Zweiundzwanzigstes Kapitel
Des Simplicius Zwiespalt
Quellet, ihr Brünnelein,
Netzet das hart Gestein:
Es ist
Die Frist
Dem Frühling gestellt!
Öffnet die Kelche klein,
Liebliche Blümelein,
Noch eh
Der Schnee
Aufs Köpfchen euch fällt!
Buben und Mägdlein wild,
Traget nicht Groll im Schild:
Es frißt
Der Zwist
Die Herzen euch leer!
Laßts euch zu Herzen gehn,
Lernet euch doh verstehn,
Noch eh
In Weh
Die Lieb sich verzehr!
So sang die Hausfreundin im Giebelfenster, als nach jenem flüchtigen nächtlichen Zusammentreffen mit Bötzinger Ursula Böhm am Morgen aus schweren Träumen erwachte. Sie hörte das Schwalbenlied und weinte. Und sie hörte es in jenem Sommer noch manchmal – und weinte.
An einem der lebten Junitage saß Ursula Böhm nachmittags hinter Marumverum, Rosmarin und Gelbveigelein und strikte fleißig. Die Schwalbe hatte eben gesungen:
Noch eh in Weh
Die Lieb sich verzehr!
Da legte plötzlich Ursel ihr Strickzeug weg und lugte zwischen den duftenden Lieblingen am Fenster hindurch auf die Straße nach einer Kutsche, die eben angefahren war.
Der alte Kutscher sprang vom Bock und klatschte mit seiner Peitsche, und bald kam Zacher aus dem Hofe gestürzt, um zu sehen, was für ein Kutschgeschirr da angekommen sei.
Dieses Zachergesicht, als ihm sein runzliges Urbild von dem alten Kutscher her entgegenleuchtete, war unbeschreiblich. Staunen und Freude kämpften zwischen Stirn und Kinn um die Herrschaft. Zacher stand wie angewurzelt. Da rief der Alte: „Zacher, ich mant, du kennst mich nimmer!“
„Herr Gott, Vater! Wo kommt Ihr her? Kenn Euch schon noch! Aber ich wußt net, was ich sagen sollt.“ Mit diesen Worten eilte Zacher zu dem Kutscher des Burgvogts von Rauenstein und schüttelte ihm die Hand.
„Jung, wir habn einen bösen Umweg gemacht, daß ich dich einmal besuchen wollt“, sagte der Alte.
„Aber Vater, Eure Gäul sind doch feiner als unsre. Wenn ich einmal so ein paar Gäul kriegt!“
Schmunzelnd umging Zacher das Gespann und patschte und pfiff leise.
„Wie lang wirds noch dauern, Zacher! Ich bin schon an die Jahr!“
Da kam der Ratsherr Böhm heraus und wandte sich an Zacher: „Ist wohl gar dein Vater?“
„Ei ja! Herr!“, rief der treue Knecht, und seine weißen Zähne leuchteten. Hinter dem Tor aber stand die Lise und betrachtete durch ein Astloch ihren künftigen Schwiegervater.
„Alter“, redete Michael Böhm den Kutscher an, „wo fährt Er herum, und wen fährt Er?“
„Meines gnädigen Herrn Tochter, Eidam und Enkelin bringe ich von Unterschwappach her“, antwortete der Wagenlenker.
„Er hat den Zacher doch lange net gesehn; Er kann net gleich wieder fortfahrn. Der Zacher spannt aus und plaudert ein Stündlein mit Ihm, und die Herrschaften nehmen unter meinem Dach derweil einen kleinen Imbiß ein. Mach Er doch einmal den Wagen auf!“
Der Alte öffnete den Schlag, und der gastfreundliche Ratsherr redete in den Wagen hinein: „Ehrenfeste Herrschaften, ich will hiemit für euern alten Kutscher und seinen Sohn ein gutes Wort einlegen zur Genehmigung eines Stündleins Aufenthalt; derweil aber mögen die hochachtbarn Herrschaften sich unter meinem Dach gefallen lassen, was die Hausfrau bieten kann.“
„Er ist doch der Ratsherr Böhm, bei dem der Sohn unsers Kutschers im Dienst steht?“, fragte der Herr Landjägermeister.
„Ei, ja wohl! Meine Herrschaften!“, antwortete der Ratsherr.
„Da hilft alles nichts!“, rief der Landjägermeister, sprang aus dem Wagen und hob auch die Damen heraus.
Als so vornehme Damen ausstiegen, gab Jungfer Ursel ihre beobachtende Stellung auf und eilte hinunter in die Küche zur Mutter.
„Verlier den Kopf net, Urschel! Komm her, wolln den Herrschaften entgegen gehn! Was der Vater ins Haus führt, muß uns willkommen sein!“
Die Damen mit dem Landjägermeister waren vom Hausherrn und von der Hausfrau und Tochter durch Händedruck aufs herzlichste empfangen worden, und als sie an dem weißen Ahorntisch Platz genommen hatten, sagte der Hausvater: „Daß Ihr des wohledlen und ehrenfesten Burgvogtes von Rauenstein Eidam seid, hat mir Euer Kutscher wohl schon kundgetan, aber doch möchte ich auch Euers Namens und Standes Kunde haben.“
„Ich bin der Landjägermeister Eckhold von Rudolstadt.“
Die Hausfrau entfernte sich mit ihrer Tochter, um einiges zur Erfrischung zu holen, und der Herr Landjägermeister unterhielt sich mit dem Ratsherrn über Zeitverhältnisse im allgemeinen und endlich auch über Tagesereignisse aus der Gegend von Heldburg. So kam denn der Ratsherr bald auf die Spitzbubenbande vom Straufhain und den Marschall Hans als einen Schwarzkünstler zu sprechen. So sehr diese Geschichten die Damen interessierten, so schweigsamer wurde durch sie der Herr Landjägermeister, sodaß Herr Michael Böhm froh war, abbrechen zu können beim Eintritt seiner Tochter, um zugleich dieser schmerzliche Erinnerungen zu ersparen. Und sonderbar, mit dem Eintritt der Jungfer Ursel war auch das Interesse des Fräuleins Susanna für Räubergeschichten geschwunden: sie hatte nur noch ein Auge für die Tochter des Hauses, die von dem Augenblick der Begegnung an, in der der Name Ursel gefallen war, das Fräulein Susanna in Aufregung versetzt hatte.
Das also ist die Ursula Böhm, um die jetzt Martin Bötzinger freit, wie Marschall Schweigmund von Unfind in jener schönen Nacht im Schloßgarten zu Unterschwappach versichert hat. Dieser herrliche Wuchs, diese stolze und doch anmutige Gestalt, diese Schultern, dieser Nacken, diese goldigen Flechten, dieses seelenvoll leuchtende blaue Auge, dieses Antlitz voller Milde und Würde! Das ist die Ursula Böhm! Um ihretwillen hat er mich vergessen, er, den ich als feigen Schwärmer verachten und bemitleiden wollte. Wie würde er mich verlachen, wollte ich ihm von meinem Mitleid erzählen! Wird der sie auch gesehen haben, der von hinnen gezogen ist gen Eisenach?
Fräulein Susanna wandte sich ab von dieser Zaubergestalt. Sie langte sich zu von den Eiern, von der Butter, dem Honig und – wußte nicht, was sie aß, – nicht einmal, daß sie aß. Und sie mußte immer wieder nach dieser „Ursula Böhm von Heldburg“ hinsehen. Dem Herrn Landjägermeister aber kam der Schwarzkünstler, der es seiner Tochter angetan hatte, nicht wieder aus dem Sinn. Und er sprang – wie zur Rettung – auf, als Susanna zur Abfahrt mahnte. Es ward Befehl zum Einspannen gegeben.
Zacher führte die Pferde hinaus, und der alte Kutscher folgte, mit der Lise schäkernd, die ihm zur Seite ging. „Er will mich frein, wenn er Kutscher ist“, sagte sie verschämt zu dem Alten. „Ists dein Ernst, Mädel? Willst meine Schnur werden?“, rief freudig der Alte und drückte der Lise herzlich die Hand. „'S bleibt dabei! Wenn ich nach Haus komm, red ich mit dem Herrn. Die Zeit soll euch nit gar zu lang werden.“
Die Pferde waren eingespannt; die Herrschaften wurden von der gastfreundlichen Familie an den Wagen begleitet. Da wußte es Fräulein Susanna einzurichten, daß sie an die Seite der Jungfer Ursel kam, die zuletzt ging. Im Hoftor reichte sie der schönen Ursula Böhm die Hand und flüsterte ihr ins Ohr: „Der Herr Martin Bötzinger freit um Euch. Ich kenne ihn auch.“ Dann verabschiedete sie sich rasch von den Eltern und stieg ein. Und als die Frau Landjägermeisterin dem Ratsherrn Michael Böhm die Hand zum Abschied reichte, sagte sie: „Wenn Er den Hauslehrer Martin Bötzinger sieht, so grüß Er ihn von uns und sage Er ihm, der Fluch wär gebrochen, und er sollt uns bald in Rudolstadt besuchen.“
Dieser Auftrag brachte den wackern Ratsherrn fast in Verwirrung, aber der bleichen Ursel schlug er als prasselndes Hagelwetter ins Herz.
Als der Wagen davongerollt war und der Ratsherr und sein Ehegespons den Zacher nach dem Alter seines Vaters und mancherlei andern Dingen fragten, warf sich Ursel auf ihr Bett und rief: „Das war sie!“ und weinte. –
Das Eulenpaar auf der Burg ward irr an dem jungen Theologus, und der Herr Amtsschösser geriet wegen seiner in Sorge. Martin Bötzinger ward stiller und stiller. –
In Gompertshausen verging der Sommer, wie schon viele Sommer vergangen waren. Es wurde Heu gemacht, Getreide geerntet, Flachs geröstet, und am Sonntag „unter der Kirche“ nagten kleine „Hemdleuten“ am Fensterrahmen, und trieb der Tagwächter mit seinem langen Spieß die vagabundierenden Gänse aus dem Grasgarten.
Aber in den Gliedern der armen Lindenelsa wütete das „fahrend Ding“ wie noch nie; es hatte sie aufs Lager geworfen und sie darauf festgehalten bis in den Spätherbst hinein. Der Nachbar hatte den alten Fritz zu sich in Arbeit und Pflege genommen, und die Nachbarinnen versahen die Kranke mit Suppe und Wäsche. Dabei gediehen die „Russen“ vortrefflich, und Herr Niedlich und Frau Flink begingen mit ihrer Sippe die ausgelassensten Orgien.
So waren drei Menschen, die im Mai das Schicksal auf das innigste mit einander verbunden hatte, schier auseinandergerissen und in Schmerz gebannt. Wenn das Leid der Jungfer Ursel zu schwer ward, eilte sie nach Gompertshausen an das Lager der Lindenelsa. Der Honig, die Eier und die zarten Früchte, die Ursel der Kranken mitbrachte, erquickten diese ja wohl immer; aber diese Erquickung war doch gar nicht zu vergleichen mit der Herzenserquickung, die aus Ursels Gegenwart floß. „Du bist mein Stern in meiner Schmerzensnacht und mein Engel“, sagte einmal Elsa, und wenn ich wieder fort kann, muß mich mein Fritz noch einmal auf die Burg schleppen: dem Elend muß ich nachgehn und nachsehn, das da in die Herzen gefallen ist.
Aber Ursel wehrte ab! „Ihr könnt mir net helfen, Elsa! Und er hat keine Hilfe nötig.“
„Ihr meidet einander, Ursel; aber erst wars anders. Und da muß auch ihm was fehln.“ „Er hat gesagt, er wär in der Wüste und im Bann der Vereinsamung, und ich sollt ihn erlösen.“
„Ei, du liebstes Gottle! Ach, ach! Das hast du net verstanden?“
„Wie kann ichs verstehen, wenn er – ach Elsa! Ich wollts Euch heut gestehn; aber ich kann das Wort net wieder über die Lippen bringen – lieber will ich sterben!“
„Ach, du liebstes Gottle! Ist das ein Elend! Und hasts ihm gesagt, das Wort?“
„Ich mußts ihm sagen, sonst hätts mich erstickt. Und mit dem Wort hab ich ihn aus Stadt und Flur verbannt. Er läßt sich net mehr sehn. Und die Festungsmagd, die so schön den andern singt, hat mirs erzählt, daß er wie krank wär.“
„Ei ei ei! Die lieb Jugend! Das hätt ich net gedacht, Urschel, daß du Giftpfeile auf der Zunge trügst!“
„Was ich ihm gesagt hab, mußt ein süßes Wort für ihn sein. Und wenn es das für ihn war, so bin ich allein elend; und wenn es ein Giftpfeil für ihn war, so sind wir beide elend!“
Ursel fing leidenschaftlich an zu schluchzen. So sehr sich auch Elsa bemühte, das „Wort“ zu hören: es kam nicht über die Lippen der Ursula Böhm. –
„Laßt Euch vom Edelfräulein im Mupperger Kastrum erlösen!“
„Vom Edelfräulein!“ Das war das Wort, das als „Giftpfeil“ im Herzen Martin Bötzingers saß. Daran krankte er. Er ward stiller und stiller. Aber seines Hauslehreramtes wartete er in größter Gewissenhaftigkeit; auch seine historischen Studien nahm er wieder mit mehr Eifer auf. In der Arbeit und treuen Pflichterfüllung suchte er Beruhigung, suchte er die Zufriedenheit mit sich selbst wiederzugewinnen: vergeblich!
Er wußte sich auf dem Gebiete des Glaubens wohl mit seiner Zeit im Widerspruch: in sich selbst war er noch nicht entzweit gewesen, bevor ihn das böse Wort getroffen hatte. Er glaubte längst nicht mehr an einen Frieden unter dem Dach; den Frieden der Flur hatte der alte Eisentraut von Ibind gebrochen, als er seine Ochsen prügelte; den Waldfrieden hatte der Habicht erschüttert – nun war auch sein Frieden mit ihm selbst dahin.
Denn wenn Martin hinten im Walde saß und sich in das Abendrot versenkte, oder wenn er auf seinem Lager den Schlaf suchte: so zog das langwimprige Geschlecht herauf, und wenn es nahe genug war zum Erkennen, huschte es im Schrecken davon wie vor einem Pestkranken. Und dann stieg die blauäugige, goldhaarige Ursel empor, und wenn er ihre Hand ergreifen wollte, floh sie wie vor einem Betrüger. Dann stöhnte er wie ein in seinem ganzen Wesen Zerrissener.
Martin war friedlos.
Die Flur ist öde und still. Bursche und Mädchen singen nicht mehr des Sonntagabends auf der Landstraße. Der Futterkasten in der Stallhalle des Ratsherrn Michael Böhm ist nicht mehr der Thron der Liebe. Sträucher und Bäume strecken als arme Leute ihre leeren Zweige in die Luft. Anstatt der Bienen, Käfer und Schmetterlinge tanzen Schneeflocken zwischen Himmel und Erde.
Auf der fränkischen Leuchte steht in seinem Stübchen Martin Bötzinger an dem Fenster und schaut traurig hinaus in die winterliche Öde. „Das ist der Friede! Wo das Leben gewichen ist und still und leise der kalte Schnee sich zum Totenlaken webt: da ist der Friede! – Aber da in der Brust klopft noch etwas; da drinnen ist noch Leben – kein Friede. Es gab eine Zeit, wo dieses Klopfen den Frieden bedeutete. O harmlose Kindheit! Ihr ist das Himmelreich, der Friede. Und der Herr, dessen Diener ich werden soll in seiner Kirche, ruft uns zu: Werdet wie die Kinder! Habt nicht lieb die Welt! Nicht lieben! – Nichts lieben! – Ich muß sie herausreißen, diese Liebe! Dieses Klopfen soll nicht mehr die Liebe bedeuten: Liebe ist Unfriede, Sünde! – Sonst, wenn der Schnee so leise webte, war da nicht der Friede unter dem Dach der Schule zu Mupperg? Friede und Freude! Wie klopfte es so freudig dadrin, wenn ich unter dem Christbaum stand! – Mutter! Wenn mir kein Christbaum mehr lacht – in deinem Antlitz trägst du noch den Glanz des Friedens. Deine Liebe soll meine Qualen lindern. Weihnachten will ich Kind sein in der Schule zu Mupperg!“
Es war am Tage vor dem heiligen Christabend. Martin Bötzinger verabschiedete sich von seinen Zöglingen und dem Herrn Amtsschösser und wanderte sehnsuchtsvoll durch die tote Winterlandschaft seiner Heimat zu.
Wie vor acht Jahren – aber in umgekehrter Richtung – durchschritt er sein liebes Koburg, ohne einzukehren. Auch den Meister Örtlein besuchte er nicht: der Tag war zu kurz, und die Sehnsucht nach dem Elternhaus zu groß. Der Marktbrunn plätscherte, als Martin vorüberging: „Ei, der Kustos Bötzinger! Die Fledermäus schlafen alleweil. Er ist einmal recht in Gedanken, Herr Bötzinger!“ Martin machte lange Schritte und sah sich nicht um. Da stieß ihn einer in die Kniekehle, gerade wie vor acht Jahren, als er nach Würzburg reiste. Martin fuhr herum. „Echter!“ Der alte Hund des Meisters Örtlein, der nur noch ein Auge hatte, stand wedelnd vor Martin: ein Bild des Jammers. Die erbarmungslose Zeit hatte dem Tier ein schweres, zehrendes Alter in die Glieder gesenkt; aber es wedelte doch noch dem Bekannten Treue zu.
„Alter Echter!“, rief Martin traurig und ging fürbaß. Der alte Echter knurrte dumpf und humpelte davon.
Bald hatte Martin die Stadt hinter sich. Da befiel ihn plötzlich eine große Schwäche. Er lehnte sich an einen alten Baum, und es kam ihm der Gedanke, daß er wohl großen Hunger haben müsse. In Dörfles kehrte er im Wirtshaus ein und ließ sich Brot, Käs und Bier vorsehen. Es schmeckte ihm, und bald fühlte er sich wieder wohl. Plötzlich ward er angeredet: „Gute Pillen, junger Herr! Hinneröm! Kauf Er mir ab!“
Bötzinger fuhr erschrocken auf.
„Ei, der Hauslehrer von der Heldburg! Wie gehts, guter Freund? Hinneröm! Warn gute Zeiten! Uns Marschall ist über alle Berg. Aber ich bleib im Land und nähr mich redlich, hinneröm!“
Da wurde die Tür heftig aufgerissen, und ein alter, dicker Mönch wäre beinahe zur Stube hineingefallen. Hinter ihm stand eine große, kräftige Magd mit geschwungnem Besen und rief zankend dem Mönch nach: „Er hat für drei Mann gegessen und getrunken. – Nun leg Er sich auf die Bank und laß uns ungeschoren, Er Unflat!“
Die Tür flog zu, und der Mönch brummte: „Kinder Sodoms! Aber der Herr wird sie noch mit brennendem Schwefel und Pech verzehren!“ Und sich dem Tische Bötzingers zuwendend, redete der Geschmähte mit kupferfarbigem Vollmondgesicht den Pillenhändler grinsend an: „Lieber Geselle! Hast doch überall gute Bekannte!“ Und dabei ergriff er den Bierkrug Bötzingers und trank ihn leer. Indem er ihn wieder auf den Tisch stauchte, rief er: „Wer ist der propper Herr?“
„Der Hauslehrer Bötzinger, Alterle, 'n guter Freund vomer, hinneröm!“
„Bötzinger? – Bötzinger? – Hm, hm! – War Er nit einmal beim Bischof Julius, he? – Da fahr doch de Hollefrau in die frischgewaschnen Windeln der Jungfrau Marie, Mutter Gottes, bitt für uns, arme Sünder! – Ei ei! Des Aneä Sylvii historisch Werk! – Bötzinger von Mupperg, der Großvater mein guter Freund! – Alle Heiligen Ioben den Herrn! Und der Teufel soll mich holn, wenn ich nit eine Schleifkanne auf Seine Gesundheit leere! Der alt Willius hat doch auch noch gute Freunde und Bekannte, an die er gar nit denkt. – Heda, Wirt, aufgetragen! Ein frohes Fest des Wiedersehens!“
„War einmal unser Gast auf dem Straufhain. Ein tapfrer Bub! hinneröm! Das gibt nen lustigen Abend!“
Dörfles begann sich langsam um Bötzinger zu drehen. Er hielt sich am Tisch an. Und seine heitern Freunde merkten durchaus nicht, daß es ihm übel ward.
Als der Pater Willius den Wirt mit einer großen Kanne Bier kommen sah, schlug er vor Freude mit seiner fleischigen, schweren Hand den Martin Bötzinger auf die Schulter und rief: „Mein lieber Amtsbruder, hier ist gut sein; lasset uns drei Hütten bauen!“ Dabei drückte er den unter der Macht der obwaltenden Ereignisse in Ohnmacht seufzenden geistlichen Simplicius wieder auf die Bank. Der unflätige Mönch und der unheimliche Durchschlupf nahmen ihren guten Freund in die Mitte und sprachen der duftenden Kanne fleißig zu.
„Ja, sieht Er?“, sagte der Pillenhändler, „die Zeiten ändern sich. Uns Schnappauf hat mir seinen Pillenhandel übergeben und ist in Kissingen Hirt geworden. Da der Willius und ich machen Kumpanie, hinneröm. Gehts ins Katholische, zieh ich die Kutten an, hinneröm! Da sieht Er, meine Platte vom Pater Gregorius laß ich net wieder eingehen“ – und dabei hielt er seinen kahlen Schädel dem jungen Theologus unter das Gesicht –, „und wenn wir im Evangelischen sind, zieh ich die Kutten aus, und der Willius spricht den Segen über die Pillen, die ich verkauf. Denn die evangelischen Bauernweibsen denken immer noch, ein Münchssegen wär ein kräftigerer, hinneröm. Verwichen warn wir auch in Birkig. Da hat mir der kleine Kunz erzählt, seine Mutter hab Ihn fortgeschickt, weil Er das gnädige Fräulein Susanna von Schaumberg habe freien wolln, hinneröm! Hat Er seinen Schatz den Sommer nit einmal in Unterschwappach besucht? Dort war das Edelfräuln. Aber der kleine Kunz von Birkig hat erzählt, es wär nach Rudolstadt gezogen. Wird wohl zutreffen: Lange Kleider, kurzer Sinn.“
Dem Martin Bötzinger war es, als würde er mit Disteln gepeitscht. Ein Sturm der Verzweiflung erhob sich in ihm, sodaß er über die Bank sprang und hinaus ins Freie stürzte.
Aber der Wirt und die stämmige Magd mit dem Besen eilten ihm nach und holten ihn bald ein. Der Wirt hielt ihn am Arm fest, und die Magd versetzte ihm einige Streiche mit dem Besen. „Erst bezahl Er!“, rief der Wirt; „ist Er bei den Schnapphähnen in die Schul gangen? Zech Er net, wenn Er kein Geld hat! Nur wieder mit herein! Sein Stock ist noch drin und sein Hut.“
„Soll ich denn noch einmal deponieret werden?“, seufzte Martin Bötzinger. „Ich bin kein Bean mehr! Sagt, was ich zu zahlen habe! Eure Magd holt mir Hut und Stock; nur nicht wieder dahinein!“
Auf einen Wink des Wirtes entfernte sich die Magd. Bald kam sie wieder mit Hut und Stock und rief: „Hat er bezahlt, der Streuner?“ Martin hatte ohne Weigerung die Zeche seiner guten Freunde mit bezahlt, und der Wirt verabschiedete sich höflich von ihm. Die besenbewaffnete Magd zog ihrem Herrn triumphierend nach.
Der Riß in Martin Bötzinger war größer geworden: er klaffte furchtbar. Da stand nun der Heilsuchende plötzlich wie betäubt auf der Landstraße, um ihn her das aus Schnee gewobne Totenlaken ausgebreitet ins Unübersehbare. Der Schnee predigt nicht mehr den Frieden: die traurige Winterlandschaft ist die Rechnung vom großen Minus, was der Friedlose in sich trägt. Der Festungsberg hinter der Stadt beginnt sich zu recken, als wolle er in den Himmel hineinwachsen. Dann sinkt er zurück in die Erde. Alles umher schwindet. Da heben sich aus dem Nichts grüne Wiesen und Bäume und wogende Ährenfelder, und in der Brust des zerrissenen Simplicius beginnt es zu tauen. Aber mitten in das sommerliche Bild tritt der Koburger Rasen, und mitten auf dem Rasen erhebt sich ein Scheiterhaufen, und die Flammen umlodern die Sambel von Mupperg. „Weh!“, schreit der arme Bötzinger. Da ist der Sommer verschwunden, und das Totenlaken liegt wieder ausgebreitet. Und der Schnee webt zwischen Himmel und Erde. Aber aus dem Schneegewebe tritt die Schule von Mupperg, und in der Tür steht die Margret von Bindlach mit ihrer Kräuterschachtel und lächelt und winkt. „Lauf, mein geistlicher Simplicius, ehe dich das Fieber zu Boden wirft!“ Martin lief und lief. Und als er nachts in die Schule zu Mupperg trat, stieß seine Mutter einen Schrei des Entsetzens aus; denn sie meinte den Schatten ihres Sohnes zu sehen.
Es war hohe Zeit. Kaum hatte sich die Mutter überzeugt, daß sie es mit dem leibhaftigen Sohn zu tun habe, so war auch schon der heftige Fieberausbruch in ihm von ihr erkannt worden. Der Kranke wurde zu Bett gebracht. Während Frau Margret Tee kochte, holte der erschrockne Vater letztjährige Triebe vom Holunderbaum und schabte grüne Rinde, die dann die sorgenvoll geschäftige Mutter in weißem Linnen um die brennende Stirn des geliebten Kranken legte.
Aber das Fieber spottete der Begegnung. „Gebt euch keine Mühe, jetzt gehört er mir!“, pochte es in den Adern und flutete und wogte und beschwor alle feindlichen Mächte aus dem Leben des Ärmsten herauf und riß an den Fäden des jungen Herzens, daß alles, was an ihm hing, herzugestürzt kam. Das einstürmende Gewirr feindlicher und freundlicher Gestalten jagte die Seele durch die grellsten Lebensgegensätze, und die daraus entspringenden Redeausbrüche erfüllten die Eltern mit Entsetzen. Es war um Mitternacht, als der Kranke rief: „Die Sambel mit goldnen Flügeln! Sie pocht ans Fenster! Macht ihr auf! Die große Fledermaus will sie fressen!“
Frau Margret wankte händeringend zum Herd und holte glühende Kohlen; sie begann ihr Räuchergeschäft gegen die bösen Geister. Joseph Bötzinger griff zur messingbeschlagnen Postille und betete laut. Das Buch schwankte in seinen Händen.
Als Martin Bötzinger noch ein Kind war, kamen am Weihnachtsheiligabend jedes Jahres die Frau Schulzin und die Frau Dorfsmeisterin in die Schule und „putzten“ mit Frau Margret den Christbaum. Das war für diese Frauen immer ein Abend außerordentlicher Weihe und Glückseligkeit. Sie freuten sich das ganze Jahr auf diesen Abend; und weil es für sie Herzensbedürfnis geworden war, hielten sie an dem Brauche fest, auch als Martin das Elternhaus verlassen hatte. Auch zu diesem Christfest hatte Joseph Bötzinger eine junge Tanne aus dem Walde geholt, und Margret hatte für sie Äpfel und Nüsse vergoldet und Zuckergebäck in phantastischen Figuren besorgt.
Nach einer langen Nacht, die das Bötzingersche Ehepaar durchwacht hatte in Sorge um den kranken Sohn, war endlich der Morgen des 24. Dezember angebrochen, des Tages, an dem der Geist des alten Wotan sein Volk durchschauert und mit dem Geheimnis sorgender Liebe erfüllt, das sich wie ein Zauberglanz aus den alten Opferhainen fortspinnt von einer Sonnenwende zur andern. Deinen Wotan kannst du nicht verleugnen, deutsches Volk, und wer ihn vernichten wollte, müßte dich zertreten. Nach der Götterdämmerung ist dir ein Wotan aufs neue geboren in Christus; drum ist dir Christus vertrauter als andern Völkern und nicht durch Heilige entfremdet.
Wenn das Fieber einmal ausruhte, erbarmte sich sanfter Schlummer des Kranken: für die Eltern blieb die Seele unzugänglich. Der Abend hüllte die Welt in Dunkelheit, und der Küster eilte zur Kirche, um die Beleuchtung für die Christmette zu besorgen.
Die Feierklänge der Weihnachtsglocken zogen über die öde Flur und drangen von allen Seiten her auf den stillen Muckberg ein, als hätten sie den in seinem Innern hausenden Geistern die Stunde der Erlösung anzusagen. Und was im Winterbann gelegen, stieg empor in den Wurzeln und bis in die Spitzen der Zweige und trug in die Knospen die Frühlingsseelen zum geduldigen Warten, und es trat herauf in die Quellen das Wunderleben des Heils, und unter dem Schnee der stillen Flur versteckte sich in den Samenkörnern der heimliche Keimtrieb in der Hoffnung auf Lerchengesang.
Die Christmette war zu Ende, und die Schulzin und die Dorfsmeisterin traten fröhlichen Gemüts in die Schule. Ein jäher Schreck kam aber über sie, als sie ihre Freundin niedergeschlagen vor dem Krankenbett sitzen sahen. Bald kam auch Joseph Bötzinger aus der Kirche zurück, und nachdem man flüsternd seinem Herzen hin und her genug getan hatte, sagte die Frau Schulzin: „Aber den Christbaum putzen wir doch! Wenn es mit dem Herrn Martin besser wird, und er die Augen aufschlägt und den Christbaum sieht, wird er sich freuen. Und Freud macht stark.“
Die traurige Mutter nickte der Schulzin zu, und nun begann auch am Herd das geheimnisvolle Weben und Wirken des Christabends.
Der Kranke war ruhiger geworden, und die Nacht verlief so, daß sich auch die Eltern durch einigen Schlummer stärken konnten: die Frau Schulzin hatte sichs nicht nehmen lassen, für ihre Freundin Margret am Krankenbett zu wachen.
Die Hähne riefen von Haus zu Haus einander ihren Morgengruß zu; da erhob sich Frau Margret vom Lager und eilte an das Krankenbett. Die Frau Schulzin beteuerte, daß der Herr Martin sehr schön geschlafen habe, und wollte sich entfernen. Aber die Hauswirtin gab das nicht zu und bereitete vorerst ein kräftiges Warmbier, zu dem sich auch der Herr Schulmeister einstellte. Man saß in feierlicher Stille am weißen Ahorntisch, über dem der Christbaum am Nagelbohrer in der Decke aufgehängt war. Die Schulzin hatte die Baumkerzen angezündet: es war ein köstliches, weihevolles Morgenstündchen. Martin schlief fest.
Nachdem sich die Frau Schulzin verabschiedet hatte, wirtschaftete Frau Margret in Küche und Stall, und ihr Ehegespons rasierte sich und fütterte seine Hühner. Inzwischen sah eins oder das andre einmal nach dem Kranken, der ruhig weiter schlief.
Der späte Tag war angebrochen. Die Kirchenglocken läuteten zum drittenmal, und Herr Joseph Bötzinger ging, seines Amtes zu warten. Die Einwohnerschaft des Dörfchens zog im besten Staat ernsthaft zum Kirchlein. Und als die letzte Kirchengängerin, eine Jungfrau, die sich schwer von dem Christgeschenk ihres Schatzes hatte trennen können, an der Schule vorübergeeilt war, lag das Dörflein so still im Feiertagsfrieden da, als hätte unter seinen Dächern noch nie Leidenschaft und Haß gewohnt.
Frau Margret stand am Krankenbett; ihr sinnendes Auge versenkte sich in die Züge des teuern Antlitzes, als ob es aus ihnen zu lesen trachte, was in dem Herzen geschehen sei. Da schlug Martin die Augen auf. Die Strahlen der zärtlichsten Kindesliebe leuchteten aus diesem Blick, und ein verklärendes Lächeln drang als Gruß in das Mutterherz. Frau Margret faßte die Hand des Sohnes und drückte sie. Aus ihren Augen rollten Tränen.
„Mutter!“, bebte es über die Lippen Martins. Sein Blick traf auf den Christbaum, dessen Gezweig im Morgensonnenstrahl erglänzte. „Weihnachten!“
Die Mutter holte Milch und erquickte den Lechzenden. Dann erzählte sie ihm, wie er angekommen sei, und daß er im heftigsten Fieber gelegen habe, und fragte, was ihm denn Schreckliches passiert sei.
Der Kranke schlug die Augen zu und sagte: „Mutter, was mir seit Jahren passiert ist, zerreißt mir das Herz. In Jena hats angefangen, und in Birkig ists schlimmer geworden. Und in Heldburg hats wieder anders angefangen und ist noch schlimmer geworden. Zwei Gestalten haben mich berückt: sie haben mir die Seele zerrissen! Ich habe den Frieden verloren und suche ihn bei Euch, Mutter!“
Da ging Frau Margret ins obere Stübchen und weinte sich aus. Dann kniete sie nieder und betete um Frieden für ihren Sohn. Gestärkt kam sie zurück und setzte sich zu dem Kranken. „Ich wußts, daß du den Frieden verloren hast, und ich glaubte es doch nicht. Ich kann dir den Frieden nicht geben. Alle gute Gabe und alle vollkommne Gabe kommt von oben herab! Martin! Martin! Du sollst ein Diener des Höchsten werden, wie deine Großväter es waren, und du weißt nicht, wo du den Frieden suchen sollst? Wenn du an den Heiland glaubst, so mußt du wissen, wer dir den Frieden geben kann. Bete zu ihm! Ich will auch für dich beten.“
Da schlug Martin die Augen auf, und sie glänzten in heiliger Freude, und er ergriff die Hand seiner Mutter und drückte sie voll Dankbarkeit. „Habt Dank! Eine fromme Mutter vermag mehr als die Theologie.“
„Und dein Heiland wird wegnehmen, was dich berückt und gedrückt hat, und wird dir geben, was dein Herz wünschet. Er wird dir weisen, wohin dein Fuß gehen soll. Bete, Martin!“
Zu dieser Stunde war in der Seele des jungen Geistlichen ein Umschwung zur Genesung eingetreten.
Der Herr Amtsschösser ward von der Krankheit seines Hauslehrers in Kenntnis gesetzt. Etliche Tage nach dem Neujahr hielt vor der Schule zu Mupperg ein propperer Schlitten mit mutigen Pferden bespannt. Herr Andreas Götz von der fränkischen Leuchte stieg aus. Er wollte nach dem Befinden seines Hauslehrers sehen und fand ihn wieder wohlauf.
„Gott Lob, Herr Bötzinger, daß Er wieder zurecht gekommen ist“, rief der Amtsschöſſer, als er dem Martin die Hand schüttelte, „morgen früh packen wir ihn hübsch warm ein und nehmen ihn mit. Meine Bubn sehnen sich nach Ihm.“
Durch den Herrn Amtsschösser kam in die Schule zu Mupperg ein frischer Geist, und man verlebte einen frohen Abend. Am Morgen ging es unter lustigem Schellengeläute von dannen, und die Mupperger Buben stellten sich auf die Schlittenkufen, um vom Schlittenfahrtsvergnügen was wegzuschnappen.