Achtzehntes Kapitel
Von der Erlösung
Frank und frei im schönen Franken
Durch den Wald zu wandeln,
Frank und frei von Wahnesschranken
Frank und frei zu handeln:
Welch ein Leben, welche Lust
In des freien Franken Brust!
So hatte, erquickt an Leib und Seele, Martin Bötzinger am Sonntag frühmorgens stolz in den Wald hineingesungen. Aber nach etlichen Stunden war der stolze, junge Franke nicht mehr frei gewesen: auf der Spitzbubenburg Straufhain lag er gebunden in einer Ecke des niedrigen Gewölbes.
Schon vor vier Jahren hatte über Bötzingers Wohnung in Jena der Sperk auf der Dachrinne geschrien: „So nahe liegen Glück und Unglück beisammen.“ Und dem „Philosophen in Schülerschuhen“ hatte der Gott der Ferien zugerufen: „Du mußt viel lernen und leiden! Ja, es ist des Lernens und Leidens kein Ende.“
Als er so in Dunkelheit und furchtbare Stille untergetaucht war, kam dem gebundnen Franken seine schauderhafte Lage voll zum Bewußtsein, und es kam ein Achsenanfall von so rasender Gewalt zum Ausbruch, daß der Straufhain drohte, sich in den Mittelpunkt der Erde zu bohren. Es war ein Tanz, wie ihn die Geisterwelt mit ihren Hoffnungen und ihren Schiffbrüchen, ihrem Lieben und Hassen, ihrem Wissenschaftsstolz und Bettelmannselend, ihrem Tugendschwung und ihrer Verbrechermisere noch nicht aufgeführt hatte. Der alte Echter des Meisters Örtlein hatte hineingegauzt, und der Schwenzelenz-Schmid von Jena hatte die Laute dazu geschlagen, und die Fledermaus der Rudolstädter Schloßturmuhr hatte geschnurrt, und das langwimprige Geschlecht dazu gesungen – der Fuchs des Rudolstädter Löwenwirts und der alte Gompertshäuser Fritz hatten dazwischen gewiehert, und des Bischofs Julius Predigt hatte dazwischen gedröhnt; des Martini Lutheri „Ein feste Burg“ von der Ehrenburg in Koburg herüber, und der Studenten „Laßt uns schlemmen und demmen bis morgen“ von Jena her hatten drein geschallt, und das Gompertshäuser Gewitter hatte dazu geblitzt und gedonnert.
Auf diesen Rotationssturm war ein Zustand gänzlicher Abspannung gefolgt. Der geistliche Simplicius lag in seinem dunkeln Winkel, als ob ihm Sehen und Hören und vielerlei andres vergangen, von dem Sturm verschüttet worden wäre.
Der „Deposter“ hatte ihn vor Jahren geohrfeigt: jetzt hatte es das Schicksal durch Spitzbuben besorgen lassen.
Gegen Abend kam der alte Graukopf mit einem hölzernen Napf voll dampfender Hafergrütze geschlichen und zupfte an Bötzingers Ärmel. „Wenn Er mir verspricht, net auszureißen, will ich Ihm das Eisenzeug runter tun, daß Er vernünftig essen kann; der Magen mag Ihm schön knurren.“
Martin Bötzinger richtete sich auf. Der Geruch des warmen Gerichtes weckte den in ihm unter dem Druck des Unglücks schlummernden Hunger, daß er sich bäumte und gleich einer mähneschüttelnden Bestie die Oberhand gewann.
„Ich fliehe nicht! Befreit mir die Hände, daß ich einige Nahrung zu mir nehmen kann; der Hunger zerreißt mir schier die Eingeweide!“
Der Alte setzte seinen Napf zur Erde und stellte sein Lämpchen auf einen Vorsprung der Mauer: bald waren die Fesseln von Martins Händen und Füßen gelöst, und die Mahlzeit begann.
„Da ist auch Brot und noch was extras; laß Er sichs schmecken!“ Bei diesen Worten zog der Alte aus einer Tasche seines Gewandes ein Stück kalten Braten hervor. Seine Augen glänzten, als er sah, daß es dem Hauslehrer gut schmeckte. Er fuhr fort: „Ich bin alleweil allein zu Haus. Er ist doch ein Geistlicher. Ich hab nun vierundvierzig Jahre net gebeichtet; denk, unser Marschall, wenn er freikommt, wird uns verlassen. Er hat ja heut selbst so was hingeworfen. Dann bleib ich net mehr bei meinen Kameraden. Mit unserm Kapitel wirds wohl hernach aus sein. Aber erst wollt ich beichten und das Abendmahl nehmn, eh ich mir Arbeit süch, getrau mir aber net, zu nem Pfarrer zu gehn. Er könnts eigentlich auch besorgen mit mir; vor Mitternacht sind wir allein.“
Martin Bötzinger faltete die Hände und sah vor sich hin wie in Gedanken versunken. „Guter Alter!“, sagte er endlich, „hier im Gewölbe der Spitzbubenburg ist nicht der Ort dazu. Hier ist kein Kruzifix, kein Altar, kein Brot und Wein, und ich bin auch noch nicht in das Priesteramt eingeführt.“
Aber der Alte entgegnete: „Ich geh net unter die ehrlichen Leut, bis ich gebeichtet hab. Ein Kruzifix hab ich schon; oben der Steintisch, an dem Er bei der Prozession gelehnt hat, paßt auch zum Altar. Brot und Wein ist auch da; und wenn Ers segnet und weiht, ists auch geweiht, so gut, als hätts der Superdent gethan. – Halt einmal! Ein paar Schlückchen Wein könnten Ihm gut tun; komm gleich wieder.“
Der Alte ließ sein Lämpchen stehen und ging. Bald kam er wieder mit einem Krug und einem Becher. Er schenkte ein und reichte den Becher Martin hin. Der geistliche Simplicius aber sagte: „Ich trinke nicht ; das ist gestohlnes Gut!“
„Der Wein ist aus seines Herrn Keller; wenn Er davon trinkt, so trinkt Er seines Herrn Wein, und der hat ihn net gestohlen, und er ist Ihm gegönnt.“
Mehr als des Alten Zureden vermochte des Weines Blume, die Martin zauberisch in die Nase drang, und er ließ sich's schmecken. Der Alte schenkte einmal ums andremal ein, sodaß es den geistlichen Simplicius überkam just als ein Behagen.
„Habt Ihr Schweres zu beichten, Alter?“
„Ach, junger Herr! Ein Schweres ists, was mich drückt seit vierundvierzig Jahren. Es hat mich von meinem Weib hinweg in den dunkeln Wald zu den Spitzbuben getrieben.“
Der Alte schenkte den Becher voll und trank ihn aus. Dann reichte er den frischgefüllten Becher wieder Martin dar.
„So erzählt, Alter! In unserm Heiland ist uns ein Born des Trostes erschlossen, der ins ewige Leben quillt!“
Der Alte räusperte sich, setzte sich neben Martin und begann zu erzählen. „Bin in Brattendorf geborn. Mein Vater war Söldner, hat aber net mit auf dem Feld gearbeitet. Er hat büttneriert, Schuhe und Pferdegeschirr geflickt, beim Bierbräun geholfen und hat auch wagneriert. Hat sich dabei auch extra bei den Bauern noch mit seiner Flickerei was verdient; das durft aber der Herr net wissen. Er hat aber net allein Schuh und Geschirr geflickt und eingefallne Stutzen und Gelten gebunden: wenns sonst einmal in einem Haus net klappte oder ein Riß in dem Haushalt war, hat er mit Rat und Tat gebunden und geflickt und gebessert. Der „Böstenadel“ und so hat was gegolten! Da war auch a Mädle, die Schönst im Dorf, war groß und prächtig mit blauen Augen und schneeweißen Zähnen. Und ihr Hemd war auch weißer wie den andern ihrs, wenns am Sonntag unter dem Busentuch rausblitzte. Die hatt ich gern, und sie mich auch. Aber als ich sie freien wollt, hats der Herr net zugegeben. Das hat meinen Vater gekränkt – und mich noch mehr!“
„Wie hieß Euer Herr?“
'S war der Herr Moritz von Heldritt; seine Frau hieß Kunigunde, geborne Kempterin, eine herzensgute Frau. Aber der Herr war wild und wüst. Hat nmal mein Schatz auf dem Wachberg Gras und Laub für die Ziegen holn wolln; kommt der Herr Moritz von Heldritt ihr in die Quer und will hübsch mit ihr tun. Aber das tapfre Mädle hat ihn abgewehrt. Da hat sie der wilde, starke Mann an eine dicke Birke gebunden und zu ihr gesagt: 'Überleg dirs; in einer Stunde komm ich wieder.' Mein Vater hatte aber im dichten Gebüsch gesteckt und alles mit angehört. Als der Herr fort war, ist mein Vater hervorgetreten und hat das Mädle losgebunden. Wie ich Ihm die Glieder vorhin befreit hab, mußt ich dran denken. Als hernach der Herr das Mädle hat davonlaufen sehn, hat er sich umgewendet und ist auf meinen Vater gestoßen. Den ließ er hart an und wollte ihn einen jähen Rand hinabstoßen. Da hielt sich mein Vater an einer jungen Eiche an. Aber der Herr war wütend und hieb ihm mit seinem scharfen Eisen die rechte Hand, mit der er sich anhielt, ab, daß er hinunterstürzte. Der Sturz hat ihm ja wohl nichts geschadet, aber der Arm ohne Hand ist brandig worden, also daß mein guter Vater vierzehn Tag drauf begraben worden ist.
Hernach hat mich der Herr kommen lassen und hat mir gesagt, daß ich mein Mädle freien könnt. Von der Stund an war ich net mehr froh. Ich freite das schöne Mädle. Wenn ich sie ansah, stand mein Vater mit dem brandigen Arm ohne Hand daneben; wenn ich den Herrn sah, wars auch so. Es ward immer schlimmer mit mir, und ich sann auf Mord und Rache: niemand wußts. Wie ich einmal am Wachberg, just an dem Fleck, wo der Herr meinen Schatz angebunden und meinem Vater die Hand abgehauen hatte, Birken zu Reisen hacke – ich hatte auch das Büttneriern gelernt –, kommt der kleine Kurt, des Herrn zwölfjähriges Söhnlein, und schilt mich aus wegen meiner Arbeit. Und nun kommts, das eine Schwere, das mich vierundvierzig Jahr lang schon drückt.“
Dem Alten standen große Schweißtropfen auf der Stirn.
„Fahrt fort! nennt das Schwere, Alter! Gott weiß es, laßt michs auch wissen!“
Der Alte wischte sich die Stirn und sagte: „Die Wut kam über mich; ich packte den Bubn, legte seinen rechten Arm auf einen Eichenstoß und hieb ihm mit meiner Hippe die Hand ab. Als die kleine Hand hinabrollte, ließ ich den kleinen Bubn fahrn, warf meine Hippe von mir und floh über Berg und Tal. Und ich bin seitdem elend und verlassen von Gott und den Menschen.“
Der Spitzbubenbeichtiger fragte: „Was ist aus dem Knaben geworden? Ist er auch am Brand gestorben, oder lebt er noch? Habt Ihr nichts über ihn erkundschaftet?“
„Ach ja!“, antwortete der Alte, sein Arm ist geheilt worden, und der Vater hat ihm eine eiserne Hand machen lassen und soll ihn hernach seinen Götz von Berlichingen genannt habn - weiß net, warum. Der Hand nach wird das gestimmt haben, aber dem Ritter nach mag da wohl ein Unterschied gewesen sein!“
„Und was ist aus Euerm jungen Weib geworden?“
„Hab sie einmal wiedergesehn, aber sie mich nicht: bin dann und wann einmal in meine Heimatsgegend geschlichen vor Sehnsucht, und da hab ich sie im Feld gesehn. Durft mich freilich net zu erkennen gebn, mußt mich im Wald herumdrücken und durft am Tag nur verkappt mich einmal in ein Dorf und ins offne Feld wagen. Weil ich net wiederkam, hat sie den Melchior Sonnefeld in Goßmannsrod genommen. In ihrem dreißigsten Jahr ist sie am hitzigen Fieber gestorben. Dem Melchior hat sie ein Tüchterlein von mir zugebracht. Als das groß war, hat es den Mauritius Langguth in Veilsdorf gefreit, einen Leinweber. Von dem hat meine Tochter etliche Kinder; und eins, das älteste, heißt Lise – ist in Heldburg beim Ratsherrn Böhm als Magd, ein Staatsmädle. Meine Tochter hat den Sackdrillich, den ihr Mann gemacht hat, in Heldburg und der Umgegend verhausiert, und so ist sie da bekannt worden, und so ist die Lise, mein Tichterle, nach Heldburg kommen.“
Martin Bötzinger stand auf, stellte sich dem Alten gegenüber und betrachtete ihn. „Guter Alter“, sagte er, „ich kenne Euer Tichterle; ich hab es gesehen beim Ratsherrn Michael Böhm. Ist eine brave Magd! Unsers Gottes Fügungen sind wunderbar. Ihr seid schon alt; aber Ihr sollt jung werden in dem Reiche der Vergebung und Gnade, so Ihr Buße tun wollt. Ist es nicht, als hätt mich der himmlische Vater auf den Straufhain kommen lassen,
Euch die Hand zu reichen und zu ihm zu führen? Ihr habt gebetet, und der barmherzige Gott hat Euch gehört.“
„Gebetet! Gebetet! Ach, junger Gottesmann, seit mir die Haare grau geworden sind, hab ich fleißig gebetet. Wenn ich allein war, kams über mich wie Heimweh, hab ich die kleine Hand rollen sehen, hat mich mein Elend gedrückt: da hab ich allemal gebetet. Laßt mich beichten und reicht mir das heilig Abendmahl, daß ich mich wieder sehen lassen darf.
Kommt herauf, Alter, an den steinernen Tisch! Ich will des Priesteramts walten.“
Der Alte nahm sein Lämpchen und schritt voran. Bötzinger stellte sich hinter den „steinernen Tisch, “ und der Alte davor.
„Nun füllet den Becher mit Wein und leget einen Bissen Brot daneben auf diesen Tisch, daß ich die Weihe zum Sakrament, das wir mit einander feiern wollen, vollziehe.“
„Der Krug ist leer, muß erst Wein und Brot holen“, sagte der Alte und eilte hinweg. Als er wiederkam, tat er nach seines Beichtigers Weisung, hielt auch ein Kruzifix in der Hand, und der geistliche Simplicius hub also an: „Des Herrn, unsers Christ, Reich gehet über die Kirchenmauern hinaus und sendet seine Boten aus auch nach den verlornen Schafen in der Wüste. Sintemal unser Heiland mich schwache Kreatur erwählet hat im Laufe seiner Fügungen, ohne abzuwarten des Landes menschliche Weisung und ordentliche Verpflichtung, lebendig zu werden als Werkzeug seiner Barmherzigkeit und Gnade, frage ich Euch, den Großvater der braven Lise, ob Ihr anerkennet und bekennet die große Schuld, die Ihr auf Euch geladen habt in Euerm langen Leben, ob Euch Eure vielen Sünden reuen, sonderlich das eine Schwere herzlich leid tut, ob Ihr dem unsaubern Geiste, dem Ihr Euch gefangen gegeben hattet, entsagen und ein Leben anfangen wollet nach dem Herzen Gottes, in Gerechtigkeit und Reinigkeit, wie es sich gebühret dem Sohne Adams, der geschaffen ist zum Bilde Gottes, und zur Stärkung Eures Vorsatzes den Heiland Jesu Christo und seinen Tröster, den heiligen Geist, von Herzen anrufen wollet? Wollt Ihr solches, so sprechet aufrichtig: Ja!“
„Ja!“, sagte der andächtige Alte.
„So gehet freudig in Euern neuen Wandel, denn der Herr der Gnade und Barmherzigkeit, der Vater des Heilandes und Sender des heiligen Geistes, spricht zu Euch: Dir sind deine Sünden vergeben, kehre heim, mein Kind, an deines Vaters Brust! Amen!
Und zum Zeichen der Sündenvergebung und Eurer Errettung soll dieser Bissen Brot und dieser Wein verwandelt sein in den Leib unsers Heilandes, der am Kreuz für uns gebrochen, und in sein Blut, das für uns geflossen ist. So nehmet nun hin den Leib und das Blut des Sohnes Gottes, esset und trinket Eurer Seele zur Genesung und werdet aufgehoben zu dem Berg der Kinder Gottes, die da fliehen, was unrein ist, aber hangen an dem, was erquicket in die Ewigkeit! Amen!“
Über des Alten Wangen stürzten Tränen. Ergriffen drückte er dem jungen Geistlichen die Hand und flüsterte: „Vergelts Ihm Gott! Das hat mir wohlgetan. Wenn er mir nur auch Arbeit verschaffen könnt! O, wie wird mirs noch gehn!“
Aus dem Walde drang ein Pfiff herauf. Der Alte antwortete mit einem kleinen Pfeifchen und sagte hastig: „Gschwind wieder nunter! Der Schatzmeister kommt.“
Nachdem er dem Gefangnen die Fesseln wieder angelegt hatte, begab er sich eiligst vor die Burg und erwartete den Marschall-Vikar. – Das war just die Zeit, wo die geängstete Jungfer Ursel von der Lindenelsa nach Hause gefahren worden war.
Seitdem waren wieder vierundzwanzig lange und bange Stunden verflossen. Ursel hatte mit Ungeduld auf die Botschaft von Koburg gewartet und hatte am Ende ihr junges Glück durch den Zauber eines Edelfräuleins eingebüßt. Wie verraten kam sie sich vor und klagte in ihrem Giebelstübchen.
Martin Bötzinger trug nach überstandnem Sturm geduldig in Hoffnung auf baldige Erlösung seine Fesseln. Und wenn ihm die langwimprige Susanna erschien, kam Bangigkeit über ihn; aber wenn die blauäugige Ursel sich scheu nahte, blühte ein leichtes
Rot auf seinen Wangen, und seine Augen erfüllten sich mit Glanz.
Nach Mitternacht ward es endlich lebendig auf dem Straufhain; aber Martin Bötzinger merkte nichts davon, denn der Schlaf hatte ihn in so feste Fesseln geschmiedet, daß die Spitzbubenfesseln in nichts zerrannen.
„Dacht, der Generalschlaf wär über Ihn kommen“, lachte Schmalhans, als nach langem Rütteln endlich Bötzinger auffuhr; „munter jetzo! Habn Befehl, Ihn schleunigst auf seine Burg zu schaffen; Er wird nun net mehr hier geduldet!“ Dabei nahm man ihm die Fesseln ab. Der Schatzmeister sattelte die Pferde, und der Alte war ihm behilflich. An dem Gemäuer umher brannten etliche große Kerzen. Der Schmalhans und die Dohle waren mit ihrem Anbefohlnen, dem Herrn Martin Bötzinger, zur Abreise fertig. Da rief der Alte: „Halt, erst a Stärking!“ Er brachte bald zwei große Krüge und etliche Becher, schenkte ein und reichte dar.
„Alter Kujon!“, rief der Schatzmeister, „wo bringst du den Leistner noch her?“
„Galta, dar is alleweil racht?“, schmunzelte der Alte, „mußt net uf amoal gsuffen war; ho gsurgt, as meine Kameraden ach a Fred han!“
Die beiden Krüge wurden geleert, und der geistliche Simplicius mußte den Spitzbuben Bescheid tun, denn der Schatzmeister hatte gerufen, als er sich weigerte zu trinken: „Dummer Pfaff! Ist aus Euers Herrn Keller. Brüderschaft wolln wir trinken, eh wir aus einander gehn! Vorwärts! Täten Ihm die Ehr nit an, kennt Er nit unsern Marschall so gut. Er wirds ja nit übel auslegen, wenn wir nit erst Blut dazu nehmen!“
So mußte zum Abschied der Herr Theologus auch noch Brüderschaft mit seinen Peinigern trinken. Die kleine Reise durch den Wald lief in Begleitung des Schmalhans und der Dohle gut ab, und am Morgen um vier Uhr hielt Martin auf der fränkischen Leuchte seinen stillen Einzug. Ehrenpforten hatte man ihm nicht gebaut, denn der Herr Amtsschösser Andreas Götz hielt es nicht für ehrenvoll, daß sein Informator von „wildem Fleisch“ unter die Unehrlichen getrieben worden war. Er war aber doch froh, als er seinen tapfern Hauslehrer über den Burghof kommen sah, und ging ihm entgegen.
„Herr Bötzinger, solche Exkursionen, wie Er da eine gemacht hat, sind nicht nach meinem Gusto. Es wird Ihm ja wohl auch nicht sonderlich gefallen haben bei den Galgenstricken. Wer in den Rauch läuft, ist vor den Flammen nicht sicher. Wär Er am Sonntag den Theologenweg gegangen und nit den Jägerweg, wärs besser geraten.“
Dem Herrn Bötzinger, der das Spitzbubenpostament hinter sich und nun den wohlgegründeten Burgberg unter den Füßen hatte, war der Mut wieder gewachsen, und er antwortete auf den Vorhalt seines Prinzipals: „Gott zum Gruß, Herr Amtsschösser! Eure Meinung ist ganz rechtschaffen und eines sorgsamen, wohlmeinenden Hausherrn würdig.
Ich war ja aber nicht auf Jägerwegen, sondern bin den Weg des Seelsorgers gewandelt, so Ihr Theologenweg nennet.“
„Die Seelen auf dem Straufhain sind nit den Schuß Pulver wert, mein junger Herr Seelsorger!“
„Wenngleich ich in diesem Punkt nicht Eurer Meinung bin, aber eine Rechtfertigung meines abenteuerlichen Weges für unnötig halte, gebietet es dennoch die Reputation, meinem ehrenfesten und wohlgewognen Hausherrn zu sagen, daß mir die Seele des in Koburg der Folter überantworteten einstmaligen Spielgesellen am Herzen lag, und die Angst um ihn mich zu den Spitzbuben auf den Straufhain hat gehen heißen. Und dieser Weg ist in facto zum Glück ausgeschlagen für diese arme Seele, so ein theologus classicus in den Abgrund zu stoßen zum elendiglichen Untergang die fürsorglichsten Anstalten getroffen hatte. Und ohnedem habe ich einen alten Sünder auf sein Verlangen beichten lassen und ihm das heilige Abendmahl dargereichet, was zu verschweigen Ihr wohl die Gewogenheit haben möchtet, sintemal ich noch nicht ordinieret bin.“
Den Herrn Amtsschösser überraschten die Mitteilungen seines Hauslehrers so, daß er ausrief: „Unerhört! Durchaus unvorsichtig und unüberlegt von Ihm! Also freiwillig und mit Vorsatz ist Er auf das Räubernest gegangen, nit gefangen worden als Waldläufer und mit Gewalt hinaufgeschleppt worden! Er ist wohl bei dem Wolfsgeschmeiß noch mit guten Worten um eine gnädige Audienz eingekommen? Wenn ich das dem Meister Örtlein erzähle, läßt er sein spanisches Rohr fallen; und wenn das der hochwürdige Herr Superintendent erfährt, nennt er Ihn einen Narren.“
„Es ist sonderbar“, entgegnete der Herr Bötzinger, „daß die Spitzbuben in ihrer Meinung ganz mit der Meinung Seiner Hochwürden übereinstimmen: sie haben mich für übergeschnappt, für einen Kapitalnarren und Erznarren erklärt, und tags vorher hatte Seine Hochwürden mich mit einem Verrückten verglichen; die Spitzbuben, weil ich ihnen zugemutet hatte, meiner Ehrlichkeit zu trauen, Seine Hochwürden, weil ich den Glauben an Hexerei Wahnsinn genannt hatte.“
Der Herr Amtsschösser lächelte und sagte: „Wenn Leute von so völlig entgegengesetztem Metier, wie unser Herr Superintendent und Seine Spitzbuben, in ihrem Urtel übereinstimmen, so muß selbiges wohl authentisch sein.“
„Die Gelegenheit berechtigt Euch zu diesem Schluß, Herr Amtsschösser; aber ich werde trotzdem auch gegen Spitzbuben ehrlich bleiben und der Theologie und dem Jus zum Trotz weder an einen Teufel noch an Hexen glauben, ob ich auch in den status
controversiae geraten sollte, daß die ganze Welt mich, und wiederum ich die ganze Welt für verrückt erklären müßte.“
„Sein Mut ist zu loben. Aber Er wird sich noch viel unnötige Strapazen verursachen, wenn Er seinen Kopf behauptet. Komm Er herein zu einem ordentlichen Frühstück! Wird auf seiner tollen Exkursion doch nix Gescheites genossen haben.“
Der Herr Amtsschöser ließ gehörig auftragen. Und als die beiden Herren – jeder herzlich froh, von andern wieder zu sehen – tapfer schmausten, und die Gemütlichkeit auf eines jeden Antlitz ihren Thron aufschlug, bemerkte Bötzinger: „Von dem Leistner da – Ihr mögt es glauben oder nicht – hab ich auf dem Straufhain mehr als einen Becher geleert.“
„Von meinem Leister, ganz recht, den mir die verfluchten Kerle Pfingsten gestohlen haben. Hat Er welchen davon bekommen? Er scheint sich seine Zeit ganz artig zurecht gelegt zu haben bei den vermaledeiten Halunken da drüben. Hat doch nit etwan gar Brüderschaft mit ihnen getrunken?“
„Ihr habt einen gewaltigen Scharfblick, Herr Amtsschösser! Heut nacht beim Abschied tat es der Schatzmeister durchaus nicht anders. Hätt ich mich geweigert, hätts Blut gekostet.“
Der Herr Amtsschösser lachte hell auf. „Der verwegenste Scherz bekommt ungeahnten historischen Hintergrund! Und auch von einem Schatzmeister spricht Er da! Just, als käm Er vom Hof zu Wien. Aber ich merke, daß Er unversehrt an der rohen Gewalt vorübergeschlüpft ist. Genug nun! Wenn wir munter beisammen sitzen, der Herr Superintendent, der Herr Ratsherr Böhm, der Wildmeister, und wer sich sonst noch findet, vielleicht morgen gegen Abend schon, soll Er seine Spitzbubenabenteuer zum besten geben. Will jetzt die Buben wecken. Leg Er sich noch etliche Stunden in sein Bett! Bei den Spitzbuben hat Er doch nit auf Eiderdaunen geschnarcht.“
Der müde Informator befolgte den Rat seines Prinzipals auf das pünktlichste. Das Wort „Bett“ hatte unsern Helden fast mit Rührung erfüllt.
Den Schülern des Herrn Bötzinger war das Malheur ihres Hauslehrers nicht verheimlicht worden. Und als dieser, durch einen tiefen Schlaf erquickt, sie um sich hatte zum Unterricht, war des Fragens kein Ende. Als die Neugierde der Schüler befriedigt war, und die Knaben hinlänglich zu erkennen gegeben hatten, wie sehr sie ihren Herrn Informator um sein Abenteuer beneideten, begann endlich der Unterricht. Martin Bötzinger war für seine Scholaren nun eine viel interessantere Person als ehedem; sie folgten seinem Unterricht mit mehr Gespanntheit als sonst, sodaß er – dem es ohnehin vorkam, als hätte er seine liebe Berufstätigkeit wochenlang zu entbehren gehabt – in außergewöhnlichen Schwung geriet. So kam es, daß sich die nachmittägigen Lehrstunden bis zur Zeit des Abendessens ausdehnten, und der Herr Amtsschösser abbrechend eingreifen mußte.
Der Hauslehrer hatte sich zu stiller Sammlung auf sein Zimmer begeben. Da trat der „alte Kaspar“ ein und teilte geheimnisvoll mit, daß draußen hinter der Mauer im Wald ein Mann herumschleiche, der den Hauslehrer zu sprechen wünsche. Der Herr Bötzinger schickte sich sofort an, dem geheimnisvollen Ruf zu folgen; aber der alte Kaspar raunte ihm bedenklich zu: „Herr, net wieder so viel riskiert! Wir sind froh, daß Er wieder da ist. Mit Verlaub! Will lieber in der Näh bleibn!“ Bötzinger lobte den alten Kaspar seiner getreuen Gesinnung wegen und erlaubte seine Wächterschaft.
Hinter der Mauer traf Bötzinger sein Beichtkind, den Alten vom Straufhain.
„Liebwerter Herr“, hub der Alte an in einem von Verzweiflung gedämpften Ton, „nun ists so, wie ich mirs dachte: unser Marschall mit dem Schatzmeister auf und davon – alles auseinandergesprengt! Ich bin allein übrig. Verhelf Er mir zu einer Unterkunft, daß mich net die Füchs und Raben im Wald auffressen.“
Bötzinger erschrak vor dieser Jammergestalt. Der war nicht „aufgehoben zu dem Berg der Kinder Gottes“; der stand an einem dunkeln Abgrund. Und aus dem Abgrund stieg der Teufel leibhaftig empor und grinste den geistlichen Simplicius an, ob der auch nicht an ihn glauben wollte. Die Beichte und das Abendmahl hatten den Alten noch nicht gerettet: die schauderhafte Wirklichkeit des Lebens stellte sich hin vor den jungen Seelsorger und stemmte die Fäuste auf die Hüften und schlug eine höllische Lache auf. Den Martin Bötzinger überlief es eiskalt.
„Und wenn ich auch wieder zu den Spitzbuben gehen wollt, die nehmen mich nicht auf; denn so gut wie unsern Marschall Haus gibts keinen Hauptmann mehr in der Welt; sie werden zu mir sagen: bist zu alt, schadst uns mehr, wie du nützt. Ach, liebwerter Herr! Er hat mich mit Gott im Himmel ausgesöhnt; nun söhn Er mich auch mit den Menschem auf dieser Erden aus, daß mich net die Füchs und die Raben“ –
„Haltet ein!“, rief Bötzinger, „sagtet Ihr nicht, daß Eure Tochter noch lebt in Veilsdorf?“
„Ja, Herr! Aber die kennt mich net. Und wenn ich zu ihr ins Haus gehen wollt, würd ich die Staupe kriegen von ihr und ihrem Mann und dem ganzen Ort.“
„Ihr habt nicht recht, Alter! Sollt außer Euerm Marschall keine Barmherzigkeit mehr bei den Menschen wohnen?“
„Glaubs net, guter Herr! nur einen könnts noch gebn, aber“ –
„Also! So geht zu diesem, wenn er kein Unehrlicher ist.“
„Ist brav und gut und angesehn, bin auch auf ihn zugangn, aber“ –
„Hat Euch nicht aufgenommen? Wer ist er? Wo wohnt er?“
„Ach, Er ist es ja selbst, liebwerter Herr!“
Der junge Seelsorger stand da, wie vom Donner gerührt; recht als ein geistlicher Simplicius! Als er den verlassenen armen Mann auf dem Straufhain hatte beichten lassen, hatte er sich gefühlt als „vom Heiland erwählet, im Laufe seiner Fügungen lebendig zu werden als Werkzeug seiner Barmherzigkeit und Gnade.“ Aber dieses „Werkzeug“ hatte nur Worte gehabt, während die Barmherzigkeit und Gnade des Heilandes von seinen Werkzeugen herzhafte Thaten verlangt. Sie schickte darum den Hilfesuchenden und nach Errettung schreienden zu dem Wortmacher, um ihn, als einen Toten, ins Leben zu rufen: also kam der Spitzbube zum Seelsorger als ein Erwecker – auch im Dienste des Heilandes!
Das waren die Gedanken, die sich über der Gemütsbewegung des Erschrocknen in seinem Bewußtsein aneinander reihten.
„Habt Dank, daß Ihr gekommen seid und bei mir angehalten habt um Unterkunft!“, sagte Bötzinger gerührt. „Folgt mir in die Burg, Euch muß geholfen werden!“
Da trat der alte Kaspar hinter einem Busch hervor und wandte sich leise an Bötzinger mit den Worten: „Wär doch gut, wenn ich erst den Herrn fragte; könnte wieder das Vorspiel sein von einer Küchen- und Kellerplünderung wie verwichene Pfingsten!“
Martin Bötzinger aber entgegnete: „Recht gut gemeint, Kaspar! Aber du brauchst dir keine Sorge zu machen, werde selbst mit dem Herrn Amtsschösser verhandeln.“
Also hielt der Alte vom Straufhain seinen Einzug in der fränkischen Leuchte.
Während dieses Vorganges hinter der Mauer war der Herr Superintendent Sebaldus Krug mit dem Ratsherrn Michael Böhm beim Herrn Amtsschösser Andreas Götz als Besuch angekommen. Der Herr Superintendent hatte dem Herrn Amtsschösser versichert, daß er gern früher, am liebsten am Morgen schon, gekommen wäre, sich nach dem Befinden des geretteten Präzeptors zu erkundigen, daß er aber den ganzen Tag durch Amtsgeschäfte abgehalten gewesen sei.
„Ein ganz absonderlicher Mensch, dieser Bötzinger!“, meinte der Herr Amtsschösser; „hat einen scharfen Blick, ungewöhnliche, alierierende Ansichten, ist weichmütig und hat doch mehr Courage als mancher Landsknecht.“
Der Herr Superintendent lachte und sagte: „Die Hauptsache ist, daß Seine Kinder was bei ihm lernen.“
Da trat Bötzinger ein. Die Gegenwart der beiden Herren von Heldburg überraschte ihn, und er wurde sogar ein wenig betreten. Eben hatte er sich vertrauensvoll mit Wärme für seinen eingebrachten Spitzbuben bei dem Herrn Amtsschösser verwenden wollen; und da stand nun der Mann vor ihm, von dem ihn jener stachlige Teufels- und Hexenzaun trennte, den der Wahn der Zeit gepflanzt hatte; und neben diesem Mann stand der Vater jenes Mädchens, an das er denken mußte, wenn ihm das Lied vom freien Franken durch das Gemüt zog.
Nachdem man den Herrn Präzeptor herzlich begrüßt hatte, begann der Herr Superintendent: „Hat Er nun gesehen, junger Freund, wie weit es kommen kann, wenn man sich auf die Seite schlägt, wo die dunkeln Mächte walten?“
„Aus der Dunkelheit führet das wohlthätige Element des friedlichen Herdes, die leuchtende, wärmende Flamme“, entgegnete Bötzinger.
„Sehr schön gesagt! So haben ihm wohl die Spitzbuben gar feurige Kohlen auf das Haupt gesammelt?“
„Euer Hochwürden haben den Nagel auf den Kopf getroffen!“
Da lächelte der Herr Superintendent und sagte kopfschüttelnd: „Ein absonderlich Spiel! Setzen wir uns, meine ehrbaren Herren! Und unser junger Freund gebe sein Abenteuer zum besten. Kann ein lustig Stündlein werden.“
Man folgte der Aufforderung. Der Herr Amtsschösser hatte für ein frugales Abendessen gesorgt, bei dem der Wein die Hauptrolle spielte. Die Erzählung Bötzingers erregte bald Staunen, bald Mitleid, bald launiges Witzeln oder Lachen. Eben hatte man auf die Gesundheit des aus dem Spitzbubennest Heimgekehrten getrunken, als der alte Kaspar eintrat und fragte: „Die Leut in der Küche wollen wissen, was mit dem Alten werden soll?
Der Herr Amtsschösser möchte doch einmal herunter kommen!“
„Es ist gut, Kaspar! Sie sollen noch ein wenig Geduld haben!“, rief Bötzinger, und der alte Kaspar entfernte sich wieder.
„Was weiß Er von einem Alten, Herr Informator? Wer ist der Alte?“, fragte der Herr Amtsschösser.
Martin Bötzinger erzählte nun die Geschichte des Alten. Daß er ihm das Abendmahl gereicht hatte, verschwieg er, aber den Vorgang hinter der Mauer schilderte er in drastischer Weise. Dann bat er um einnächtige Herberge für den Unglücklichen und schloß mit den Worten: „Die Herren sehen, daß ein ehemaliger Spitzbube den Berater zu einem Tater erweckt hat, und ich schäme mich, daß ich ein Toter war. Das Leben verlangt Taten für den armen Bruder, und mich dünkt, das wäre auch der Sinn des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Morgen kann der Alte das Haus seiner Tochter aufsuchen. Und damit er geduldet werde unter ihrem Dach, wollte ich einen Brief an den Pfarrer in Veilsdorf schreiben und ihn beschwören, sich des Alten anzunehmen, ihn zu schützen und kräftig Fürsprache bei dem Eidam einzulegen, daß er als heimkehrender verlorner Sohn, eigentlich verlorner Vater, bei der Tochter für seine alten Tage Ruhe und Pflege finde, und ihn nicht im Wald die Füchs und Raben fressen.“
Der Herr Amtsschösser und der Ratsherr Michael Böhm waren von Martins Erzählung sichtlich ergriffen. Dem Herrn Superintendenten schienen jedoch noch Klettenknäuel im Kopfe zu hangen. Er machte ein einfältiges Gesicht, trank einmal, meinte dann aber: „Man kanns ja probieren.“
Der Herr Amtsschösser entfernte sich. Er ordnete in der Küche an, daß der Alte gespeist werde und dann ein gutes Nachtlager bekomme, und begab sich dann wieder zu den Herren zurück.
„Ich werde den Brief selbst schreiben“, sagte er, als er sich gesetzt und einmal getrunken hatte, „kenne den Veilsdörfer Pfarrer recht gut, den Herrn Wilhelm Zeilfelder; ist gebürtig aus Eisfeld und von Pößneck, wo er siebzehn Jahre Diakonus gewesen, nach Veilsdorf vocieret worden, wo er vor einem Jahr auf Dominica Invocavit von dem Herrn Magister Johann Faber, dem Eisfelder Superintendenten, und meiner geringen Person introduzieret worden.“
„Hat das „Bußglöcklein“ edieret, so jedermänniglich zu empfehlen, und die „Pur-lautere Wahrheit,“ item Claves Coelestes“, fügte der Herr Superintendent hinzu und fragte: „Wie kommt es, daß Er, Herr Amtsschösser, bei erwähnter Introduktion gewesen?“
Der Herr Amtsschösser trank erst einmal und erklärte, ein wenig näher an den Tisch rückend: „Veilsdorf ist nach dem uralten, Anno 1531 aufgerichteten und von damaligen gesamten Landständen approbierten und konfirmierten Amtserbbuch gleich andern, im ganzen Amt gelegnen Dorfschaften beides mit der geistlichen und weltlichen Jurisdiktion dem Amt Heldburg unterworfen. Aber durch Herrn Hans Kaspar von Gottfarth, Hofmarschallch, ist Zeit seiner innegehabten Amtsverwaltung des Klosters Veilsdorf die Introduktion eines neuen Pfarrers daselbst zum Amt und Kloster Veilsdorf devolvieret und also von dem Amt Heldburg abgezogen worden. Da mein Antecessor Nikolaus Leipold schon wider solchen neuerlichen Eingriff bei der Introduktion beider nächstgewesener Pfarrer bei Fürstlicher Regierung zu Koburg schriftliche Einwendung getan, bin auch ich am 18. Dezember 1622 mit einer Schrift beim Konsistorio zu Koburg einkommen gegen solche Rechtsumgehung und habe gebeten, bei der vorseienden Introduktion eines neuen Pfarrers das Amt Heldburg bei seiner alten Gerechtigkeit zu manutenieren, was dannhero auch geschehen.“
Der Ratsherr Michael Böhm legte während der Auseinandersetzung des Amtsschössers einmal den Zeigefinger an die Nase, dann stemmte er auch den Arm einmal in die Seite, just als erzähle er was, oder habe doch was zu erzählen. Als der Herr Amtsschösser schwieg, kams.
„Wohlachtbare Herren! Dero Veilsdörfer Spitzbuben- und Pfarrgeschichten haben mich daran erinnert, daß unsre Lise ja von Veilsdorf ist. Wie heißt des alten Spitzbuben Eidam in Veilsdorf, hat Ers net vorhin gesagt, Herr Informator? Hat Er net gesagt Langguth? Und hat Er net gesagt, er wär ein Leineweber?“
„Kanns Euch nicht verschweigen, Herr Böhm! Es ist so. Der Alte ist der Großvater Eurer Magd, der Lise!“
Der Ratsherr schlug die Hände zusammen und rief: „Herr Bötzinger, am End spinnt sich noch mein ganzer Haushalt in Seine Geschichte: ich und meine Urschel sinds schon vom Koburger Stahlbogenschießen her, und nun kommt die Magd an die Reih mit dem Alten da! Gott, du Allwaltender! Hat öpper gar der Großvater meine Kälber, die Pfleglinge seiner Enkelin, mit gestohlen, um die unsre Lise heut noch flennt?“
Der Herr Superintendent lachte hellauf, und der Herr Amtsschösser sagte gut aufgelegt: „So geht es, Herr Böhm! Meinem Hauslehrer hat der Leistner bei mir im Haus nit mehr geschmeckt, ist auf den Straufhain gelaufen und hat sich von den Spitzbuben meinen Rebensaft kredenzen lassen. Und wir sind in Sorg um ihn nach Koburg gerannt, und nun ist er wieder da und bringt uns den Alten, der vielleicht Pfingsten auch bei der Plünderung der Feste war, als Gast daher, und bringts dazu, daß wir den abgesetzten Spitzbuben noch versorgen!“
„Ja, Herr Amtsschösser“, sagte der Ratsherr, „wenn er in Veilsdorf net ankommen kann, will ich ihn ins Haus nehmen zu seinem Tichterle.“
Martin Bötzinger drückte dem Ratsherrn die Hand und sagte: „Herr Böhm, Ihr seid ein braver Mann! Gott vergelts Euch!“ „Aber laßt vor der Hand die Lise nichts merken! Net! Daß sie sich net härmt!“, sagte der Herr Böhm.
Es war dunkel geworden, und die Heldburger Herren verabschiedeten sich. Martin Bötzinger gab ihnen das Geleite. Als sie an der Küche vorbei gingen, sahen sie hinein. Sie wollten den Alten kennen lernen. Aber man hatte ihm schon sein Lager angewiesen. In seinen Memoiren steht geschrieben, er habe in dem schwellenden Bett schlecht geschlafen, sintemal es ein Verstoß gegen seine vierundvierzigjährige Gewohnheit gewesen sei, sich einem Bett anzuvertrauen zwischen dicken Wänden unter einem sichern Dach.
Die Herren ließen sichs gefallen, daß ihnen Bötzinger das Geleit bis an das Stadtthor gab. Nachdem Bötzinger dem Herrn Superintendenten versprochen hatte, am nächsten Sonntag die Predigt für ihn zu übernehmen, wandte er sich wieder der Burg zu.
Nicht weit vom Stadtthor lief ein Feldweg in den Burgweg ein. Als Martin an diese Stelle kam, stieß von dem Feldweg her eine weibliche Gestalt auf ihn. Sie war ihm ganz nahe gekommen und stieß einen Schrei aus vor Schreck. Es war Jungfer Ursula Böhm, die auf einem Abendgang durch die Flur Trost und Beruhigung gesucht hatte. Sie hatte den Hauslehrer erkannt und war auch von diesem erkannt worden, und sie wäre gern geflohen; aber der Schreck hatte ihr fast die Glieder gelähmt. Sie hatte in der Flur mit diesem Bild einen verzweiflungsvollen Kampf geführt, es vergeblich von sich zu stoßen gesucht. Je tapferer sie gekämpft hatte, desto wilder war diees Bild auf sie eingestürmt, und nun stand es nicht als Phantom vor ihr. Das war ja Martin Bötzinger leibhaftig!
Er ergriff ihre Hand und fühlte ihr Zittern.
„Jungfer Ursel, was fehlt Euch? Ihr erscheint mir als ein Engel in der Wüste. Erlöst mich aus dem Bann der Vereinsamung!“
Ursel schluchzte. Sie wand ihre Hand aus der Hand Martin Bötzingers und stieß, bebend vor Erregung, hervor, daß ihr heißer Atem seine Wangen traf: „Laßt Euch vom Edelfräulein im Mupperger Katrum erlösen!“