Zwanzigstes Kapitel
Der entsühnte Adam
Der ehemalige Spitzbubenmarschall wurde auf dem Schloß zu Unterschwappach gepflegt wie ein Fürst. Den Tag über waren die Damen und der Herr von Schaumberg sorgend um ihn, in den Nächten teilten sich Hinz und der Gelbstrumpf in die Wache. So waren vierzehn Tage vergangen, und der Herr Marschall Shweigmund von Unfind war so weit genesen, daß er dem Herrn von Schaumberg mitteilen konnte, er glaube nunmehr seinen Aufbruch wagen zu dürfen. Dagegen protestierte der Schloßherr sehr ernsthaft, und er brachte seinen Gast so weit, daß der versprach, seinen Aufenthalt in Unterschwappach um acht Tage zu verlängern. – Der Herr von Unfind hatte sich seit mehreren Tagen wieder im Reiten versucht, machte nun schon ausgedehntere Morgenritte und nachmittags auch einen Spaziergang.
Der letzte von den acht Tagen, die noch in Unterschwappach zu verleben der Herr Schweigmund von Unfind sich hatte finden lassen, war angebrochen – ein herrlicher Junitag.
Und der Amtsschreiber Jonas Pürtzel in Königsberg war heute ganz gegen seine Gewohnheit morgens vier Uhr schon aufgestanden und saß mit seinem Ehegespons beim Warmbier. Aber weil das gegen die Ordnung seines Magens war, bekam er einen kleinen Hustenanfall. Er stand auf und besah sich den Himmel. „Ein charmanter Morgen! Pfingsten war auch nicht schöner. Freu mich auf Unterschwappach wie ein Kind auf den heiligen Christ.“
„Wann kommt Ihr wieder, Jonas?“, fragte seine Gemahlin.
„Wenn nichts drein kommt, erst am Sonntag abend.“
Der Herr Amtsschreiber verabschiedete sich und wanderte vergnügt von dannen. Er war seit mehreren Jahren beim Herrn von Schaumberg auf Unterschwappach der ständige Pfingstgast gewesen. An dem eben verflossenen Pfingstfest aber hatte er in Königsberg einer Hochzeit beigewohnt und seinen Besuch in Unterschwappach aufgeschoben. Und weil sich nun der Herr von Schaumberg schon etlichemal wegen seines Ausbleibens hatte erkundigen lassen, so ließ sich der Besuch absolut nicht mehr aufschieben. Als der Herr Pürtzel auf dem Schlosse ankam, war der Herr Schweigmund von Unfind mit seinem Bedienten ausgeritten, und die Damen hielten sich auf ihre Gemächer zurückgezogen: so konnte sich der alte Herr seinem Besuche ganz widmen und freute sich über die Maßen. Der Herr Amtsschreiber ward nun von dem Kriegssturm in Kenntnis gesetzt, der sich jüngst in Unterschwappach ereignet hatte, und der Hauptsache nach in die Verhältnisse der sich da aufhaltenden Damen und Herren eingeweiht. Bei der Mittagstafel ward dem Herrn Jonas Pürtzel die Ehre, vorgestellt zu werden. Nach Aufhebung der Tafel verkehrte der Amtsschreiber wieder allein mit dem gnädigen Herrn. Es gab Urkunden zu prüfen, allerhand Bücher und Schriften zu kontrollieren, zu heften und zu registrieren.
„Ja, sieht Er, Herr Pürtzel, wenn Er ein Jahr nicht da war, was es da zu tun gibt! – Hier ein sonderbar Brieflein, Herr Pürtzel!“ Der Herr von Schaumberg reichte dem Amtsschreiber ein Schriftstück dar, das von ihm mit großen Augen durchflogen wurde.
„Was sagt Er dazu, Herr Pürtzel?“
„Ein Brief des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel an seine Schwester, die Herzogin Christine! Ei, ei, ei! Das sind ja rare Dinge! Wie kommen Euer Gnaden zu diesem Dokumentlein?“
Der Herr von Schaumberg rieb sich die Hände. „Mein lieber Herr Pürtzel, es ist ohn Absicht und Wissen in die unrechte Hand kommen. Mögen nun sechzehn oder siebzehn Jahr her sein, daß die Herzogin von Sachsen-Weimar, Frau Dorothea Maria, zur Weinlese in Königsberg residierte, stand noch die alte Kemnate, und war damals der berühmte Dr. Johannes Gerhardus als Superintendent zu Heldburg investieret und introduzieret worden, so besagte Fürstin auch gern einmal hat predigen hören wollen und derohalben eine Hoffestlichkeit angerichtet, zu der dieser Geistliche berufen worden. Und die Eisenachsche Herzogin Christine, die sich damals auf der Heldburger Feste aufhielt und dem Mann Gottes sehr wohlgesinnet war, war auch erschienen, und zu den Edelleuten der Umgegend, so geladen waren, gehörte auch ich. Als ich nach aufgehobner Tafel in einem Fenster stand mit dem Hofmeister von Weimar, hob der Oberrentschreiber, der vorübergehen wollte, zu meinen Füßen dies Brieflein auf und überreichte es mir mit den Worten: „Hier! das haben Euer Gnaden fallen lassen.“ Ich steckte das Papier zu mir, ohne Acht darauf zu nehmen, sintemal ich gerade dem Herrn Hofmeister die Saufängergeschichte meines seligen Vaters erzählte. Es hatte aber vorher an derselben Stelle die Frau Herzogin Christine im eifrigen Gespräch mit dem Dr. Gerhardus gestanden, und hatte also das Brieflein wohl schon dort gelegen, als ich mit dem Herrn Hofmeister allda stehen geblieben war. Ich hatte aber des Dings ganz vergessen, und erst nach Jahr und Tag ist es mir in die Hände gefallen.“
Der Amtsschreiber Jonas Pürtzel las noch einmal den Brief mit ganz besondrer Aufmerksamkeit, dann schüttelte er nachdenklich den Kopf und sagte: „Zu seiner Zeit wäre dies für den Herzog Johann Ernst in Eisenach ein Papier von großer Wichtigkeit gewesen.“
Der Herr von Schaumberg nickte lächelnd: „Vielleicht heute noch.“
Hinter dem Apfelbaum, unter dem das gnädige Fräulein mit ihrer Laute in Konflikt geraten war, hatte vor vielen Jahren der Vater des jetzigen Schloßherrn einen berühmten Saufänger begraben und ihm ein Monument setzen lassen, das nun von dichtem Buschwerk umrahmt war. Es war ein lauschiges, kühles Plätzchen, wurde aber der Hundetradition wegen gemieden. In diesen Busch hatte sich der Herr Schweigmund von Unfind einen alten Sessel tragen lassen, auf dem er oft die Mittagsstunden verträumte. Er kehrte eben von seinem Spaziergang zurück, und weil der Abend zu schön war, ging er in den Garten; und weil es noch so schwül war, suchte er seinen alten Sessel am Saufängermonument auf, wo er bald von einem zarten dunkeln Flor dermaßen umwoben ward, daß in seinen Gliedern aller Widerstand schwand und ein schalkhafter Traum ihm seine Pflegerin Susanna an die Brust legte.
Trunkne Schwärmer umtanzten die Blumen, die glühenden Johanniswürmlein durchzogen die Dämmerung über den glühenden flügellosen Weiblein im Grase, und der hellsichtige Kauz auf dem alten Scheunendach riß die Augen weit auf und sagte zu seiner Kauzin: „Da unten geht die Erdmute mit ihrer Susanna in den Garten.“
„Du kennst mein Lieblingsplätzchen; dort unter dem Apfelbaum, wo von den dunkeln Bergen herüber das Abendgold glänzt, will ich dein Geheimnis hören.“
„Hier ist es schön. Aber du tätest besser, mir ein Lied zur Laute zu singen, als mich wieder mit deiner Neugierde zu quälen.“
Die Damen hatten sich niedergelassen, und es war eine kleine Pause eingetreten. Susanna schlug den Ton an, aus dem alle „Mysterien der Musika“ sprachen.
„Sieh doch, liebe Mutter! Das Schloß ist verschont geblieben, der Herd gewährt noch würzige Spenden, der Herr Vetter ist wohlauf, und – der fremde Ritter ist auch wieder genesen: es ist alles gut. Du hast mich von einem Tag zum andern vertröstet; der heutige sinkt wieder dahin, und ich, dein Kind, stehe immer noch und rüttle an dem Riegel deines Herzens. – Womit hab ichs verschuldet, daß du dich mir nicht erschließen willst?“
„Genug, Susanna! Es wird mir schwer, hinweg zu räumen, was das Schicksal von Anfang an bis heute zwischen uns aufgespeichert hat; aber du bist ja mündig!“
Da schwebte der Kauz wie in einem Sammetmantel geräuschlos an den Damen vorbei, so nahe, daß die Luftwellen ihre Locken bewegten. Susanna stieß einen Schrei aus und drückte sich erschrocken an ihre Mutter.
Und dem Schläfer im Rücken der Damen ward sein süßer Traum verscheucht. Aber er verhielt sich ruhig und verlor kein Wort von dem ferneren Gespräch.
„Das war ein Warner, Susanna. Ich sollte schweigen.“
„Nein, Mutter! Das nicht. Gibts nicht Vögel, deren Leben der Nacht zugekehrt ist, weil sie den Tag nicht vertragen können? Ihnen wollen wir uns nicht gesellen, und sie sollen mir den Tag nicht verkümmern, den du meiner Seele eben aufgehen lassen wolltest. Wenn es ein Warner gewesen wäre, hätte er gerufen.“
„So sei es! Du hast noch nicht nach deinem Vater gefragt“, sagte Erdmute von Schaumberg träumerisch vor sich hin.
„Mein Vater war der Lautenschläger Erasmus Schmid in Jena. Er hat mich erzogen und hat mich geliebt. Ich hab um ihn geweint und ihn betrauert. Meine Mutter hab ich nicht gekannt, und nach dem Tode des Vaters wurdest du mir Mutter – eine Mutter, die mir alles Verlorne ersetzt. Wie konnt ich fragen, da ich nichts vermißte? Wie konnt ich fragen, ohne deine Liebe zu kränken? Kannst du mirs anders sagen, wie ichs glaubte, so sag es nur: nur sag mir keinen Vater, der mich von dir reißt. Kannst du das nicht, dann schweige und behalt mich lieb.“
Erdmute von Schaumberg wurde von diesen schlichten Worten so ergriffen, daß sie die Hände fest auf die Brust preßte.
„Mein Kind, ich sag dir einen Vater, der uns auf ewig an einander kettet, der uns einen Berg von Glück auf die Schultern wälzt, der uns an einen Herd ruft – und uns umfahen will als sein rechtmäßiges Eigentum, das ihm Torheit und Aberwitz entrissen und entfremdet haben. – Kannst du das hören? Kannst du das tragen, Kind? – Mir schwindelt!“
Fräulein Susanna war aufgesprungen und stand wie versteinert vor der aufgeregten Sprecherin. Plötzlich fiel sie ihr um den Hals und preßte ihre Lippen leidenschaftlich auf den Nacken der schluchzenden Mutter. Dann streichelte sie ihr die feuchten Wangen und flüsterte: „Mutter, teure Mutter! Es lebt noch ein Vater für mich? Wo? Wann kommt er?“
„Bald, ach bald, mein Kind!“
Susanna ließ sich wieder auf der Bank nieder und schmiegte und klammerte sich an das bebende Weib wie zur Entrückung in eine neue Welt.
„Höre, mein Kind! Wie du jetzt hier als Gast weilst, so war ich einst als Gast auf dem Brandenstein. Dort wurde ich heimlich vermählt, dem Adel zum Trutz über die Kluft hinüber, die, weitklaffend, zwischen Adel und Bürger gehütet wird. Und du bist das Kind dieses Trutzes. Aber er ist gebrochen, hüben und drüben, und eins sollen wir werden. Hörst dus, mein Kind? Eins sollen die drei nun werden!“
„O, welch ein Glück! Nun nenne mir den Vater, oder nenn ihn nicht. Wenn er kommt, will ich mich an seinen Hals hängen und ihn küssen!“
„Sollsts wissen: Ich bin die Gemahlin des Landjägermeisters Eckhold, im Dienste des Reichsgrafen Günther von Schwarzburg zu Rudolstadt. Er sehnt sich nach uns und kann morgen schon kommen. Nie hab ich ihn wieder gesehen. Trennung war der Name meiner Ehe bis jetzt; Entsagung auf immer war mir zum Leben geworden. Da war ich froh, daß ich mein Kind noch an mein Herz rettete!“
„O wie hart war der Himmel gegen mich! Eine Mutter lebt mir, die ich nicht haben durfte! Eltern hab ich, und mußte als Waise aufwachsen! Wie viel Liebe und Glück ist meiner Jugend verloren gegangen! – Ach, daß uns die Flamme der Liebe, die nun so heiß auflodert, nicht verzehret!“
Die Herzen schlugen zusammen in Hoffnung auf goldne Tage, und es ward still und feierlich, daß in der Krone des alten Apfelbaumes die jungen, wolligen Früchtchen als Lebensknoten der Idun entgegenträumten, als wären tausend Jahre nicht gewesen.
„Susanna!“, flüsterte die Mutter, „wüßtest du, wer dem Vater die Sehnsucht weckte, daß ihr Sturmflügel gewachsen sind, und sie sich aufbäumte und mit dem Mut paarte, daß er den offnen Kampf mit dem Vorurteil und dem Dünkel aufnahm und in stolzer Entschiedenheit für sich forderte, was sein eigen ist! Susanna – das hat Martin Bötzinger vermocht.“
Susanna schwieg lange. Sie schwebte über die Berge und durch die Nacht und fiel in den Morgen. Sie stand auf der Höhe, und Nebel wallte auf und nieder, und verschleierte Nebensonnen tanzten darinnen. Wenn der Nebel zerriß, sah sie Martin Bötzinger stehen in einem Sonnenschleier, aber ein Nebelhaufen verschüttete ihn; und wenn der Nebel wieder zerriß, sah sie einen jungen Ritter mit blutendem Haupte stehen im Goldglanze der reinen Sonne; aber Kriegsfeuer hüllte ihn in schwarzen Pulverdampf.
In gedehntem, singendem Tone fragte Susanna: „Kennst du ihn?“
„Wohl kenne ich ihn. Aber ach, ich habe in meinem Wahn jedes Band zwischen ihm und uns zerrissen. Am Tage vor unserer Abreise von Mupperg geschah es bei einer zufälligen Begegnung am Muckberg, als er mich wieder erkannte und an den Unfall erinnerte, der mich vor vier Jahren auf meiner Reise zu dir bei Jena während eines Gewitters im Walde getroffen hat, wobei er und noch ein andrer Student mir in gar löblichem Eifer Hilfe geleistet haben. Dort am Muckberg hat er mir erzählt, wie er deinen Vater kennen gelernt und seine Liebe und sein Vertraun gewonnen hat also, daß es zwischen beiden kein Geheimnis mehr gibt, und – daß er dich im Herzen trage. Da erklärte ich ihm, daß er als ein Bürgerlicher auf unser Blut verzichten müsse. Wie ihm dann die letzten Fasern der Hoffnung durch die Base in Mupperg aus dem Herzen gerissen worden sind, hast du selbst erleben müssen. Und der Vater hofft, wie ich zwischen den Zeilen seines Briefes gelesen habe, uns die größte Freude in seinem Freund Martin Bötzinger erschließen zu können! – Wirds nicht zu spät sein?“
Die Nebel kommen wieder mit ihren Nebensonnen, und in den Nebelrissen dieselben Gestalten. Zu spät! Martin Bötzinger bleibt verschleiert: Marschall Schweigmund von Unfind, der frische, mutige, galante Ritter, strahlt im Sonnenglanz des Sieges.
Erdmute von Schaumberg hatte sich getäuscht. Ihre Erinnerung an Martin Bötzinger und ihr Hinweis auf die Hoffnung des Vaters brachten Susanna weder in schmerzliche noch in freudige Erregung; sie blieb still.
Still verließen die Damen den Garten.
Da erhob sich Marschall Schweigmund von Unfind und stieß murrend durch die Zähne: „Bötzinger! Und immer wieder Bötzinger!“ Dabei schlug er mit dem Degen an das Saufängermonument. „Dieser Name heftet sich mir als Fluch an die Fersen. Und dieser Fluch trieb mich vom Herzog und ins Elend und warf mich in die Folterkammer. Dieser Fluch schleudert mir den Freund in den Weg zur Geliebten. Er muß aus dem Weg, wenn ich ihn nicht überschreiten kann! Dieser Fluch stellt mir den Mann, der einst die Büchse auf mich anlegte, in den Weg zur Geliebten. Aber er muß hinaus aus dem Weg! Dieser Fluch jagt mich als einen Verbrecher in die Flucht. Aber ich komme wieder. Wehe über euch Bötzinger!“
„Laß die Bötzinger ungeschorn!“, schnitt es ihm plötzlich in die Seele. Die Gestalt der Lindenelsa tauchte vor ihm auf.
Raschen Schrittes durchmaß er den Garten nach allen Richtungen. Er blieb stehen vor der Bank, wo vorhin in herz- und markerschütternden Eröffnungen zwei Frauenleben zusammengeronnen waren. „Morgen schon kann er kommen. Er darf mich nicht erblicken, sonst ist alles verloren. O, dieser Fluch! Aber ehe ich fliehe, muß sie wissen, daß hinfort mein Leben ihr geweiht ist. O, selige Augenblicke!“ Er sank nieder auf die Bank. „Wenn sie mir den kühlenden Verband anlegte, und ihr Odem meine Wangen umspielte; wenn sie das Fieber beobachtete und mir die Hand auf die Stirne legte; wenn sie mir den Trank reichte, und ihr holdes Auge in das meine traf: wie glücklich war ich! Als ich ihr trauerndes Haupt niederbog, daß ihre Lippen die meinen berührten, ließ sies geschehen, und es war, als hätt ich ihr ein unvergängliches Lächeln ins Antlitz geküßt.“
Leichte Tritte vom Pförtchen her unterbrachen das Selbstgespräch des Marschalls Schweigmund von Unfind. Er erhob sich, und im nächsten Augenblick blieb einige Schritte vor ihm eine weibliche Gestalt wie versteinert stehen.
„Guten Abend, gnädiges Fräulein!“, grüßte kaum vernehmbar der Herr Marschall und näherte sich der Gestalt.
Susanna hatte ihrer Mutter auf dem Korridor Kopfschmerz geklagt und von ihr den Rat erhalten, sich zur Ruhe zu begeben. Aber hinter dem Zabelstein war eine schwarze Mauer aufgestiegen, und die Schwüle schien zuzunehmen. Susanna hatte sich des beengenden Modezwanges, in den der Tag die Menschen bannt, entledigt und hatte dann wie erleichtert aufgeatmet. Welche Wonne müßte es gewähren, so leicht und zwanglos den schwülen Abend im Freien zu genießen! In ein leichtes Nachtgewand gehüllt, hatte sie dem dumpfen Zimmer den Rücken gekehrt und sich wieder in den Garten begeben.
Herr Schweigmund von Unfind küßte ihr die Hand. Da zuckte es wie Feuer durch die leicht umhüllten Glieder, und Susanna flüsterte: „Es macht mir bange, daß ich Euch hier finde, edler Ritter.“
„Hättet Ihr mich nicht hier gefunden, so wär ich heute noch zu Euch gekommen; denn ich muß Abschied von Euch nehmen, da ich morgen mit dem Frühesten abreisen werde und Euch nicht zu früh am Tag stören darf“, entgegnete der Ritter, in dessen Hand noch die des gnädigen Fräuleins ruhte.
Er wandte sich der Bank unter dem Apfelbaum zu, und das trunkne Mädchen folgte ihm willenlos. Zu den jungen, wolligen Früchten in der Baumkrone stiegen heiße Seufzer auf.
„Was treibt Euch hinweg von hier? Nun Ihr genesen seid, sollte Euch vergolten werden, was Ihr für uns gelitten habt.“
„Edles Fräulein, ach, teure Susanna! Wäret Ihr allein in der Welt und ich – ich begehrte nimmer, mich von Euch zu trennen!“
„So verzeiht mein Vergessen, edler Ritter! Ich dachte nicht daran, daß es ohne mich noch Frauenaugen gibt.“
„Gnädiges Fräulein, auch ich hatte vergessen, daß es noch Männer gibt außer mir. Nun weiß ich einen, der Euerm Herzen nahe ist. Aber beim Himmel, ich weiß keine Frauenaugen ohne die Euern!“
„Ihr wißt einen?“, sang beinahe Susanna; „wie wißt Ihr ihn? Sagt, was soll das bedeuten?“
„So hört, wie ichs hörte! In dem dichten Gebüsch da hinter uns suchte ich seit einigen Tagen zur Mittagszeit Schlummer im Kühlen. Weil der Abend heut so schwül ist, suchte ich auch nach meinem Spaziergang mein Plätzchen auf und entschlief. Ein Schrei von Euch erweckte mich, und ich vernahm, was Eure Mutter Euch kund tat. Da hörte ich auch von dem einen, von Martin Bötzinger, hörte von Hoffnung.
Und das heiligste Geheimnis meiner lieben Mutter! Und nun wollt Ihr gehn. ich erschrecke nicht wegen des Zufalls, denn Frauengeheimnisse müssen am besten verwahrt sein in der Ritterbrust. Den Bötzinger hab ich gekannt; aber als ein Feigling ist er mir in der Erinnerung, als ein Feigling, den Frauenzungen in die Flucht schlagen.“
„So wollt Ihr mir Hoffnung machen? Wißt denn, daß der Bötzinger um eine andre freit, um Ursula Böhm in Heldburg. Nehmts als aus eines Ritters Mund! Und so sind wirs allein, Susanna?“
Ein sanfter Windhauch strich durch die Baumkrone, und die jungen, wolligen Früchte erzitterten.
Susannas Haupt war dem Geliebten auf die Schulter gesunken. Der Sturm der Leidenschaft durchtobte ihn; er riß die Geliebte an sich, sprang auf, und sie hing in seinen Armen und berührte den Boden nicht mehr. Unter ihren Füßen war die Vergangenheit entschwunden und die Scholle Unterschwappach. Und wie er so da stand mit der schwellenden Last an dem Herzen, als fordre er die Welt heraus zum Kampf um diese zitternde Jungfrau: da wetterleuchtete es hinter dem Zabelstein. Aber er trotzte auch dem Himmel und stand noch Minuten so.
Dann ließ er sie sanft auf die Bank nieder und umschlang ihren Nacken und fragte: „Weißt du noch einen?“
„Nein!“, klang es von den süßen Lippen.
„Willst du mir treu bleiben, bis ich komme – nach Rudolstadt?“
„Ja! Auf ewig!“
Das alles hatte der Kauz nicht gesehen und gehört, weil er mit seiner Kauzin auf Raub aus war; die Johanniswürmlein zeichneten ihre feurigen Bogen in die Nacht; die Schwärmer umtaumelten die Blumen; es wetterleuchtete; im Bache schnalzten die Forellen, und die Nachtigall schluchzte in Sehnsucht: – Sommernachtleben!
Aber unter dem Apfelbaum ward ein Treuglöbnis besiegelt durch lange Küsse, ward ein Abschied geheiligt durch heiße Zähren.
Zur Erinnerung an die Belagerung von Unterschwappach hatte der Herr von Schaumberg seinen Schlachtplan an der innern Seite der Tür seines Schlafgemachs mit Wachs aufgespannt; die Zipfelmütze, in der er bei der Reveille auf dem Schloßhof erschienen war, hatte er – weil er sich gelobt hatte, sie nie wieder aufzusetzen – auf sein Blasrohr gestülpt und dieses in einem Raritätenschrank zum ewigen Andenken aufgestellt.
Er saß in seinem Zimmer und schrieb, als der Herr Marschall Schweigmund von Unfind sich zum Abschied anmelden ließ. Frau Erdmute schlief noch. Susanna war eben – ganz gegen ihre Gewohnheit – zu einem Morgenspaziergang durchs Tor geschlüpft, und auch Herr Jonas Pürtzel rüstete sich auf seinem Zimmer zu einem Gang ins Freie.
„Gott zum Gruß! Ihr scheint mir fast ein Gelehrter. So früh find ich Euch beim Schreibzeug sitzen?“
„Zeichne da Eure Ehre, Herr von Unfind! Eine Chronika, so sich betitult: Historia von der gewaltigen Schnapphania Ansturm auf Schloß Unterschwappach in Absicht der Plünderung und greulichen Verwüstung; oder des Generalissimi Schweigmund von Unfindi fürsorgliche und weise Verteidigung selbigen Schlosses Anno Domini 1624 am 19. Tage des Junii – als ein Denkmal gesetzet allen zu Ehren, so sich in Treu und Tapferkeit lobesam bewähret, insonderheit dem hochpreislichen inventiösen Generalissimo, so bei solcher schlimmen Affaire am Kopfe verwundet worden und zum Tode darniederlag, aber durch Gottes gnädige Hand wieder zu frischer Gesundheit ist aufgerichtet worden.“
„Zu viel Ehre, gnädiger Herr! Aber Eure Güte steht mir tief im Herzen geschrieben; und sollte sichs fügen, daß ich Euch einmal wieder nützlich sein kann, so soll das nit klecken, was hinter uns liegt. Und nun lebet wohl! Gott erhalte Euch Euerm Haus und diesem Ort noch lange rüstig!“
„Hättet heut nit abreisen sollen; der Freitag ist ein Unglückstag!“
„Glück und Unglück hängt nit an den Tagen. Das verhängt der Himmel.“
„Und wo denkt sich Euer Liebden ritterliche Fahrt hin zu wenden?“
„Nach Eisenach zum Herzog Johann Ernst.“
„Ei, so wartet ein wenig, daß ich Euch ein Dokumentlein verehre, das mir vor vielen Jahren der Zufall in die Hand gespielet hat. Das nehmt mit gen Eisenach!“
Der Herr von Schaumberg holte aus seinem Aktenschranke das Brieflein des Landgrafen Moritz an seine Schwester Christine und legte es in die Hand des Herrn Marschall Schweigmund von Unfind mit den Worten: „Hier, dies Brieflein meine ich. Es ist von nun an Euer Eigentum. Und so Ihr gen Eisenach kommt und verehrt dieses dem Herzog Johann Ernst, so wird er Euch als einen Eingeweihten zu ehren wissen und Euch dankbar sein.“
Als sich die Herren die Hände zum Abschied geschüttelt hatten, und der Herr von Unfind durch die Tür schritt, trat Hinz zu dem Herrn von Schaumberg und sagte: „Gnädiger Herr, uns war das ein Spaß! Aber laßt Kugeln gießen für Eure Geschütze, sonderlich für das Orgelgeschütz! Dann – so wahr ich Hinz heiße und zum Konstablieren geboren bin – dann mach ich – wenns wieder kommt – große Löcher in die Reihen und schieß die Kerle zusammen wie Rüben!“
Daß Hinz für den „Stolz“ des Herrn von Unterschwappach, das Orgelgeschütz, ein solches Verständnis an den Tag legte, brachte den Alten so in Rührung, daß ihm die Tränen über die Wangen rollten, als er ihm die Hand zum Abschied drückte.
„Echtes Ritterblut! Wie aus alten Zeiten erstanden!“, murmelte der Schloßherr, nachdem er die Scheidenden bis ans Tor geleitet hatte und zur Fortführung seiner „Historia Schnapphania“ wieder die Feder ergriff.
Zwischen Hofheim und Haßfurt war es, als Hinz seinem voranreitenden Herrn zurief: „Herr Schweigmund von Unfind, es scheint uns ein Fuhrwerk zu begegnen; da wär es gut getan, wir achteten auf eine Gelegenheit, aus dieser Hohlgasse zu kommen.“
„Mit dem Löwengold und der Schwarzhenne reiten wir dem Wiesel nach, wenns sein muß, aber nicht der Gelegenheit“, gab der Herr zurück.
Bald hielt auf Pistolenschußweite eine Kutsche angesichts der Reiter, und der Gedanke, hier halte wohl gar der Landjägermeister von Rudolstadt, schoß als ein Blitz aus des Marschalls Gehirn durch seine Sporen dem Löwengold in die Weichen, sodaß das edle Tier in furchtbarem Ansturm die steile Böschung erklomm und davonsauste, ihm nach die Schwarzhenne.
„Sternelement!“, riefs aus der Kutsche, „will nicht Eckhold heißen, wenn das nicht der Satan auf des Löwenwirts Fuchs war! Wenns sein muß, reiten die Kerl an einem Kirchturm hinauf. Fahr zu! Alter! Da hilft alles nichts! Bon! spricht der Burgvogt von Rauenstein, mein Schwäher. Und da will mir der Student noch Flausen machen, will diesem Kerl noch die Stange halten! Wenns nicht gerade des Löwenwirts Fuchs wär, könnt ich mich ärgern. Aber ich säh doch lieber einmal den Löwenwirt auf der Brunnröhre, wie den Kerl da auf dem Fuchs, diesen abgefeimten – na, mag der Bötzinger sagen, was er will, hier gehts nicht mit rechten Dingen zu!“
Der Herr Landjägermeister von Rudolstadt zankte noch lange in seiner Kutsche fort und dachte nicht mehr an den schlechten Weg, der ihn hinüber und herüber warf.
„Ist das da endlich Haßfurt?“, fragte der Herr Landjägermeister seinen Kutscher.
„Jawohl, gnädiger Herr!“, rief dieser zurück, „und das war Sylbach.“
Da jetzt der Wagen hübsch ruhig ging, wandte sich der Kutscher zur Seite und sagte: „Gnädiger Herr! Das war ein dummer Streich, daß ich nächten net über Heldburg gfahrn bin.“
Der Herr Landjägermeister zeigte nicht Lust, auf ein Gespräch einzugehen, und schwieg. Bald aber räusperte sich der Wagenlenker und sagte treuherzig: „Seht, gnädiger Herr! 'S war 'n kleiner Umweg; drum wollt ichs net riskiern. Aber ich ärger mich doch, daß ich Heldburg net mitgenommen hab! Ihr hättets net gemerkt, wenn ich a Stündla umgefahrn wär.“
„Umgefahrn?“, fuhr plötzlich der Herr Landjägermeister auf, „umgefahren wird nicht! Schade um jede Stunde! Hast du einen Schatz in Heldburg, Alter?“
„Das net, gnädiger Herr, aber nen Sohn. Er ist Pferdeknecht beim Stadtrat Böhm. Und wenn mir einmal die Zügel aus den Händen falln, wird er Kutscher beim Herrn Burgvogt. Das ists, gnädiger Herr. Wie wärs, wenn wir retour Heldburg mitnähmen?“
„Er ist ein Hasenfuß mit seinem Heldburg. Aber retour mags schon sein! Da kommts auf etliche Stunden Umweg nicht an. Bon! spricht der Burgvogt von Rauenstein, mein Schwäher.“
„Gnädiger Herr, Ihr seid mein Mann! Ei, ei! So wirds gemacht. Gott segn Euch für Eure Güte! So eine schöne Fahrt hab ich noch net gemacht, wie mit Euch, wahrlich net!“
Auf der Mainbrücke, die acht Jahre darnach von den Schweden abgebrannt wurde, mußte der Kutscher halten.
„Der Main!“, rief der Kutscher.
„Dacht mirs“, entgegnete der Herr Landjägermeister; „ist tiefer als die Saale, aber an der Saale ists schöner. Die Saalspiegelung ist doch was ganz andres! Fahr zu! – Haßfurt und Rudolstadt! Was denkt ihr denn, ihr Franken? Ja, Rudolstadt mit seiner Saale! Das Haßfurt liegt ja da wie eine Backschüssel ohne Stiel; und der Main weiß nicht, ob er fließen oder stehen soll und sieht aus, als stänk er nach faulen Fischen. Ja, Rudolstadt! Das guckt zu seinen Bergen auf wie ein Kind in der Wiege, wenn es ausgeschlafen hat, zu seiner Mutter. Und die Saale - ja, die Saale ist lebendiges Wasser, man möchts gleich trinken. Bon! spricht der Burgvogt von Rauenstein, mein Schwäher. Was wird seine Tochter sagen, meine Erdmute? Und was wird meine Tochter sagen, die Susanna? Am hellen Mittag tret ich ihnen vor die Augen; sie solln mich gleich im rechten Licht haben. Man könnt den Verstand verliern vor Freud – hols der Geier! Ist das Unterschwappach?“
„Nein, gnädiger Herr! 'S ist Steinsfeld.“
„Daß dir doch der gnädige Herr im Hals stecken blieb, alter Schelm! Wenn die Kutscher Kaiser wärn, pfiffs anders bei den Eseln. Und wenn der Kaiser ein Kutscher wär, würd alle Welt geadelt. Wie weit ists noch nach Unterschwappach?“
„Jetzt kommts, gnädiger Herr! Ihr habts bald überstanden.“
„Als läg ich just im Sterben! Nein, alter Junge, unter meinem Brustlatz gehts noch hoch her!“
Zwischen Steinsfeld und Unterschwappach ließ der Herr Landjägermeister halten und stieg aus.
„Da ich nun einmal nicht zu Roß sein kann, will ich zu Fuß einziehn. Ich mag nicht wie ein Invalide oder eine alte Frau in der Kutsche ankommen. Fährst mir fünfzig Schritt hinten nach, Alter!“
Er brach sich einen Eichenzweig und steckte sich ihn auf den Hut. Einen zierlichen Degen an der Seite, in der Rechten ein silberbeschlagnes Rohr, schritt er dem heißersehnten Ziele zu: Die Grasmücken im Gebüsch am Bach, die Lerchen in der Luft und die Grillen im Gras sangen ihm Hochzeitslieder entgegen. Der Herr Landjägermeister war in Unterschwappach unbemerkt über den Schloßhof gekommen und freute sich darob; denn er wollte die „Frauenzimmer“ überraschen. Er sah den Treppenkopf, den Hinz nach dem Kugelgießen umstürmt hatte, lächelnd an wie einen alten Bekannten. Und das war er auch beinahe; denn er ähnelte dem am Rudolstädter Schloßtreppengeländer wie ein Ei dem andern.
Da kam, ein muntres Stücklein pfeifend, der gelbstrumpfige Diener im weiten violetten Sammetplüschrock die Treppe herab.
„Was soll das Pfeifen? Ich will nicht verraten sein“, sagte der Landjägermeister, „führ Er mich zu den Damen von Rauenstein!“
„Zu welcher zuerst?“
„Zu allen beiden zugleich!“
„Herr, das kann nit sein! Ihr könnt nur zu einer kommen.“
„Er ist ein Hasenfuß! Halt Er mich nicht auf! Ich will zu beiden!“
„Die Mutter ist auf ihrem Zimmer, die Tochter im Garten: will Er zur Mutter, lauf ich in den Garten zur Tochter – will Er zur Tochter, lauf ich zur Mutter.“
„Er hat durchaus nicht zu laufen! So führ Er mich zur Mutter! Die Tochter wird schon kommen, wenns Zeit ist.“
„Gut, Herr! Er sieht zwar reputierlich aus; aber ich kann Ihn weder zur Tochter noch zur Mutter führn.“
„Was soll das heißen? Er will mich wohl uzen?“ Der Herr Landjägermeister griff an den Degen.
„Herr, laßt Euer Eisen stecken! Wenn ich Euch auch nicht für einen Abgesandten des langen Christophels halte, so gibts doch außerdem noch manchen Kujon im Reich. Sagt, wer Ihr seid!“
„Ich mit meinem guten Recht soll Ihm sagen, wer ich bin? So gut ich Ihm ansehe, daß Er ein Hasenfuß ist, muß er mir ansehen, daß ich kein Kujon bin! Versteht Er mich?“
Des Landjägermeisters Stimme war immer vernehmlicher geworden und zu des Schloßherrn Ohr gedrungen, sodaß dieser das Federrohr bedächtig auf seine Chronika Schnapphania niederlegte, sein Zimmer verließ und auf der Treppe erschien.
„Nun bin ich verraten durch dieses Hasenfußen Albernheit“, rief der Landjägermeister und wollte die Treppe hinauf stürmen zur Umarmung des Vetters. Aber er ward von hinten gepackt und fest gehalten.
„Sternelement, der Kerl ist übergeschnappt!“, rief Eckhold.
„Gabriel! Laß los! Gut Freund!“, rief der Herr von Schaumberg herunter.
Da ging der Gelbstrumpf im Plüschrock von dannen in die Gesindestube, sein Stücklein weiter pfeifend. Er hatte seine Schuldigkeit getan; denn sein Herr war nach der Schloßbestürmung durch die Schnapphähne ängstlich und sehr vorsichtig geworden und hatte dem Gabriel Ordre gegeben, alle Fremden, die aufs Schloß kämen, gehörig zu rekognoszieren.
Nachdem sich die Herren begrüßt und umarmt hatten, sagte Eckhold: „Hochachtbarer, ehrenfester Herr Vetter! Ihr werdet mir wohl nicht gram, wenn ich Euch um einstweilige Entlassung bitte; ich muß geschwind die Erdmute sehen. Es hat mir schon zu lang gedauert. Wo ist ihr Zimmer?“
Der Herr von Schaumberg bezeichnete dem aufgeregten Landjägermeister die Tür zu Erdmutens Zimmer und zog sich zurück. Der Schloßherr wartete mit Ungeduld auf den Herrn Amtsschreiber Jonas Pürtzel, den er auf den Zabelstein geschickt hatte zur Aufnahme eines Situationsplans von der Lagerstelle der Schnapphähne. Die Spuren des Lagerfeuers sollten ihm als Anhaltepunkte dienen. Der Herr von Schaumberg hielt dafür, dadurch ein wichtiges Blatt für seine Chronika Schnapphania zu gewinnen.
Leise auftretend näherte sich der Herr Landjägermeister der ihm angewiesenen Tür, hielt das Ohr ans Schlüsselloch und horchte einige Sekunden; dann öffnete er leise. Die schöne Dame war in ihren Polsterstuhl zurückgesunken: ein sanfter Schlummer hatte die Glieder in anmutiger Fülle wie für einen Maler zurecht gelegt, und die langen Wimpern schwebten als leichte Schatten über den Wangen.
Der Überraschte stand wie verzaubert vor der Schönheit und faltete die Hände; sein Atem stand still. „Erdmute!“, seufzte er verhalten. Da waren die Schatten über den Wangen weg. In das große, dunkle Auge fiel die Gestalt des geliebten Mannes. Im nächsten Moment flammten beider Seelen durch die Augen in einander. „Erdmute!“, rief tiefbewegt der Landjägermeister und eilte mit ausgebreiteten Armen in das Zimmer; und mit einem Schrei stürzte sich die Dame an die breite Brust.
Da taten sich die Gräber auf im weiten deutschen Reich, und Tausende um Tausende stiegen auf und huschten zu den Höhen empor. Und es wogte und wallte und sonderte sich in zwei große Haufen. Die fuhren gegen einander und schrien: „Hie Adel! Hie Bürger!“ und fuhren durch die Lüfte wider einander, und mitten im Reich, über dem Schloß zu Unterschwappach stießen sie auf einander. Das gab ein jämmerliches Prasseln, und die Kampfhaufen zerstoben in Staub und Asche, und ein Platzregen warf den Staub zur Erde und verwandelte ihn in Schlamm, worin Kröten und feiste Salamander in schwerfälliger Wichtigkeit wandelten.
Aber in Verklärung erhaben über dem Schlamm hielten sich der Bürger Eckhold und die Gnädige von Schaumberg in Siegesseligkeit umfangen.
Unter dem Apfelbaum im Garten weinte in Sehnsucht Susanna. Da kam das „Reibeisen“ und schnatterte vertraulich: „Gnädiges Fräulein, Ihr seid so traurig, und der Gabriel hat zum Henner gesagt, es wär ein Fremder ankommen, der habe beide Damen zugleich sprechen wollen, und darüber wärs beinah zur Balgerei gekommen, und nun wollt ers Euch grad net melden. 'S ist ein Pavian, der Gabriel, und protzig ist er, daß es drüber naus ist. Aber weil er in des Herrn altem Rock steckt, denkt er, er wärs.“
Mit einem Schrei der Überraschung sprang Susanna auf. Ihre Mutter schritt einher am Arm des Fremden. Das „Reibeisen“ fuhr herum und schlich sich schnell davon. Aber es mußte sich doch noch einmal umsehen; und da sah es, daß sich Susanna am hellen lichten Tag an des Mannes Hals hing und ihn wiederholt küßte, schlug die Hände zusammen und eilte in die Gesindestube an die Seite des invaliden Henner und tröpfelte ihm grünen Schafgarbesaft auf die Wunde.
In die Adern des Herrn von Unterschwappach war wieder fröhliche Unruh gekommen, sodaß er seine Chronika Schnapphania hinter Schloß und Riegel brachte. Das Küchengesinde mußte sieden und braten, das Stubenmädchen den Speisesaal säubern und mit Blumen schmücken, Gabriel hatte seinen Herrn zu frisieren und ihm den Ritterstaat anzulegen.
Der Herr Jonas Pürtzel hatte in Schweinfurt ein wichtiges Geschäft für den Herrn von Unterschwappach zu besorgen. Vor Mitternacht war auf seine Rückkunft nicht zu rechnen.
Gegen Abend stolzierte der Ritter von Schaumberg im Speisesaal, in dessen Mitte eine wohlbesetzte Festtafel prangte, auf und ab und erwartete seine Gäste. „Er soll seinem Reichsgrafen Unterschwappach loben. Mein Haus soll einem gräflichen sich nicht hintan setzen. Und zur Hochzeit soll mein Orgelgeschütz aufspielen. Schade, daß der Hinz net mehr da ist!“
Das Selbstgespräch des Herrn von Schaumberg wurde durch die eintretenden Gäste unterbrochen.
„Ah, hier ist gut sein, mein ehrenfester Herr Vetter!“, rief der Landjägermeister und schüttelte vergnügt dem Schloßherrn die Hand. Und die Damen bewegten ich liebkosend um die beiden Herren.
„Setzt euch, ihr Kinder! Ein ganz kleines Präambulum zur Hochzeit!“, schmunzelte aufgeräumt der Herr von Schaumberg.
„Halt nicht gern lang hinter dem Berg mit meinen Angelegenheiten, Herr Vetter!“, versetzte darauf der Landjägermeister, „und will Euch nur gleich reinen Wein einschenken, ehe wir uns setzen. Euer Bäslein Erdmute ist längst mein Ehegemahl. Vor einundzwanzig Jahren ist sie mir in Form alles Rechtens angetraut worden durch einen Priester, fest und untrennbar, auf dem Brandenstein, heimlich freilich und gegen den Willen des Vaters. Aber nun ist der Trutz gebrochen, und wir treten zusammen als die vor Euch und alle Welt, die wir längst vor Gott waren. Erdmute von Schaumberg ist von heute an die Frau Landjägermeisterin Eckhold von Rudolstadt, wo unser Ehebrief wohlverwahret auf dem Schloß liegt. Er soll das erste Geschenk sein, das unsre Tochter aus unsrer Ehe empfängt, wenn wir an unsern Herd kommen.“
Der Herr von Schaumberg machte zu dieser Eröffnung ein langes Gesicht, weil er sich um die Ausrüstung der Hochzeitsfeier betrogen sah. Aber bald trat ihm der Glanz eines guten Einfalls in das Gesicht, und freudig rief er aus: „Kinder, eure Hochzeitsfeier ist immer noch nachzuholen, sintemal eure Eheschließung heimlich war, eine Hochzeit aber laut und offenbarlich, vor aller Welt Augen und Ohren in Vergnügen und Fröhlichkeit ausgerichtet sein will. Derowegen und in Ansehung meines Alters, das mich nicht hoffen lassen will, euch wieder zu sehen, bleibe ich bei meinem Vorhaben, in Unterschwappach euch zu Ehren ein Fest anzurichten, wie solches Kind und Kindeskinder nicht wieder sehen sollen.“
„Eine Festlichkeit, wie Ihr sie vorhabt, liebwerter Herr Vetter, möchte sich wohl ziemen, wenn sie unsrer Susanna da gälte; aber uns frommt stilles Genießen. Unser Glück nach langem Leiden ist so blank wie ein Dukaten, der aus der Münze kommt; wir wollen es nicht gleich durch viele Hände laufen lassen: es könnte an seinem stillen Glanz verlieren. Mir ist, als sollte ich die Fenster zuhalten, daß nichts Fremdes herein und nichts von unserm Glück hinausfahren könnt. Und nun wollen wir uns zum frohen Mahl niederlassen. Das soll unsre Hochzeit sein.“
Der Herr von Schaumberg wandte sich nun in feierlichem Ton an den neuen Vetter und sein Bäsle also: „So nehmt nun als ein prächtiges Braut- und zugleich Ehepaar meinen Segen und meine heißesten Glückwünsche! Ihr habt meinen Vetter in Rauenstein vormalen umgangen und den Satzungen des Adels getrutzet; aber Jakob und Rahel sind in ihrer Treue und Geduld gegen euch noch dahinten blieben, sintemal sich bei euch zweimalsieben in dreimalsieben gestrecket hat. Und dieweil Ihr stärker seid als mancher Edelmann – mein lieber Vetter! – und tapferer, denn mancher Ritter im Dienste der Frauen, mög euch das als ein echter Adelsbrief angerechnet sein.“ Gerührt umarmte er den Herrn Landjägermeister und küßte sein Bäsle auf die Stirn. Und nun wandte er sich an Fräulein Susanna: „Du aber, mein liebes Kind, bist aus einer Pflegetochter plötzlich vor meinen Augen in ein Familienglied umgewandelt und stehest vor mir als ein liebliches Wunder treuer, köstlicher Liebe, wie sie heutzutage auf Burgen und Schlössern rar ist. Gott segne dich!“ Und er küßte das bebende Kind ebenfalls auf die Stirn.
Sie hatten sich kaum zur Tafel niedergesetzt, als des Schloßherrn Trompeter zur Ermunterung der Abendandacht von der Mauer bliesen: „Allein Gott in der Höh sei Ehr!“
Das war für den Herrn Landjägermeister eine große Überraschung. Aber schon in die zweite Zeile des Chorals stimmte er leise ein: „Und Dank für seine Gnade!“ Für die dritte Zeile gesellte sich die Stimme der Frau Landjägermeisterin dazu: „Darum, daß nun und nimmermehr“ – und darnach trat auch noch der Gesang der Susanna im Diskant und der des Herrn von Schaumberg als Baß hinzu; und sie sangen zusammen weiter:
Uns rühren kann kein Schade:
Ein Wohlgefalln Gott an uns hat,
Nun ist groß Fried ohn Unterlaß,
All Fehd hat nun ein Ende!
Der Choral hatte die Gemüter in eine festliche Stimmung erhoben, und der Herr Landjägermeister sagte: „Das war das rechte Hochzeitslied für uns! Daß Eure Fürsorge, liebwerter Herr Vetter, auch auf Festtrompeter gefallen ist, das grenzt ans Fürstliche! Wohl hättet Ihr das sparen können; aber das Lied tat mir so wohl, daß ich Euch das nimmer vergessen kann.“
„Herr Vetter!“, erwiderte der Schloßherr, „das sind meine Trompeter. Sie haben jahraus jahrein den Morgen- und Abendsegen zu blasen, und es dünkt mich das eine feine Disziplin zur Frömmigkeit und Ehrbarkeit für Jung und Alt, Herr, Bauer und Knecht.“
Zur Respektsbezeugung verneigte sich der Herr Landjägermeister vor dem Vetter und versicherte: „Um so fürstlicher, so das Eure selbsteigne Institution und capella ist. Es möchten wohl Trompeter nicht einen bessern Beruf haben als solchen.“
Der Schloßherr fühlte sich geschmeichelt und erzählte: „Der Herr Schweigmund von Unfind, so heute abgereiset, hat meine Trompeter auch einen feinen, lieblichen Brauch genannt.“
„Ist der Herr von Unfind ein Verwandter oder sonst nur ein Bekannter von Euch?“, fragte Herr Eckhold.
Und nun erzählte der Herr von Schaumberg von dem Fremden und von seinem Krieg und wußte den Herrn von Unfind nicht genug zu rühmen. Und die Damen erzählten von der schweren Verwundung und von ihrem Pflegeamt und rühmten ebenfalls den Herrn Marschall Schweigmund von Unfind über die Maßen; Susannas Schilderungen aber waren überschwänglich und grenzten an Schwärmerei.
Der Herr Landjägermeister gab seiner Verwunderung Ausdruck durch ein öfteres: „Aha!“ Aber bei jeder Wiederholung klang das „Aha!“ mehr nach dem Ausruf eines Entdeckers. Er war sich bald klar über den Herzenszustand seines Töchterleins. Der Gedanke an den Freund Martin Bötzinger drängte sich im schwarzen Flor zwischen diese Ruhmessalven auf den fremden Ritter und begann an der Feststimmung des Landjägermeisters zu zehren.
Bei den Worten des Herrn von Schaumberg: „Als heut früh der stolze Fuchs und der mutige Rappe den Herrn von Unfind und seinen Leibjäger Hinz durchs Tor trugen, geschah mir Leid!“ ward der Herr Landjägermeister blaß und fuhr von seinem Sitz in die Höh. Die Damen eilten erschrocken an seine Seite und bestürmten ihn mit Fragen.
„Ein kleiner Schwindelanfall. Laßt mich fünf Minuten allein auf meinem Zimmer; dann komm ich frisch zu euch zurück.“ Mit diesen Worten entfernte sich Herr Eckhold. Seine Gemahlin wollte ihm folgen, ward aber durch einen bittenden Blick und eine leichte Handbewegung zurückgewiesen.
Auf seinem Zimmer ging der schwer getroffne Mann in heftiger Bewegung auf und ab. „Kaum gewonnen, schon verloren!“, murmelte er. „Arme Susanna, du bist ein Opfer der schwarzen Kunst! Was ist zu tun? Du Herr im hohen Himmel, hilf! Ich will sie heimholen und bewahren vor fernerm Schaden; tilge du aus die Macht des Bösen, der seine Krallen in dieses zarte Herz geschlagen hat. Amen! Nun halt dich tapfer und laß nichts merken, verfluchter Adam! Wann wirst du entsühnt? Da hilft alles nichts!“
Die Tür öffnete sich leise, und die Frau Landjägermeisterin stand da und fragte ängstlich: „Lieber Eckhold, was fehlt dir? Einundzwanzig Jahre lang habe ich die Trennung ertragen; aber heute darf es nichts geben zwischen uns, das mir nur fünf Minuten Trennung auferlegen könnte.“
„Es ist vorüber, meine liebe Erdmute!“, sagte der Landjägermeister, küßte seine Gemahlin, biß dann die Zähne fest auf einander und kehrte, sein Weib am Arm, zur Festtafel zurück.
Der Gleichmut des Herrn von Schaumberg war von wohltätiger Wirkung auf die Stimmung des Herrn Eckhold und der Damen, und es entwickelte sich bald eine trauliche Unterhaltung. Der alte Herr erzählte von der Ritterschule seines Ahnen Sylvester auf Tunndorf, sodann von dem berühmten Saufänger seines Vaters, der diesem außerordentlichen Exemplum von einem Hund einmal auf der Jagd sein Leben zu verdanken gehabt und ihn deshalb im Garten mit Auszeichnung habe begraben und ihm einen Denkstein habe setzen lassen. Und der Herr Landjägermeister erzählte die Geschichte seines Großvaters vom ungeheuerlichen Bären im Saalfeldschen.
Ehe sich die kleine Gesellschaft zur Nachtruhe trennte, bat der Herr Landjägermeister den Herrn Vetter, ihn nebst Gemahlin und Tochter am nächsten Morgen beim Herrn Pfarrer zum Abendmahl anmelden zu lassen. „Wir wollen von nun an in einem neuen Leben wandeln, wohlachtbarer Herr Vetter; die drei, so versprengt und auseinandergerissen waren viele Jahre, sollen nun eins sein; und da müssen wir einen neuen Pakt mit unserm Herrgott machen. Ehe wir von dannen ziehen, wollen wir des Teufels Felleisen von uns werfen.“
„Liebwerter Herr Vetter, so gönnt mirs, daß ich als Beichtbruder mitgehe. Und nun gute Nacht, Herr Vetter! Gute Nacht, Bäsle! Gute Nacht, Susanna!“
Die Nacht ist keines Menschen Freund, sagt man. Das ist ein halbwahres Wort, wie es viele gibt. Hat nicht das Reibeisen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ist vor Scham davongelaufen, als am hellen lichten Tag Susanna den fremden Mann küßte? Wie ärgerlich frech sieht der Tag oft dem Menschen ins Gesicht! Vor dem hellen Tag ziehen sich die heiligsten Gefühle in die dunkeln Gründe der Seele zurück: das Schweigen der dunkeln Nacht und der Zauber ihres Sternenflimmers erschließt das geheimste, heiligste Leben. Und wo ich meinem geneigten Leser den Schleier der Nacht zerreißen durfte, wird er Bestätigung dessen gefunden haben.
Auch Spitzbubenstreiche!
Verzeihung! So sei hinfüro der Schleier der Nacht uns heilig und unzerreißlich, auch der Schleier dieser Freitagsnacht auf dem Schloß zu Unterschwappach.
Als nach dieser respektierten Nacht mittags um ein Uhr das Glöcklein zur Beichte rief, begaben sich gemessenen Schritts der Landjägermeister mit seiner Gemahlin und Susanna an der Seite des alten Herrn zum Kirchlein. Da wartete der Herr Pfarrer Martin Lauterbach von Westheim seiner Beichtkinder.
Des Priesters Rede griff allen ans Herz. Nachdem der eifrige Gottesmann auf den Erlöser hingewiesen und ermahnt hatte, daß der Mensch in seiner Sündentrauer nicht verzagen noch verzweifeln müsse, fuhr er fort: „Der Satan hatte vor, er wollte dich aus dem Lusthause des Paradieses bringen, aber dargegen führet dich Christus, dein Heiland, in das himmlische Paradies. Der Satan gedachte dich um die Speise des Lebens zu bringen; dargegen aber ist Christus selber deine Speise worden. Der Satan hat dich durch Adams Fall des Bildes Gottes beraubt; aber dargegen hat dich Christus mit seiner eignen Gerechtigkeit bekleidet.“
Des Adams Fall bekümmerte den Herrn Landjägermeisters aufs tiefste. Hatte nicht des Adams Fall dem Satan Macht gegeben über sein Kind? In dem Kirchlein zu Unterschwappach hatte noch nie eine Seele so aufrichtig gebeichtet als der Herr Landjägermeister. Er gelobte aus Herzensgrund seinem Heiland Treue und schwur dem Satan ewige Fehde. Er soll keinen Teil haben an meinem Kind, so wahr ich lebe.
Die Abendmahlsfeier am darauffolgenden Sonntag war für den geprüften Mann eine Stärkung, wie er eine solche noch nie verspürt hatte. Und auf dem Kirchweg sagte er zu dem Herrn von Schaumberg: Der verfluchte Adam ist entsühnt und wird seine treue Eva ins Paradies zurückführen. Und der Cherub, der uns einst daraus vertrieben hat, ist uns nun in Liebe zugesellt.