wolf Ferber, ersten Hofnarren, zu zitieren. Nachdem Ferber sein Haus bestellt hatte, reiste er nach Koburg mit Görg und einem Knecht, der auf einem Schiebkarren drei Stück Ware mitnehmen mußte, sintemal Herr Wolf Ferber, der witzige Geselle, ein Tuchmacher war und neben seinen Narrenspossen auch noch sein Geschäft im Kopfe hatte. In der Nähe von Neustadt erfuhr Ferber von einem vorüberfahrenden Junker, daß der Herzog in Steinheide auf der Auerhahnbalz sei, weshalb er seine Ware bei der luſtigen Wirtin Leiß in Neustadt, bei der er schon zum öftern logiert hatte, einstellte und seinen Weg nach Steinheide nahm. Es war am Mittwoch vor dem Gründonnerstag.
Am Osterheiligabend reiste Ferber in des Herzogs Gefolge im Wagen des Silbermeisters mit nach Koburg. Fünfunddreißig Auerhähne waren in dieser Woche geschossen und in die Hofküche abgeschickt worden: bis zum Armbrustschießen werden sie wohl mürbe geworden sein.
Inzwischen reiste Wolf Ferber in Geschäftsangelegenheiten wieder nach Zwickau zurück, nicht zu Fuß, sondern mit einer herzoglichen Kalesche so, daß ihm von Station zu Station Pferde zur Fron gestellt werden mußten.
In Zwickau fuhr er zum „Ergetzen“ der Einwohnerschaft auf „schwäbische Art“ ein, das heißt drei Pferde einzeln vor einander gespannt. In Sonnefeld hatte er erst das herzogliche Fischfest, an dem der ganze Hof teilnahm, und das zum Schießen die Hofküche mit dem nötigen Grätenfleisch zu versorgen hatte, ein wenig gestreift und sich etliche Stunden vergnügt. Bei der Urlaubserteilung hatte ihm der Herzog befohlen, sein Vater mitzubringen. Der mußte als kursächsicher Pritschmeister von Dresden her bekannt sein.
Wolf brachte nicht allein seinen Vater, sondern auch seinen Bruder mit, sodaß drei Ferber aus Zwickau auf dem fürstlichen Schießen als Pritschmeister fungierten, und außerdem noch Hans Ducher von Nürnberg und Jonas Ruppe von Augsburg, der in Neustadt an der Heide wohnte.
Außer diesen fünf Hofnarren waren während des fürstlichen Armbrustschießens, das acht Tage dauerte, in Koburg auf Hofverpflegung gesetzt fünf Geiger aus Kahla (Heinrich, Brühschwein, Peter Grundelink, Blechschmidt, Lorenz Hofmann und Hans Friedel)
Sie kunndten geigen und drein singen,
Daß es gar lieblich thet erklingen –
sodann der Sackpfeifer Michel Carius von Breitensee mit den drei Schalmeienbläsern Martin Henneberger von Westenfeld, Heinrich Erhart von Eishausen und Hans Siebenlist von Heßberg. Die Pritschmeister, Geiger und Pfeifer logierten beim fürstlichen Silbermeister, der auch ein gar lustiger Kauz war.
Schon wochenlang summte es in der Residenzluft vom Stahlbogenschießen. Am Vorabend, dem 22. Mai, wurde das Summen so stark, daß die Spatzen, Dohlen und Mauerschwalben auf der Festung den Atem anhielten, und die Käuzchen in den Klüften die schläfrigen Augen viel öfter aufrissen als an gewöhnlichen Tagen. Das Summen in den blühenden Kronen der Bäume hörte weder Mensch noch Vogel; es wurde übersummt vom Fürstensums.
Im „schwarzen Bären“ und im „grünen Baum“ sammelten sich die Schützen der Städte aus nah und fern. In der „Ehrenburg“ waren alle Zimmer, Schlafgemächer, Speisesäle und Personal von festlichem Hauch durchdrungen.
Nachmittag um vier Uhr meldete ein Kurier den Herzog Johann Ernst von Eisenach an. Bald darauf zog er auf einem prächtigen Falben ein mit dem Grafen Görg von Kirchberg, dem Marschall von Stein, dem Jägermeister Christoph von Wangenheim, dem Landhofmeister Hans Berthold von Boyneburg, dem Stallmeister Hans David von Wangenheim und noch manchem ehrbaren, ehrenfesten Edeln, – mit zwei Kammerdienern, etzlichen Edelknaben, Leibknechten, Trompetern, Fourieren und Lakaien. Der Leibknecht Hans aber, obgleich erst achtzehn Jahre alt, war der eleganteste Reiter unter allen.
Auf der Ehrenburg war große Freude, als der Eisenacher einzog, und jedermann ergetzte sich an dem guten Einvernehmen, das aus Wort und Miene der fürstlichen Brüder Johann Kasimir und Johann Ernst redete.
Bald darauf zog der kurfürstlich sächsische Abgesandte Christian Günther von Schwarzburg ein, einer der vier Reichsgrafen.
Die Trompeter und Heerpauker gaben das Signal zum Essen, und aus ihren Gemächern traten noch hervor die Edeln: Hofmeister Christoph von Hund, der Herzogin Hofmeister Junker Görg von Ebeleben, Junker Albrecht von Steina, Ernst von Schaumberg, Burgvogt von Rauenstein, Hans Heinrich Melchior von Keßlahn.
Aus Küche und Keller wanderte ein Gericht nach dem andern und gar manche Kanne edeln Weines an die von gutem Appetit umlagerten Tafeln. Es mundete den Fürsten und Edeln, dem fremden und dem heimischen Hofgesinde bis herunter zu den fünf Pritschmeistern, die sich mit den beiden Festschreibern zusammengerottet hatten und das Mahl mit ihren närrischen Einfällen würzten, gar vortrefflich.
Da drang zu den Fenstern des fürstlichen Speisesaals der kirchliche Kriegshymnus empor:
Ein feste Burg ist unsr Gott,
Ein gute Wehr und Waſfen.
Manchem sank die Gabel aus der Hand; alle wurden zur Andacht gestimmt. Der Herzog Johann Kasimir aber erhob sich, erteilte einem Lakaien einen Befehl und redete seine Gäste also an:
Erlauchte, edle Herren! Ich habe meinen Chorum currentium herauf befohlen vor uns; so es meinem Durchlauchtigsten Bruder Liebden und den erlauchten Grafen und meinen treuen Rittern und Edeln gefällt, wollen wir zur Erhebung unsers Mutes und dem Papst und seinem Bischof Julium zum Trutz mit meinen Knaben das – Lutherlied singen. – Fest wolln wir bleiben in der Lehr unsers Lutherus und wolln uns wehrn gegen die Päpstlichen, so lang das Schwert wir halten können. Ach, ich fürcht, es möcht zu dieser Zeit noch heiß hergehen im deutschen Reich.
Bald brachten etliche Diener Gesangbücher und verteilten sie unter die Gäste. Der Chorus currentium wurde hereingeführt. Alle Tischgäste erhoben sich und stellten sich hinter ihre Stühle. Der Herzog befahl den Schülern, noch einmal „Ein feste Burg“ anzustimmen. Ein gewaltiger Gesang brach an; die Knabenstimmen flammten wie Feuerzungen über den mächtigen Tenören und Bässen; eine Stimme erwärmte die andre, und das Festungslied brauste durch die Ehrenburg als ein protestantisches Gewitter.
In gehobner Stimmung nahmen nach Schluß des Gesanges die Herren ihre Tischplätze wieder ein. Der fürstliche Wirt rief: „Der Kustos der Kurrendaner soll her zu mir kommen!“
Ein schlanker, braunlockiger Knabe mit der großen, schwarzen Kaffebüchse auf der Brust näherte sich sehr befangen dem hohen Herrn, der nach dem Namen des Kustos fragte.
„Martin Bötzinger“, lautete die Antwort.
„Wer ist dein Vater?“
„Der Schulmeister Joseph Bötzinger in Mupperg.“
„Was willst du studieren?“
„Theologie.“
„Werde ein braver Student; wir brauchen tüchtige Pfarrer!“
Während des Examens hatte jeder der Herren einem Diener ein Geldstück übergeben, und als der Kustos Bötzinger vom Herzog verabschiedet war, wanderten die reichen Gaben in die schwarze Büchse. Die schwarzgekleideten Knaben in kurzen Mäntelchen verneigten sich dann und zogen still ab.
In der Ehrenburg wurde tapfer weiter geschmaust. Die ernste Unterbrechung der Tafelfreuden hatte erfrischend auf die Gemüter gewirkt. Bald entwickelte sich eine gesunde Heiterkeit.
Martin Bötzinger kam sich einen Schuh größer vor, als er mit seinen Gesellen die breite Schloßtreppe hinabstieg. Im Portal stand plötzlich der Leibknecht Hans vor ihm. Der Kustos Bötzinger fuhr zusammen; er schwankte, mußte sich anhalten. Dieser Wechsel war zu jäh gewesen. Der Leibknecht Hans hielt vor das blasse Gesicht Martins die geballte Faust und stieß durch die Zähne: „Hüt dich!“ Dann war er im Innern des Schlosses verschwunden.
Der große Kustos Bötzinger war nun wieder kleiner als je. Er übergab einem der Schüler die schwarze Büchse, ließ sich krank melden und schlich auf sein Stübchen. Dort warf er sich auf sein Bett, das zum Fest von der pflegenden Hausfrau am Vormittag frisch überzogen worden war, und dessen niederwallendes weißes Linnen vor fünf Jahren die sorgende Mutter in Mupperg gebleicht hatte.
Jener Maisonntag, wo sie im obern Stübchen die Henkel an die großen Linnenstücke genäht hatte, schloß in dem heutigen, der ihren Martin blaß aufs Lager geworfen hatte, den Ring von fünf Jahren ab. Damals hatte des Schneiders-Hansens Einfall, von den Samen des Stechapfels einen Trank zu kochen, den Martin in den verhängnisvollen Taumel gestürzt – heute trieb der Schatten der vom Feuer Verzehrten den Sohn als Todfeind wider den ehemaligen Spielgenossen, daß das Entsetzen verwirrenden Sturm in des Jünglings Gehirn anfachte. Der Sturm warf ihn durch die Lüfte und ließ ihn in Mupperg vor der Kirchentür niederfallen. – Das erste Orgelschlagen, der Mutter Warnung vor dem Schneidershans, der Hans im Kornfeld, das Knistern und Platzen des großen Feuers auf dem Anger, „das sollst du spüren, du und dein Märtel, hüt dich!“ – das alles stürmte durch dieses Hirn, und in den Schläfen hämmerte es dazu wie die Totenuhr in altem Holz.
Da tat sich die Tür auf, und herein trat Herr Joseph Bötzinger mit seiner Ehewirtin Margret.
Nach der Erfüllung seiner Organisten-, Kantor- und Küsterpflichten war heute nachmittag Herr Bötzinger mit seiner Gemahlin nach Koburg aufgebrochen, um sich mit ihr an der Seite des geliebten Martin am andern Tag an des Festes Herrlichkeiten zu weiden.
Die Mutter stürzte an das Bett, und als Martin emporfuhr und seine Eltern verwirrt ansah, rief sie: „Heut sinds fünf Jahr!“ und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht.
„Martin, Martin! Was ist dir?“, fragte der Vater besorgt. Martin sprang vom Bett empor und durchmaß stumm einigemale langsamen, unsichern Schrittes das Stübchen.
In der Zeit von einer Stunde hatte der Kustos des Chorus currentium in der Ehrenburg gesungen mit Fürsten, Grafen und Rittern und sogar mit dem Herzog gesprochen, – war vor dem Eisenacher Leibknecht als seinen Todfeind zusammengefahren und hatte in Fieberaufregung fünf Jahre durchflogen: der Wahnsinn mit seinen kalten Krallen hatte schon vor dem armen Jüngling gestanden. Aber er war gewichen vor den Elterngestalten.
Die Macht der Elterngegenwart, die den schreienden Säugling stillt, wird nicht durch die Jahre gebrochen – ja sie bleibt ein unversiegbarer Segensquell.
Das Gesetz der Gedankenfolge kam in Martins Gehirn wieder zur Herrschaft, und der wieder zu sich gekommne Sohn gestand, daß er einen bösen Anfall gehabt habe, es müsse ein Krampfanfall gewesen sein, der vielleicht von einem kalten Trunk nach einiger Aufregung herrühren könne. Er erzählte, welche Ehre ihm auf der Ehrenburg widerfahren sei; das Zusammentreffen mit Hans verschwieg er aus Schonung gegen seine Eltern. Durch die Straße wälzte sich großer Lärm. Joseph Bötzinger öffnete das Fenster: die fünf Pritschmeister kamen angezogen mit ihren „Trommelspielen“ und Pfeifern, und alle Buben und Mädchen der Stadt, neugierige Weiber und faule Mägde umfluteten als eine durcheinanderrinnende Masse den phantastischen Aufzug der Hofnarren.
Sie trugen aus „Doppeltaft“ gelbe Wämser und schwarze Hosen, gelbe „englische“ Strümpfe, an jedem Knie sechs Ellen Bänder, „cordovanische“ Schuh, mit seidnen Bändern durchzogen, den possierlichen Knopf mit „Sammet-Spaniern“ geziert, auf denen gelbe Federn prangten, um die Knie aber besonders noch Schellen, sodaß von diesen zehn Beinen ein großer Lärm ausging, und die närrischen Käuze überall auf den Protest der umherstreifenden Hunde stießen.
Der überraschte Schulmeister von Mupperg winkte seine Margret und den Martin ans Fenster. Da hielt der Zug, und eine Trommel- und Pfeifensalve erfüllte die Gasse. Dann gab Wolf Ferber von Zwickau ein Zeichen mit hochgeschwungner Pritsche, und Görg, Jonas, Hans und Andreas fuchtelten tapfer unter die Menge drauf los, bis einige Ruhe hergestellt war. Nun erhob der Zwickauer Wolf seine schallende Stimme und rief also: „Wohledle, ehrenfeste Schützen aus nah und fern, die ihr euch hierher begeben habt auf unsrer fürstlichen Gnade Patentausschreibung, kund und zu wissen sei, daß morgen früh zu rechter Zeit ein jeglicher mit seinem Gesellen und Bolzen und Bogen auf dem Schießhaus sich einstellen möge zu löblicher Übung und Ergetzlichkeit. Soll angefangen werden um acht Uhr.
Für Ordnung unsre Pritsche sorgt,
Daß keiner im Gedräng erworgt.
Und wohlgemerkt: der Schuß ins Weite
Wird angemerkt mit Pritschenkreide!“
Anstatt des Ausrufezeichens nach dem letzten Wort führte der lustige Ausrufer mit seiner Pritsche einen schallenden Klaps auf die für ihn unsichtbare Gegend seines Äquators aus. Das darauffolgende Gelächter ging unter in einem vom Kniegeläute der Hofnarren gewürzten Bärenmarsch der Trommler und Pfeifer.
Nach der Einnahme eines frugalen Imbisses machte Herr Joseph Bötzinger in Gesellschaft des Hauswirtes einen kleinen Spaziergang durch die Stadt; beim Thorbeck kehrten sie zu einem erquickenden Abendtrunk ein.
Frau Margret hatte die Überzeugung gewonnen, daß ihrem Martin Ruhe und Schlaf am dienlichsten sein würde; sie plauderte noch ein Stündlein mit der Hausfrau und begab sich dann zu Bett.
Martin, wieder allein in seinem Stübchen, öffnete beide Fenster, ging auf und ab und dachte darüber nach, ob denn zwischen Narren und vernünftigen Leuten ein großer Unterschied sei?
Da warf ihm der Mai aus den blühenden Kronen der Äpfel- und Birnbäume, in denen sich trunkne Schwärmer vergnügten, über die Dächer herüber eine Hand voll Duft ins Stübchen und legte ihm seine Hand kühlend auf die Stirn. Plötzlich blieb Martin mit verschränkten Armen stehen und sagte laut zum Mai: „Sie war keine Hexe!“ – Da kam noch eine Hand voll Blütenduft über die Dächer herüber.
Müde kroch Martin unter seine Bettdecke. Eine Fledermaus durchschwirrte das Stübchen, fand aber glücklich wieder den Weg ins Freie. Martin hatte sie nicht bemerkt: der Mai hatte ihm von der Stirn herab über die Augenlider gestrichen, daß sie sich geschlossen hatten. Oder war ihm doch der Besuch des unheimlichen Flattertiers nicht entgangen? Über seinem Antlitz stand eine große Fledermaus mit ausgebreitetem schwarzen Sammetmantel unbeweglich in der Luft, gleich dem hochschwebenden Bussard, der im nächsten Augenblick auf das junge Häslein herabstoßen wird.
Huh! Dieser borstige Schnurrbart! Wie funkeln die Augen! Wie schimmern die weißen Zähne! Wie drohen die scharfen Krallen am Rande des schwarzen Mantels! – Martin will fliehen – er kann nicht; er will das Untier zertrümmern – alle Glieder sind in Bleischwere gebannt. – So kämpfe, ringe doch! Ohnmächtig leidest du unter dem Bann des Zeitenwahns. – Wie stürmt es ihm durchs Gehirn! Kalter Schweiß bedeckkt das Antlitz.
Nicht alle Leute leiden am Albdrücken, kommen in den Bann der großen Fledermaus, spüren den Druck des Zeitenwahns.
Herr Joseph Bötzinger war darüber hinaus. Und darum erzählte ihm sein Sohn am Morgen, als sie mit der Mutter und den pflegenden Hausleuten am weißen Tisch beim würziger Warmbier saßen, nicht die Geschichte von der großen Fledermaus.
Man verabredete einen Morgenspaziergang nach der „Stahlhütten“. Der Hauswirt, ein Metzger, der sich „zur Ruhe gesetzt“ hatte, machte den Führer der Familie Bötzinger. Sie schritten gemächlich zwischen den Gärten hinter der Stadtmauer dahin, der Metzgermeister am silberbeschlagenen spanischen Rohr, der Schulmeister mit dem knotigen Schlehendornstock in der Hand. Frau Margret erkundigte sich bei Martin nach allerlei Dingen aus seinem Schulleben, nach seinen Lehrern, seinen Kameraden, auch nach seiner Kost und dergleichen.
Es war ein prächtiger Morgen. Die Fledermäuse hatten sich in ihren dunkeln Winkeln aufgehängt; die Schwärmer träumten versteckt unter den Blüten; die Bienen warteten noch daheim, denn die Sonne war noch nicht fertig mit dem Wegküssen des Taues aus Blumen und Blüten; und die Häuser standen so still da, als wüßten sie gar nichts von den fremden Junkern, Städtern, Pfeifern, Geigern, Trompetern, Paukern und Pritschmeistern, die unter ihren Dächern weilten. Teils schliefen die Leute noch, teils waren sie im Morgengebet begriffen, teils saßen sie bei der dampfenden Morgensuppe. Das war eben das rechte Stündchen für die Hänflinge, Finken, Grasmücken, Amseln, Nachtigallen und Lerchen. Ihr Jubel war grenzenlos; und es fiel kein unrechter Laut dazwischen. Für dieses Stündchen war es dem singeifrigen Heer vergönnt, ungestört vom Menschengestänker dem Dienst der Maiweihe obzuliegen.
Martin Bötzinger sog in vollen Zügen die erquickende Luft ein, und der Mai malte ihm ein zartes Rot auf die Wangen. Seine Mutter lauschte glücklich seinen Erzählungen.
Der Metzgermeister erzählte dem Herrn Joseph von der unglücklichen Herzogin Anna, die jahrs vorher nach zwanzigjähriger Gefangenschaft auf der Festung gestorben und in Sonnefeld beerdigt worden war; von dem Aventurier Jeronimus Scotus aus Piacenza, der durch seine Vorspiegelungen zu alchimistischen Zwecken den Herzog Johann Kasimir um viel Geld gebracht, die Herzogin verführt und vor seiner Flucht ein neues Band der Vertraulichkeit zwischen dem Opfer seiner welschen Ränke und dem Hofjunker und Vizemarschall Ulrich von Lichtenstein zu knüpfen verstanden hatte. „Dieser abgefeimte Betrüger hat auch die Gräfin Agnes von Mansfeld, die schönste Jungfrau weit und breit, mit dem Kurfürsten Gebhard von Köln verkuppelt. Erst zeigte der Ränkemeister die Schönheit dem Gebhard in einem magischen Spiegel, und als Gebhard sie hernach als Kanonissin des adlichen Klosters Gerrisheim in einer vorübergehenden Prozession erblickte, wars aus; er lud sie ein, gewann sie und führte gar ein lustig Leben mit ihr zum Ärger des Volkes. Bei diesen Kuppeleien hatte sich der hundsföttische Gaukler die Taschen gefüllt. Wenn man sich betrogen sah, war er verschwunden. – Und da im Totengräbersturm im Gottesacker sitzt Ulrich von Lichtenstein. Von 1593 bis 1597 saß er auf der Festung, dann ist er in diesen Turm gesperrt worden. Es wissens net viel Leut; aber da steckt er nun schon siebzehn Jahre. Die ganze Lichtensteinsche Familie hat nicht nur seine Verpflegung zu bestreiten, sondern sich noch schriftlich verpflichtet, bei Verlust ihrer sächsischen Lehngüter den Herrn Ulrich auszuliefern, so er seiner Haft entspringen würde.“
Die beiden Männer waren stehen geblieben und sahen nach dem Turm, auf dessen Dach ein Rotzagel seinen Part, der ihm im Maijubel zugefallen war, gewissenhaft absang. Inzwischen war Martin mit seiner Mutter nachgekommen, und man schritt wieder fürbaß. Frau Bötzinger wandte sich an den Metzgermeister: „Ihr seid doch eigentlich ein Vetter von uns, Meister Örtlein; wie ist die Verwandtchaft?“
„Ei, Frau Margret, will das meinen! Die nächste Verwandtschaft. Meiner Sophel Vater war der Stadtorganist Friedrich Bötzinger, und dessen Vater, der Walkmüller Lukas Bötzinger, war euers Schwähers Johannes Bötzinger, des Pfarrers, Bruder. Ja, so ist es; und drum halten wir auch den Martin da wie unser leiblich Kind.“
Frau Margret schmunzelte, und Meister Örtlein warf das spanische Rohr über die Schulter und marschierte dahin wie ein Grenadier.
Man langte an der „Stahlhütten“ an. Diese – nämlich das Schießhaus – lag hinter dem Stadtgraben, der in der Breite des Hauses zur Gewinnung des Eingangs geebnet war. Rechter Hand war der Graben noch mit Wasser angefüllt, auf der andern Seite war er ausgetrocknet. Am Thor prangte ein Schild, von zwei Löwen gehalten; die eine Hälfte des Schildes trug den sächsischen Rautenkranz, die andre das lüneburgische Wappen: zwei gelbe Löwen im roten Feld, zu Ehren der Herzogin Margarete, einer gebornen Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, mit der sich Johann Kasimir vor fünfzehn Jahren vermählt hatte. – Das Schießhaus, mit einem Türmlein, hatte acht Giebel, jeder geziert mit goldnem Knauf, auf dem ein Männlein mit gespanntem Bogen in der Linken und dem Pfeil in der Rechten den Zweck des Hauses andeutete. Der gutaufgelegte Metzgermeister, der früher auch Schütze gewesen war, stieg die Schneckentreppe empor, um seinem ihm folgenden Besuch auch das Innere des stattlichen Hauses zu zeigen. Der getäfelte Saal mit seinen kunstreichen Holzeinlagen, die sammet- oder lederbeschlagnen Stühle, mit Quasten und Seidenfransen besetzt, hinter dem Gatter, das der Länge nach einen Teil des Saales für die Schützen abschloß, die Bildnisse der vornehmen Schützen an den Wänden und an der Decke versetzten am allermeisten die Frau Schulmeisterin, der ein solcher Luxus noch nicht vorgekommen war, in Erstaunen.
Nach Besichtigung des Innern nahm man auch den freien Platz hinter dem Schießhaus in Augenschein. Ehe man diesen betrat, zeigte der redselige Führer mit seinem spanischen Rohr auf eine Schranke zur linken Hand, am Rande des trocknen Grabens. Sie war schachbrettwürflig gedielt und „gespint“ und enthielt zwei Pritschbänke; alles war schwarz und gelb angestrichen. „In dieser Woche wird auf den Bänken da mancher die Pritsche zu kosten bekommen“, sagte lachend der ehemalige Schütze. Dann zeigte er nach den drei Schießwänden im Hintergrunde des Schießplatzes: „Die mittlere ist die gute, und in die Bretterwände zwischen den Zielwänden krachen die Fehlbolzen. Von den Geschichten, die auf der guten Schießwand abgebildet sind, habe ich manche mit erlebt. Das Männlein dort oben schlägt alle Viertelstunden mit seinem Hammer auf die Glocke; das ist ein gar kunstvolles Uhrwerk. Das Frauenzimmer mit verbundnen Augen und ausgespanntem Segel auf der Kugel über dem Uhrwerk ist Fortuna. Wenn die Luft in ihr Segel streicht, schwankt sie auf der Kugel: soll den Unbestand des Glücks bedeuten.“
Unbemerkt hatte sich das Ehegespons des deklamierenden Metzgers genähert und hielt ihrem Pflegling Martin die Augen zu.
„Alle Hagel! Da bist du ja auch, Sophel!“, rief lachend der Hausherr.
„Jawohl, Lör! Als ich mit meiner Morgenarbeit überort war und der Magd das ihre anbefohlen hatte, lockte mich der schöne Morgen, euch aufzusuchen. Alleweil sind noch zwei Gäste angekommen: die zwei Herzöge Johann Ernst und Friedrich von Weimar.“
Der mit der Genealogie des sächsischen Fürstenhauses vertraute Metzgermeister fügte sogleich hinzu: „Das sind die beiden ältesten von den elf Söhnen des Herzogs Johann, die er von seiner Gemahlin Dorothea Maria hat. Der Älteste, Johann Ernst, hat den berühmten Friedrich Hortleder zum Lehrer gehabt. Er war kaum fünfzehn Jahre alt, als er mit seinem Bruder Friedrich die hohe Schule zu Jena bezog, wo er einige Jahre das Rektorat bekleidete. Nachmals hat er mit seinem Hofmeister Kaspar Teutleben eine Reise durch Deutschland, Frankreich, England und die Niederlande gemacht. Bei einem Ringelrennen auf der Kaiserkrönung zu Frankfurt am Main hat er vor zwei Jahren den ersten Preis gewonnen; damals ging er ins neunzehnte Jahr. Zu dieser Kaiserkrönung hatte sich unser durchlauchtigster Herr den Heldburger Superintendenten Dr. Johann Gerhard als Begleiter auserwählt.“
„Meister Örtlein, ihr kennt ja die Hofgeschichten wie ein Aktenschreiber“, sagte der Schulmeister.
Meister Örtlein warf sich in die Brust und berührte mit dem Silbergriff seines spanischen Rohrs gravitätisch die linke Schulter des verwunderten Joseph Bötzinger, indem er aufklärend antwortete: „Ja, sieht Er, Herr Schulmeister, mein Abendtrunk beim Thorbeck geht mir über alles. Da erfährt man von den Hofherrn allerhand Raritäten. Als der Herr Rat Doktor Schad verwichen von Naumburg heimkam, wußte er gar viel von dem Weimarischen Herzog Johann Ernst und seinen Brüdern zu erzählen. Dort in Naumburg waren nämlich am 27. März beisammen auf dem Rathaus zweiundzwanzig Fürsten mit noch einmal so viel Räten. Das war eine gar glänzende Versammlung; gegen sechzehnhundert Personen mit 2556 Rossen waren in jenen Tagen mit den Fürsten dort eingezogen. Ist ein neuer Erbverbrüderungsvertrag unterzeichnet worden.“
Die Fanfare eines Trompeterchors schnitt dem Meister Örtlein das Wort ab. Sie kam aus der Gegend des Ballhauses hinter dem Thor des Schloßgartens her. Die Morgenwanderer überschritten eiligst den Stadtgraben und warteten zur Seite des Einganges am Stand der „verlornen Schießwand,“ angebracht für etwaige Ausbesserung und Zurüstung lädierten Schießzeuges, der Dinge, die da kommen sollten.
„Der Hof kommt!“, sagte mit wichtiger Miene Meister Örtlein.
Zwölf Trompeter, schwarz und gelb gekleidet, eilten vorüber und stellten sich am Schießhaus auf, von wo aus sie ihr Hauptstück dem Zug, der sich gemessen durch das Tor des Schloßgartens bewegte, entgegen schmetterten.
Diese zwölf Trompeterköpfe sahen aus wie kochende Blutwürste und drohten allesamt zu zerspringen, sintemal vor dem dreißigjährigen Krieg das Sicherheitsventil für Bläser noch nicht erfunden war.
Es war gut, daß Martin nicht nach ihnen hinsah, sonst hätte er sich vielleicht hinreißen lassen zu Betrachtungen über den Unterschied zwischen Narren und vernünftigen Menschen: er hatte nach Interessanterem zu schauen. Eben schritt der Herzog Johann Kasimir, seinen Bruder Johann Ernst zur Rechten, vorüber – die beiden Herzöge von Weimar, der Reichsgraf Günther von Schwarzburg, und all die Ritter und Junker.
Der Leibknecht Hans? – Wird er noch kommen? – Ein Flor senkte sich vor dem aufgeregten Martin nieder, die Umrisse der großen Fledermaus waren darauf. Frau Margrets Augen waren um so heller und vollauf beschäftigt, sodaß für den armen Martin kein einziger Blick übrig war.
Und Herrn Joseph Bötzinger erklärte Meister Örtlein: „Das sind die Nürnberger, die da hinter den Junkern kommen, – das da die Dresdner, – nun die Erfurter, – die Leipziger, – die von Eschwege; – guten Morgen, Herr Hübner! Schön, daß Ihr auch da seid! – war der Ratsherr Valtin Hübner aus Römhild.“ – Die fremden Städter hatten sich als fürstliche Gäste auf dem Ballhaus versammelt. „Nun werden bald die Koburger kommen.“
Der Hofzug war einmarschiert; der Leibknecht Hans war nicht erschienen; der Flor war wieder verschwunden. Frau Margret wandte sich an ihren Sohn mit den Worten: „Ich möchte auch in Koburg wohnen“ – und merkte ihm nicht an, daß er den Fledermauschatten gesehen hatte.
Von der Spittelgasse her kam neuer Lärm. „Lör, was solls werden? Da vergeß ich das Kochen darüber“, redete Sophel ihren Gemahl an. Meister Örtlein entgegnete: „Bleib nur noch da, Sophel, bis die Koburger auch noch eingezogen sind. Ich freu mich auf den langen Hans!"
Da setzte sich ein „Trauermantel“ an die „verlorne Schießwand.“ Er wurde größer, reckte sich mehr und mehr: Martin sah wieder die große Fledermaus.
„Wer ist der lange Hans?“, fragte Frau Margret.
„Das ist Hans Bäuker, ein Schuster. Ihr werdet ihn bald sehen, Frau Bötzinger.“
Die große Fledermaus wurde wieder kleiner: der Trauermantel flog davon.
Da kam der Zug der Koburger aus dem etwa hundert Schritt entfernten Stadttor: voran die fünf Pritschmeister, wie sie am gestrigen Abend alle Straßen und Tore alarmiert hatten. Den Pritschmeistern folgten vier Zieler in schwarzgelben Kleidern, die Zielstäbe in den Händen; hinter den dann folgenden beiden „Trommelspielen“ schritten die Koburger Schützen, denen eine ansehnliche Zahl Knaben die seidnen „Zweckfahnen“ nachtrugen, „geputzt und schön ausstaffieret“ mit Federn auf den Hüten und Schärpen um den Leib – Söhne Adlicher und vornehmer Bürger –, paarweis marschierend und vor Vergnügen strahlend. Die sich nun anreihenden Schalmeienbläser trugen nach des Herzogs Anordnung rotes Leder über dem Wams und Hahnenfedern auf dem Hut. Ihnen folgte ein langer Mann in seltsamem Kleid aus schwarzer Leinwand nach altem deutschen Schnitt, mit weißen Flecken benäht, in weiten Hosen, um und um mit Zipfeln behängt, eine große leinene Fahne tragend.
„Das ist der lange Hans, Frau Bötzinger!“, rief Meister Örtlein und zeigte mit seinem spanischen Rohr lachend nach der auffälligen Erscheinung.
Er war der Anführer des „Essigs und Sauerteigs,“ nämlich der Buben, die die für die Fehlschüsse bestimmten leinenen Fahnen trugen. Es waren ihrer zwölf Paar, ebenfalls in schwarze Leinwand gekleidet, mit weißen Fetzen benäht, mit zerrissenen Schuhen, aus denen die Zehen guckten. Sie waren zugleich dazu bestimmt, während des Festes die „Jagdhunde“ der Pritschmeister zu machen, als welche sie Bauern oder beschwerlich fallende Personen für die Pritschbank einzufangen hatten.
Ein großer Schwarm mutwilliger Kinder und allerhand Neugieriger rahmte den Zug ein. Auch auswärtiges Volk hatte sich in großer Menge eingestellt, den Auszug der Schützen mit anzusehen.
Am Schießhaus angelangt hatte sich der Zug aufgelöst. Wolf Ferber ließ auf Befehl seines fürstlichen Herrn die Trommeln rühren und rief dann aus, daß alle Schützen sich in den Saal begeben möchten. Dort wurden sie im Namen des Herzogs vom fürstlichen Rat und Amtmann zu Sonnefeld, Herrn Albrecht von Steinau (genannt Steinrück), willkommen geheißen. Darauf ließ der Pritschmeister Wolf Ferber mit zwei Trommeln Lärm schlagen und verlas auf höchsten Befehl mit Stentorstimme das Schützenpatent. Nun wurde die Wahl der „Neuner“ vorgenommen, der Beamten für das Fest, die die Gewinne auszuteilen, überhaupt alles, was Rechtens, zu handeln hatten.
Während dieser das Schießen einleitenden Geschäfte der Schützen oben im Saal spielten sich in der bunten Volksmasse vor dem Schießhause die possierlichsten Szenen ab.
Die Lumpenjungen in zerrissenen Schuhen hatten ihre Fahnen abgegeben und trieben sich ausgelassen umher. Einige versuchten sich an der Kletterstange; einer der pritschmeisterlichen „Jagdhunde“ gab sich zu einer Probe auf der Kuhhaut her: wurde von den vier Pritschmeistern darauf „geschupfet“ und hat sich „gewaltig artig dabei geberdet, viel Gaukelei mit den Händen getrieben, und ob er schon hoch empor geworfen, ist er doch meistenteils wieder auf die Füße gekommen, was mit besonderer Lust anzusehen gewesen.“
Andre versuchten sich im Pritschendienst. Ein Knäuel umklammerte einen Schornsteinfegerlehrling, der sich heute gewaschen hatte, aber sich ungewaschen diesen Buben wohl zum öftern schon als Unhold bewiesen haben mochte, und wälzte sich mit ihm nach der schachbrettwürflig gedielten Schranke. Es dauerte nicht lange, so lag der Bursche pritschgerecht auf der Bank, und Jonas Rupp von Augsburg gab ihm zu kosten, was ihm „im Essig und Sauerteig“ eingebrockt worden war.
Als der Gepritschte losgelassen wurde, wollte er sich schleunigst mit Hilfe seiner Ellenbogen durch die Menge bohren, wurde aber von einer Rotte Pritschmeisterjungen, denen sein Abenteuer unbekannt geblieben war, aufs neue festgehalten zum abermaligen Schwimmen auf der Pritschbank. Wie Kletten hingen die Buben an dem „schwarzen Peter“ – wie sie ihn nannten –, und der Haufen warf sich in der Menge hin und her wie eine wütende Katze im Sack.
Dabei wurde ein flachshaariges Mägdlein von etwa zehn Jahren zu Boden geworfen, und die Bubenlawine drohte sich über das Kind zu wälzen. In diesem Augenblick sprang der Kustos Bötzinger herzu und zog die Verunglückte aus dem Gewühl. Ihr Gesicht war mit Blut bedeckt. Obgleich das Blut nur von jenem Luftfang im Gesicht herrührte, der zuweilen schon bei geringem Druck der Vergeudung des geheimnisvollsten Saftes fähig ist, so glaubte doch Martin, das edle Wesen vom Tod errettet zu haben. Er beugte sich zu dem Mädchen nieder, um die Wunde zu untersuchen und zu sehen, ob sie vielleicht doch lebensgefährlich sei. Da bückte sich neben ihm ein Mann und nahm das Kind mit den Worten auf den Arm: „Herr Gott im Himmel! Ursel, was hast du gemacht? Was ist dir passiert? Wo warst du denn auf einmal hin? Wo blutst du denn?“
„Ich weiß net, Vater! Meine Nasen muß bluten. Die bösen Bubn habn mich von dir gerissen, daß ich gefallen bin.“
Der Ratsherr Michael Böhm von Heldburg vergaß in seiner Aufregung ganz, sich nach dem jungen Herrlein, das sich seines Töchterchens angenommen hatte, weiter umzusehen, trug die Königin des Gänserasens ins Schießhaus, wusch ihr das Gesicht, stillte die kleine Nase und sagte: „Ursel, das war ein dummer Spaß. Es tut dir doch nichts weh?“
„Nein Vater! Wer war denn der Herr, der mich aufgehoben hat?“
„Herr Gott im Himmel! Ursel, komm, wir wolln sehn, daß wir ihn wieder finden; ich hab ihn ja gar net angesehn. Wirst ihn denn noch kennen?“
„Ach, jawohl, Vater! Den kenn ich gleich wieder.“
Der Ratsherr trat mit seiner kleinen Ursel aus dem Schießhaus heraus und begab sich mit ihr wieder unter die Volksmenge.
Aber Martin Bötzinger ward nicht von ihnen gefunden. Er hatte wieder die große Fledermaus gesehen und war dann mit seiner Mutter und Frau Örtlein, die zu kochen hatte, nach Haus gegangen.
Die beiden Meister, Joseph Bötzinger und Lorenz Örtlein, hatten sich hinter dem Schießhaus, wohin das Gedränge nicht reichte, unter eine Linde zu einem Schoppen „Fränkischem“ gesetzt, und Meister Örtlein erzählte Hofgeschichten. Als ihm der Faden ausgegangen war, ging er in die „Stahlhütten“, um den Morgentrunk zu bezahlen, und Joseph Bötzinger stand auf und sah den Fischen im Stadtgraben zu, wie sie steif dahin zogen.
In einer Seitentür des Schießhauses stand der Leibknecht Hans und fixierte den Schulmeister von Mupperg.
Der Heldburger Ratsherr mit seiner kleinen Ursel, deren Pate sich wieder zu ihnen gesellt hatte, suchte noch nach dem Retter der Königin vom Gänserasen. Die beiden Männer mit dem Kinde standen eben hinter dem Schießhaus und sahen ebenfalls nach dem Mann am Wasser; sie konnten aber vom Leibknecht Hans nicht gesehen werden.
Plötzlich schlich rasch und leis wie eine Natter Hans nach dem Herrn Bötzinger hinüber. Unbemerkt an ihm angelangt, versetzte er dem Schulmeister mit krampfhaftem Kraftaufwand einen Stoß, daß er in das tiefe Wasser stürzte. – Der Leibknecht verschwand in der Menge.
Michael Böhm und sein Gevatter, sowie Ursel waren Augenzeugen der bösen Tat. „Der wilde Reiter!“, schrie Ursel. – Die beiden Männer eilten nach der Unglücksstätte. Der Ratsherr bemerkte an dem in Todesnot Schwebenden Anstrengungen zum Emporkommen, winkte seinem Gevatter und riß den Pfahl einer frischgepflanzten Linde heraus. Sein Genosse folgte seinem Beispiel, und beide Männer hatten bald das Glück, den sich Anklammernden dem Element zu entreißen, das schon demselben Zweck zu dienen gehabt hatte, wie das entgegengesetzte, das Element des Scheiterhaufens.
Das Entsetzen Meister Örtleins, der eben aus dem Schießhaus trat, als die beiden Heldburger seinen „lieben Vetter Bötzinger“ wassertriefend geführt brachten, ist unbeschreiblich.
„Erst den Mann da ins Bett! Dann wolln wir Euch alles erzählen“, sagte Michael Böhm.
Meister Örtlein schlug einmal übers andremal die Hände zusammen; sein Gesicht war zusammengefallen; er war sprachlos. Auch noch das laute Weinen und Schluchzen des fremden Kindes! Es war ihm schier, als müsse er von Sinnen kommen.
Nach knapper Bedeutung wies der Schützenwirt die Männer in seine Schlafkammer. Dort wurde Joseph Bötzinger entkleidet und in ein Bett gebracht. Michael Böhme beruhigte seine Ursel, indes sein Gevatter dem entsetzten Meister Örtlein den Hergang des eben Erlebten mitteilte. Als Ursel dazwischen rief: „Der wild Reiter von nächten!“, mußte sie Aufschluß geben, und sie erzählte den gestrigen Vorgang auf dem Gänserasen. Michael Böhm erklärte, daß ein Hofknecht die Schaudertat verübt habe, worüber Meidter Örtlein dich von neuem so entsetzte, daß er sein spanisches Rohr fallen ließ.
Nachdem Meister Örtlein einigermaßen zu sich gekommen war, sagte er: „Ich werde es dem Herrn Rat von Steinau melden. Die Sache muß untersucht werden!“
Dem Mutwillen vor dem Schießhaus war durch den bösen Vorgang ein Dämpfer aufgesetzt worden; es schwirrte in der Luft von einem ins Wasser Gefallnen. Niemand konnte Aufschluß geben. Aber man erzählte sich schon die verschiedensten Wassermordgeschichten.
Es war zehn Uhr; der Hof zog ab zur Tafel. Meister Örtlein kam mit seiner Klage nicht an; er mußte sie verschieben und kehrte zu seinem liebwerten Patienten zurück. Dann schickte er einen Boten zu seiner Gemahlin und ließ ihr sagen, sie möge einen vollständigen Anzug von ihm auf die „Stahlhütten“ schicken, aber der Frau Bötzinger und dem Martin nichts merken lassen, sie würden sich heute später als gewöhnlich zum Mittagessen einstellen.
Vor einer halben Stunde war der Leibknecht Hans auf seinem Rappen zum Ketschentor hinausgesprengt, und es war ihm, als höre er die Lindenelsa rufen: „Willst doch net heut noch den Marschall einholn, Hans? Hihihi! – Laß die Bößinger ungeschorn!“
Als dem Herzog Kasimir gemeldet wurde, daß ein fürstlicher Knecht den Schulmeister von Mupperg in den „nassen Stadtgraben“ gestoßen habe, erzählte man sich schon am Hofe von der Flucht eines Eisenacher Leibknechts. Da das Stadtgrabenbad dem Schulmeister nichts geschadet hatte, verständigte man sich bald dahin, dieses Abenteuer weiter nicht zu besprechen.
Niemand hatte eine Ahnung von dem ursächlichen Zusammenhang des auffallenden Vorkommnisses am ersten Tag des Stahlbogenschießens in Koburg Anno 1614. Selbst Joseph Bötzinger wußte nicht, wie ihm geschehen war, obgleich mans ihm erzählt hatte.
Die einzige Person, die Aufschluß hätte geben können, war der Kustos Martin Bötzinger: er hatte die große Fledermaus gesehen.