Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Sechzehntes Kapitel

Endigt mit einem Kuß

 

Gegen abend sagte Ursel zu ihrer Mutter: „Ich will hinaus in die Flur; es wird mir zu eng im Haus. Es muß heut recht schön draußen sein nach dem Gewitter. Geht Ihr auch mit, Mutter?“ Aber die Fran Böhm hatte, wie der Ratsherr Hübner in Römhild sagte, der Schnecken Art und wollte das Haus nicht verlassen. „Urschel“, sagte sie,ich mach mir Sorg! Weiß net, was das ist mit der Lindenelsa und dem Vater und dem Superdent und auch mit dir. Die Lindenels hat ein geläufig Maul, hat mir aber nix gstandn; der Vater sagt mir immer alles – heut aber ist er mir ausgewichen, wenn ich ihn fragen wollt; und du, Urschel, gehst in die Kammer, wenn ich denk, du solltest auf mich zukommn und mir sagn, was passiert ist: bin ich denn net mehr die Mutter?“ – Der Mund zuckte, und Tränen rannen der Frau Böhm über die Wangen.

Da fing Ursel an zu schluchzen; sie lehnte sich an die Mutter und ließ ihr den Kopf auf die Schulter sinken. „Ach Mutter!“, jammerte sie, „ich weiß nix, weiß net, was die Els hat gewollt, und weiß net, was der Vater mit dem Superdenten in Koburg macht, und ich hab Euch net gefragt, weil ich wußt, daß ich nix erfahrn sollt. – Gestern war ich aus der Verzweiflung in himmlisches Glück hinaufgehoben worden – und heut – heut bin ich in Sorg und Angst und wollts Euch net merken lassen. Drum wird mirs Haus zu eng. Draußen, zwischen den Kornähren und den blumigen Wiesen und an den Weinbergen wollt ich meine Angst vergehen lassen.“

Die Mutter wischte sich die Augen und sagte: „Geh, Urschel! Komm aber bald wieder zu mir nach Haus!“

Nach längerm Umherschweifen war Ursel am Festungsberg an die Stelle gekommen, wo sie tags vorher geklagt hatte: „Er verachtet mich!“ Sie setzte sich wieder nieder an den Rand des Weinfeldes. Da lag die schöne Gegend vor ihr ausgebreitet wie in Sorge, als könnte von dem herabträufelnden Himmelsfrieden etwas verloren gehen. Auch das Herz der Jungfrau Ursel ging auf für den erquickenden, beruhigenden Segen der sonntägigen Abendstille. Und diese Stille, dieser Frieden wandelte ihre Angst in Trauer. Sie sang leise vor sich hin:

 

Frag die Gräslein, die da welken,

Frag die Rosen und die Nelken,

Die verblühn im goldnen Strahl,

Frag die Blätter, die da fallen,

Frag die trauten Nachtigallen,

Wenn sie scheiden – welche Qual

Sie von hinnen treibt?

Nichts auf Erden bleibt!

 

Nichts auf Erden kann dir sagen,

Nichts dir künden, wirst du fragen,

Warum alles muß vergehn.

Nichts gibt Dauer deinem Leben,

Nichts kann dir den Frieden geben,

Was du hier auch magst ansehn,

Was da lebt und leibt:

Nichts auf Erden bleibt!

 

Da kam die Magd von der Festung, die am ersten Pfingstfeiertag abends den Schlüssel nicht in das Schloß der Vorratskammertür gebracht und am andern Morgen den Pater Willius mit geprügelt hatte, des Wegs daher, um mit ihrer Heldburger Kameradschaft in der weichen Nachtluft Knechte und sonstige Bursche durch Singen im Freien anzuziehen. Sie hatte, unbemerkt von Ursel, deren letzte Verse gehört und redete sie an: „Jungfer Böhm, Euer Lied hätt ich ganz mögn hörn; 's muß 'n schön Lied sein. Aber so allein da außen auf dem Weinberg singt sichs gwiß net gut. Die zweit Stimm ist die Hauptsach!“

Ursel drehte sich nach der Sprecherin um und sagte zu ihr: „Du gehst kasaden, net wahr? Da hast du Zeit; setz dich mit her! Wolln ein Lied zu zweit singn: ich den ersten, und du den andern. Kannst du das: Ging in den grünen Wald hinaus?“

Ja, das kann ich“, sagte die Magd und saß schon neben Ursel.

Nun schallte es zweistimmig das Weingelände hinab, daß die angesetzten Reben die Ohren spitzten und sich verwundert reckten und streckten.

 

Ging in den grünen Wald hinaus

Und brach mir einen Brombeerstrauß:

Alleine, alleine.

 

Da kam ein wilder Jäger her,

Und ich erschrak, erschrak gar sehr:

Alleine, alleine.

 

Der Jäger wollt ein Beerlein han,

Ich tat ihn auf die Finger schlan:

Alleine, alleine.

 

Da ward der wilde Jäger wild

Und fragt, was so ein Beerlein gilt:

Alleine, alleine.

 

Ich sprach: Die Beerlein sind nit feil,

Die Frag ist für die lange Weil:

Alleine, alleine.

 

Da ging der wilde Jäger fort,

Ging fort und sagte nicht ein Wort:

Alleine, alleine.

 

Und als ich so alleine war,

Rauft ich verzweifelt mir das Haar:

Allleine, alleine.

 

Und ich zertrat den Brombeerstrauß

Und ging betrübt zum Wald hinaus:

Alleine, alleine.

 

Hör“, sagte Ursel, „du kannst den andern hübsch singen. Ich hab Euch manchmal in der Sonntagsnacht von meinem Schlaffenster zugehört. Das Singn ist mein Lebn! Singst du denn auch manchmal auf der Festung, wenn du allein bist?“

Gar oft, in der Küchn, im Keller, auf dem Boden, im Bett.“

Ich auch. Aber wenn mich eins hört, muß ich gleich aufhörn. 'S ist ordentlich, als müßt ich mich schämen.“

Akkrat so geht mirs. Wie die Tag der Hauslehrer vorbeiging, und ich hörte auf zu singn, sagte er: Sing nur zu, ich hörs gern! Aber ich konnt net.“

Folgn denn seine Scholarn, und habn sie ihn gern?“

Gar arg sehr! Aber heut is seit mittag große Trauer auf der Burg: der Hauslehrer is mit dem Frühsten fort und noch net zu Haus. Wenn nur nix passiert ist!“

Ursel sprang auf und rief: „Wohin? Wohin ist er? Ach, du barmherziger Heiland!“

Weiß's kein Mensch. Der Herr Schösser hat die Knecht fortgeschickt, daß sie sich nach ihm umsehn solln. Der alt Kaspar hat ihn vor Sonnenaufgang hintennaus in den Wald gehn sehn.“

Jedes Wort der Magd fiel der Ursel wie ein Eisklumpen in die Brust. Ohne der Magd ein Abschiedswort zu sagen, wandte sie sich von ihr und stürmte querfeldein den Berg hinab.

Die Magd ging ihres Weges weiter und zankte vor sich hin: „Die tut ja, als wär der Bötzinger ihr Hauslehrer. Das is mir doch ne gspaßige Geschicht! Bild dir nur nix ein, Böhmsurschel! Kenn den Bößinger, schert sich den Teufel um die Weibsbilder!“

Und sie fing wieder an zu singen: „Ging in den grünen Wald hinaus.“ Und weil sie allein war, sang sie den ersten.

Jungfer Ursel hatte nicht die Richtung nach der Stadt zu eingeschlagen; sie lief, die Stadt im Rücken, den Kreckgrund hinauf. Als sie Gellershausen hinter sich hatte, verließ sie die Straße und eilte dem Waldsaum zu. An einer Eiche sank sie zusammen. Ihre furchtbar aufgeregte Phantasie hatte ihr ein Schreckbild ums andre vorgegaukelt. Bald sah sie den Heißgeliebten im tiefsten Wald, an einen Baum gebunden, verschmachten, bald in einem tiefen Wasser untergehen, bald von Räubern geknebelt, bald am Fuße eines Felsens zerschellt: die Sinne fingen an, ihr zu vergehen. Da war sie instinktmäßig dem Walde zugeeilt wie ein wundes Wild, das das dunkle Dickicht aufsucht, um ungestört sterben zu können.

Aber bald raffte sie sich wieder auf. Sie lief das Ufer des Baches entlang, dessen Weiden und Erlen sie vor der Straße verbargen. Ihr Gewand streifte den Tau vom Gras, das ihr mit den blühenden Spitzen um die zitternden Knie schlug. Das Bellen eines Hundes zeigte ihr an, daß sie in der Nähe von Gompertshausen wäre, und sie lenkte ihre Schritte der Straße zu. „Die Lindenelsa kennt sein Schicksal!“ Dieser Gedanke war nach der Erzählung der Burgmagd aus den Wogen ihrer Aufregung emporgetaucht und hatte sie nach Gompertshausen getrieben. „Die Lindenelsa weiß, wo er ist!“

Es war dunkel geworden. Das Lämpchen der Elsa, die noch angekleidet auf ihrem Bette saß, brannte schon, als Ursel in die Stube trat, wo sie tags vorher Trost gefunden hatte, und ihr der Hoffnungsstern aufgegangen war.

Ach du Allwaltender!“, rief Elsa beim Anblick der verstörten Ursel, „was ist passiert, he? Wo kommt Ihr her?“

Ursel war in der Mitte der Stube stehen geblieben und rief mit ausgestreckten Armen: „Elsa, Ihr seid falsch! Ihr wißt, wo der Hauslehrer ist; Ihr wißts und wart deswegen heut bei uns. Er ist noch immer nit nach Haus. Was ist passiert? Sagts, daß es mit mir sein End nimmt! Ah, ich erstick vor Angst!“

Es war der lahmen Magd nicht möglich, den heftigen Ausbruch der Leidenschaft zu unterbrechen. Bei den letzten Worten war Ursel mit beiden Händen nach der Brust gefahren. Elsa war an Ursel herangewankt und zog sie an den einzigen Stuhl, den sie hatte. „Da setzt Euch erst, arm Kind! Freilich weiß ichs. Aber wer hat Euch denn vergeblich in Angst gstürzt?“

Ursel war auf den Stuhl gesunken; aber sie sprang wieder auf und rief: „Wo ist er? Sagts, wenn Ihr nit falsch seid!“

Bin net falsch, lieb Kind! – Setzt Euch! 'S wird alles gut. Mehr darf ich net sagn. – Und nun nehmt Vernunft an! Das will ich Euch aber sagen, daß Ihr mir mit Euerm nassen Schuh aufs Herz tret't, wenn Ihr sagt, ich wär falsch. Wenn ich auch 'n elends Mensch bin; aber da drin – und dabei legte sie die krumme Gichthand auf die Brust –, da drin siehts gut aus, so gut wie bei Euch und bei Eurer Mutter und Euerm Vater und wie beim Bötzinger. Sollt mich gleich das fahrend Ding vor Euern Augn abwürgn, wenn ich falsch wär! – Wie die Mannslieb ist, weiß ich net! Aber die Schwesterlieb und die Bruderlieb dadrin laß ich mir net bedrecker!“

Gekränkt setzte sich Elsa auf ihr Bett und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und weinte. Da fing auch Ursel an zu schluchzen.

Bald aber gewann in Elsa Besonnenheit und Energie zum Handeln wieder die Oberhand. Sie verzieh dem liebenden Mädchen die angetane Kränkung, trat an sie heran und sagte: „Nun flennt net mehr! – Ihr habt den Kopf verlorn; 's ist aber net nötig! Glaubt mir das! Mehr kann und darf ich Euch net sagn. Eure Mutter ist allein zu Haus; die habt Ihr im Stich gelassen. So weit sind wir noch net! Die arm Frau Böhm ist daheim in Sorg und Angst um Euch, und Ihr tut ihr auch das noch an und rennt der Nacht entgegen nach Gompertshausen!“

Vor Schrecken sprang Ursel auf. Und wie zerknirscht fing sie heftig an zu weinen.

Flennt nur net mehr! – Nun helft mir! – Ihr könnt in der Nacht net allein nach Haus in dem Zustand. Ich will Euch nach Haus fahrn. Aber mich und meinen Fritz müßt Ihr bei Euch übernachten lassen. – Flugs, Urschel! Draußen steht der Karrn. Schirrt mir den Gaul ein. Ich will Euch leuchtn.“

Die Zurechtweisung der Elsa hatte Ursel so ernüchtert, daß sie dem gebrechlichen Weib gegenüber plötzlich einen fast ängstlichen Gehorsam bewies und unter seinen belehrenden Andeutungen das ungewohnte Geschäft des Einschirrens sehr rasch ausführte. Der Elsa entging freilich das Zittern der geschäftigen Hände nicht; aber sie tat, als merke sie nichts. „Sola, sola! Mei Töchterle!“, brummte sie, als der Gaul reisefertig am Karren stand, „will mein'n alten Mantel holn, daß Ihr Eure nassen Füß nein wickelt und net amend noch krank werdt.“ Bald kam sie wieder. „Den Türdrücker hab ich eingesteckt; nun helft mir auf den Karrn!“

Ursel saß neben der lahmen Magd auf dem Karren – ihre nassen Füße bis an die Knie in den Mantel gewickelt; in ihrem Kopf brauste es, und die Schläge ihres Herzens drohten das Mieder zu sprengen.

Fritz!“, sagte die Lindenelsa zu ihrem Gaul, „so spät sind wir noch net ausgfahrn; aber der Zacher wird dirs im Hafer gut tun. Jüa!“

 

Die Magd der Frau Böhm war nach dem Abendessen auch kasaden gegangen und war unter den auf der Koburger Straße langsam dahinziehenden singenden Mädchen. Die Burgmagd ging als Sängerin der zweiten Stimme in der zweiten Reihe. Und als das erste Lied zu Ende war, zupfte sie die vor ihr schreitende Lise am Wamsschoß und ging mit ihr auf die Seite. „Hör, Lise!“, sagte sie leise, „Euer Urschel hats auf unsern Hauslehrer. Vorhin hat sie oben am Rain gesessen, und wie ich vorüber wollt, mußt ich mich zu ihr setzen und mit ihr singn: „Ging in den grünen Wald hinaus!“ Darnach kams auf unsern Hauslehrer, und wie ich sag, daß er mit dem Frühsten fort und noch net heim ist, und daß sich der Herr und die Bubn Sorg um ihn machn, verfärbt sie sich und sieht aus, als wärs die Urschel gar net mehr, und rennt den Berg nunter und nach Gellershausen zu, als wär sie übergschnappt. Das ist mir ein tolls Mensch!“

Die Lise erschrak; aber wie mit einem Schlag stand all das Ungewöhnliche, das im Hause des Ratsherrn Michael Böhm in diesen Tagen zusammenhanglos und unverständlich an ihren Augen vorübergegangen war, wieder vor ihr. Sie brachte sofort den Besuch der Lindenelsa und die Reise ihres Herrn und des Superdenten in Zusammenhang mit der Abwesenheit des Hauslehrers. Ihre Bewegung verbarg die kluge, treue Lise, aber sie sagte: „Du tust ihr Unrecht; unser Urschel is kreuzbrav, und ich möcht doch sehn, wos ne zweite Urschel gäb! Sag nix zu den Leuten über unser Urschel; 's wird dir vergolten.“

Die schäkernden und schwärmenden Mägde hatten eben wieder ein Lied angestimmt, und die Burgmagd eilte wieder in die Reihe des „andern.“ Lise aber schlich sich davon; und als sie nicht mehr bemerkt werden konnte, lief sie eiligst, mit klopfendem Herzen nach Haus.

Die Frau Böhm stand vor der Tür wie ein Schatten und rief enttäuscht der Lise entgegen: „Du bists? – Wo nur die Urschel bleibt?“ – Ihre Stimme bebte. Die keuchende Lise teilte der Frau Böhm mit, was sie eben gehört hatte. Da sank die gute Mutter, die zwei Tage lang aus einer Aufregung in die andre geschleudert worden war, in den großen, lederbeschlagnen Lehnsessel in der Ecke: die Kraft der starken Frau war erschöpft.

Ach Gott, Frau!“, rief die Lise – „was ist Euch? – Kommt, Frau, wolln räuchern und beten! Das Elend ist in Euer Haus eingebrochen mit den Kälberdieben. Der Hexenmeister, den sie gestern vorbeigeführt habn, hats vollends fertig gemacht.“

'S muß auch so sein“, sagte leise die Frau Böhm; „aber erst geh der Urschel entgegen nach Gompertshausen; und wenn du mit ihr kommst, wolln wir beten. Lauf tüchtig, Lise!“

Lise eilte davon. Die Sorge und Angst um ihre Herrin und die brave Ursel beflügelten die Schritte der treuen Magd. Nicht weit über Gellershausen draußen stieß die geängstigte Lise auf den Karren der Lindenelsa. Sie erkannte trotz der Nacht schon aus ziemlicher Entfernung das Gefährte am Schritt des alten Fritz und rief ihm entgegen: „Habt Ihr unser Urschel?“

Freilich, freilich! Jüa, Fritz! Setz dich auf, Lise!“

Fahrt nur zu, 's geht mir zu langsam!“, rief die Lise zurück und lief eben so schnell, als sie gekommen war, der Stadt zu.

Die Frau Böhm saß noch im Lehnstuhl, als die Lise wieder eintrat, außer Atem und unfähig, ihre Botschaft gleich zu verkünden. Frau Böhm beugte sich nach vorn und fragte: „Wo ist die Urschel?“

Die Lindenelsa bringt sie, hat sie net allein in der Nacht gehn lassen wolln. Gtröst't Euch, gute Frau: Gott ist mit im Schiff!“

Nach einer kleinen Weile begann sich die Seele des Hauses in der Frau Böhm wieder zu regen: „Lise, trag was auf! Das arm Kind hat noch nix gegessen, und die arm Lindenelsa macht den Weg heut zum drittenmal. Hol Schinken, Butter, Honig und nen Krug Bier! Dem Zacher sag, er soll der Elsa den Gaul besorgn; und morgen soll er einen Sack oder ein paar Säck Hafer auf ihren Karrn binden. Sie schläft in der vordern Kammer; mach ihrs Bett hübsch!“ Die Stimme der Frau Böhm bekam nach und nach wieder Klang.

Die Lise ging, um aufs pünktlichste alles zu besorgen, was ihr aufgetragen worden war. Und die Frau Böhm erhob sich aus dem Sessel und wartete am offnen Fenster auf das langsame Fuhrwerk.

Die lahme Magd von Gompertshausen gewann durch die wichtige Rolle, die ihr in der Geschichte eines der ersten Häuser Heldburgs zugefallen war, und durch die Verknüpfung ihrer Person mit dem Leben des „gescheiten“ und „braven“ Martin

Bötzingers und des „treuen“ Spitzbubenmarschalls immer mehr an Menschenkenntnis, Scharfsinn, Umsicht, Selbstgefühl und Willensfestigkeit und fühlte sich im Grunde ihres Herzens recht glücklich, daß sie als „elendes Mensſch“ solchen Einfluß und solche Gewalt über die Gemüter „gscheiter,“ braver und angesehener Menschen ausübte.

Wenn sie allein war und nicht an ihr „fahrend Ding“ dachte, sagte sie oft mit Stolz: „'S wär nix, wenn sie die Elsa Geßnerin net hättn!“ Und wenn die Elsa Geßnerin die Gicht nicht gehabt hätte, so würde sie aufgetreten sein wie ein General. So aber humpelte sie ächzend der Treppe des Michael Böhm zu und ließ sich von der Frau Böhm, die ihr entgegenkam, und von der Jungfer Ursel fast in einiger vornehmer Lässigkeit in die Stube helfen.

Sie hatte an dem Tage in diesem Hause die durch Sorge, Angst und Schrecken verstörten Gemüter geschickt wieder „zurecht“ gebracht und stand nun wieder da vor derselben Aufgabe. „Da bring ich Euch Euer Töchterle! Ihr habt viel Angst um sie ausgestanden, Frau Böhmin!“

Und um den Hauslehrer, der noch net nach Haus ist“, fügte Frau Böhm hinzu. Ursel horchte auf.

Elsa fuhr fort: „Um den Hauslehrer? Welch Schandmaul hat denn davon geplappert? Die Leut so zu ängstigen! Hab ich heut mittag net gsagt: 'S wird alles gut? Gilt die Elsa Geßnerin nix mehr?“

Mir hats die Burgmagd gsagt“, lispelte Ursel; und die Frau Böhm fuhr fort: „Und die Lise, der die Burgmagd alles erzählt hat, ist flugs nach Haus und hat mir gebeichtet. Ach, ich bin schon bald vergangen!“

Da habn wirs! Na, 's is nun net zu ändern! Aber ich will dafür sorgen, daß mir kein Querkopf wieder ins Geheg kömmt! Da bleib ich bei Euch, bis der Herr Böhm und der Herr Superdent von Koburg wieder da sind. Will doch sehn, obs net wird, wie ichs habn will!“

An der Zuversicht, die aus dem Wesen der Lindenelsa sprach, und an der Energie, mit der sie gegen die Sorgen und Ängste des Hauses kämpfte, stärkten sich bald die Herzen der Mutter und der Tochter. Ursel mußte sich umkleiden und entfernte sich, aber sie kam bald wieder und setzte sich neben Elsa. Die ließ sichs an dem gut bestellten Tische schmecken und brachte es auch so weit, daß Ursel, die anfangs behauptete, keinen Hunger zu haben und nichts von den Speisen anrührte, endlich doch auch zulangte. Und als der zurückgesetzte Magen durch etliche Bissen aus seiner Lethargie erweckt worden war, begann er sein Recht nachdrücklich zur Geltung zu bringen, und die Lindenelsa schob der Jungfer Ursel fleißig zu und schänkte ihr ein. In der Mutter Auge zeigte sich wieder einiger Glanz.

Es war spät geworden. Ursel holte die Hauspostille herbei und las das sonntägliche Abendgebet. Auch Zacher und Lise waren zur Andacht gerufen worden. Als die Dienstboten „Gute Nacht“ gesagt hatten, humpelte die Lindenelsa zum großen Lehnsessel und schien sichs da bequem machen zu wollen. Die Frau Böhm aber bedeutete sie: „Elsa, Ihr schlaft in der vordern Kammer in einem weichen Bett; der Sessel is net dazu da.“

Sola, sola!“, brummte die Elsa, „dacht mirs schon. Wollt Euch nur vor dem Schlafengehn ne kleine Weibergeschicht erzähln, die ich von meinem Vater hab. Die nehmt Ihr mit ins Bett und wickelt Euch nein, daß Ihr besser schlaft. Horcht zu!

'S war einmal ein Krieg, der heißt der Schwabenkrieg. Da fieln manchmal deutsche Völker in die Schweiz. Als einmal welche ins Dorf Schleins kamn, warn alle Gassen leer und alle Häuser verschlossen bis auf eins. Und aus dem kam ein arger Küchendampf. Die Leut warn alle mit zur Leich gegangn, und in dem Haus, wos dampfte, wurde für die vielen Gäste zu nem Leichenschmaus gekocht. Die Landsknecht fieln in das offen Haus und fragten: „Wo sind eure Männer? Und für wen sind die vielen Suppenkessel da?“ Die Hausfrau sagt: „Unsre Männer sind einem Schweizerheer entgegen gezogen, und das wolln wir bewirtn, und für so viel Mäuler brauchts viel Schüsseln.“ Da wurds den Landsknechten warm in den Hosen, also, daß sie abzogn. Die klug Hausfrau lief schnell in die Kirch, holte die Männer, nahm eine Kirchenfahne und gab der Nachbarin auch eine. Und die beiden Weibsleut mit den Fahnen sind dem Zug voranmarschiert, der den Feind verfolgte. Wie nun die Landsknecht die beiden Fahnen sehn hinter sich herkommn, denken sie, das ist das Schweizerheer und reißen aus wie Schafleder. Und viele stürzen in die Abgründ, oder werden eingeholt und erschlagen. Sola! Nun wolln wir uns niederlegn.“

Die Frau Böhm brachte die Lindenelsa zu Bett. Und Jungfer Ursel stand in ihrem Schlafzimmer vor dem offnen Fenster und blickte hinauf nach der Burg. Ihre Lippen bewegten sich nicht, aber ihrem Herzen entstieg ein heißer Strom: sie betete noch besonders für den Hauslehrer, weil er in der Hauspostille nicht inbegriffen war.

 

Wie sich das so manchmal fügte, besonders am Sonntag, wenn Zacher nicht zu müde war: er saß neben der Lise in der Stallhalle auf dem Trog, wo für das Vieh die Rüben klargestoßen wurden, und der mit einem Brett zugedeckt war gegen Verunreinigung durch die Hühner.

Lise“, sagte der Zacher, „wies 'zund in dem Haus zugeht – 's is drüber naus! Ne Sau beinah verreckt, zwei Kälber gstohln, der Herr, als hättn ihm die Hühner 's Brot gnommn, die Frau wie ne arme Sünderin; die Urschel wien Kind in der Irr, und die lahm Magd führts Regiment. Und du fängst nun auch noch an! Ich bleib noch übrig wien Kloß, den sie alle umgehn. Sagts, wie ichs machen soll! Will auch a weng närrisch wern.“

'S kann net allzeit gleich sein!“, sagte die Liſse, „morgn wirds gut, behaupt't die Lindenelsa.“

Kann das Gompertshäuser Ding net leidn. Sie hat die Gicht, ihr Gaul hat die Gicht, und der Karrn hat die Gicht. Son Fuhrwerk einem ins Haus zu bringn! Aber die tun mit dem Mensch, als wärs die Herzogin.“

Unsrer Sau hat sie doch gholfn! Und ich denk, daß sie auch der Urschel noch hilft. 'S is net ohne mit der Lindenelsa, Zacher!“

Meinthalbn! Abers Fuhrwerken soll sie unterwegens lassen, das isn Spott!“

Toller Kerl! Wenn sie Knochn hätt wie du, braucht sie net zu fahrn.“

Einem so ne elend Mähre in den Stall zu stelln! Aber sie is mir halt immer noch lieber wie der Rapp, der dem Beckendres in Ummerstadt in den Stall gekommen war.“

Wie wars mit dem Rappen?“

Mein Frela war von Ummerstadt; die hats erzählt. War in der Nacht nmal ein Heidenspektakel im Stall, daß der Beckendres munter wird und aufsteht; und wie er in den Stall kommt, findt er da 'n kohlschwarzen Gaul mit ner Mähne so struppig wie Besenreisig. Aber die Schindmähre schmeißt so höllisch, daß er sie net naus bringen kann. Als der Knecht früh füttert, wars Luder fort. Nach etlichen Wochen ist der schwarz Schmeißer wieder über des Dresen Gäuln. Da merkt er, daß der fremd Gaul keine Eisen hat, und holt 'n Schmied und läßt ihm sötte aufnageln. Früh schreit die Nachbarin gradnaus und liegt im Bett und ist an allen Viern mit Hufeisen beschlagn.“

Zacher, dös is ne wehthuerisch Gschicht. Mei Frela hat mir ne viel schönere erzählt. Schläfst doch net, Zacher? Horch zu! Es war einmal ein mutiger Ritter; der war so traurig, weil er keine Kinder hatte, daß er mit Gott haderte. Da bekam seine Frau nen wohlgestalten feinen Knaben; aber er hatte weißes Haar wie das Alter. Und dem Ritter ward bang vor dem Hohn und Spott der Welt, und er ließ das Knäblein in die Wildnis tragen. Der Vogel Greif aber trug es auf den hohen Felsen und legte es seinen Jungen vor. Die jungen Greife sahen das Kind mitleidig an, und es kam Blut aus ihren Augen; denn die Schönheit des Kindes rührte sie gar sehr. Nun zog der Vogel Greif den Knaben groß mit zartem Fleisch. Einmal träumte der Ritter von seinem Sohn, und die Weisen und Wahrsager deuteten den Traum, daß der Sohn noch lebe. Nun zog der Ritter aus, ihn zu suchen, und fand ihn, herangewachsen zu einem starken, herrlichen Jüngling, und der Vogel Greif trug ihn hoch in die Lüfte und legte ihn dann dem Vater zu Füßen. Der Vater tat ihm ein Panzerhemd an und ein königlich Gewand und setzte ihn auf ein Roß und brachte ihn auf jene Burg. Er ward ein mächtiger Held, der es mit einem Heer von Rittern aufnahm. Nun begab sichs, daß die Kunde von der wunderbaren Rettung des Rittersohnes vor den König kam. Der befahl den Ritter mit seinem Sohne vor sich, daß er die Geschichte erzähle, genau, wie sie sich zugetragen habe.

Zacher, schläfst doch net?

Und des Greifen Pflegesohn ward vom König hoch geehrt. Leuchtend in Schönheit zog er durch alle Lande und kam an den Hof eines Heidenkönigs. Da erzählten ihm die Großen von des Königs Töchterlein; das wär von Antlitz schöner als der junge Tag, von Haupt zu Fuß wie Elfenbein, der Silberhals von langem Haar umschlungen, der Mund wie Granatblüt, der Narzisse gleich das Aug, und die Wimper schwarz wie Rabenflügel, voll Reiz und Lieblichkeit und holder Reden. Da war des Ritters Ruh dahin; Tag und Nacht dacht er an die Königstochter. Und so gings auch der Königstochter, als sie den Ritter rühmen hörte. Und sie schickte ihre Dienerinnen aus, daß sie ihr Kunde brächten von dem Ritter und ihn zu ihr bestellten. Als nachts die Königstochter am Fenster stand, kam der Ritter. Da ließ sie ihr langes Haar vom Fenster niederhangen bis zur Erde, daß der Ritter sich daran anhalten und zu ihr hinauf steigen sollte. Aber der Ritter warf eine Fangschnur nach dem Fenster und zog sich daran auf. Und im süßen Wein der Liebe wurden sie trunken. Einmal schickte der Ritter seiner Geliebten Botschaft, und die Königstochter gab der Botin eine Krone mit Edelsteinen besetzt und einen kostbaren Ring, daß sie die Kleinode dem Ritter brächte. Aber die Botin fiel der Königin in die Hände, und es kam alles an den Tag. Da schalt die Königin hart ihre Tochter, und der König brüllte vor Wut.

Schläfst doch net, Zacher?

Das Herz der Königin wurde aber weich mit der Zeit, also daß sie auch den König sänftigte. Der ließ den Ritter kommen und gab ihm auf, drei Rätsel zu lösen. Das erste lautete: „Zwölf Bäume weiß ich, ein jeglicher hat dreißig Zweige, die sich nie vermehren und auch nicht verdorren.“ Sprach der Ritter: „Das sind die zwölf Monde mit ihren dreißig Tagen. Das andre lautete: „Zwei Rosse, das eine schwarz, das andre hell, jagen einander, und keins erreicht das andre.“ Sprach der Ritter:

Nacht und Tag!“ Das dritte lautete: „Auf einer grünen Wiese steht ein finstrer Mann mit einer Sichel und schneidet Trocknes und Grünes ohn Mitleid.“ Sprach der Ritter: „Das ist das Leben und der Tod!“ Der König freute sich ob der Weisheit des Ritters und richtete ein großes Fest an mit Ritterkämpfen, in denen der Geliebte der Königstochter auch seine Kraft beweisen sollte. Als er all die Kämpfer und Helden niedergeworfen hatte, erhub sich großes Lob und Rühmens auf den Gast, und ein prächtig Ehrenkleid, ein Roß, ein perlenreicher Stirnreif, Armringe, goldne Ketten und Gürtelbänder waren sein Lohn. Reich beschenkt also zog der Ritter nach Haus, und es war da große Freude. Als darnach die Hochzeit war, saß das Pärlein über die Maßen geschmückt auf einem Thron, und sieben Tage dauerte der Jubel und das Zechen. Und nach der Hochzeit wohnten sie glücklich beisammen auf ihrem Schloß.

Bist richtig eingeschlafen, Zacher?“

Kannst mich ärgern damit, Lise! Bei so ner Hochzeitsgeschicht werd ich einschlafen!“ Zacher seufzte. Lise war dicht an ihn herangerückt und fragte:Zacher, was fehlt dir denn?“

Wollt dirs schon lang sagn, Lise, daß mein Vater beim Burgvogt von Schaumberg in Rauenstein Kutscher ist, und daß ich einmal seinen Dienst kriegen soll. Der gnädig Herr kennt mich schon.“

Zacher, das hast du mir nun schon hundertmal erzählt!“

Ja doch; aber ich wollt dich was fragn.“

Da frag doch, du Tölpel!“

Zacher hustete leise und fragte nicht. Da sagte Lise: „Hast vorhin gsagt, du wärst 'n Kloß: bists, und wüßtest net, wie man närrisch wird: bists schon, ärger wie ich und die Urschel und die Frau Böhm.“

Zacher räusperte sich und begann herzhaft: „Wollt dich was fragn – wirsts schon wissen, Lise! Na, wollt dich fragen, ob du mich nachher nehmn willst, wenn ich beim Burgvogt Kutscher bin?“

Wenn nun auch die Stallhalle nicht glänzte wie das Schloß in der Hochzeitsgeschichte der Lise, und der Stoßtrog nicht so hoch und propper war wie ein Königsthron: der Zacher und die Lise waren so glücklich wie Ritter und Königstochter; denn die Lise hatte nicht nein gesagt: sie hatte dem Zacher mit einem Kuß geantwortet.