Vierzehntes Kapitel
Leid um den Gefangnen
„Ich bin hingeführt worden als Knabe an den Pfahl, an dem die gute Mutter meines Spielgenossen festgeschmiedet und verbrannt ward. Gut war sie, rein und treu! O, wie gut war sie auch gegen mich! Wie oft mußte ich neben ihrem Hans Milch trinken! Und dann bat sie mich so herzlich: „Sags net zu Haus!“ Bald hatte sie einige Pflaumen für mich, wie für ihr eignes Kind, bald eine Birne, bald einen Apfel, bald Nüsse. Damals dachte ich nicht daran, was das zu bedeuten habe; ich nahm alle diese Kleinigkeiten hin wie der Hans auch und dachte so wenig dabei wie der Hans, vielleicht noch weniger. O, wenn ich jetzt mir diese herzensgute Frau vorstelle, wie sie mir das Haar aus den Augen strich oder den aufgefahrnen Hosennestel zuzog: im möchte von Sinnen kommen! Denn wer hat außer ihr mich geliebt? Meine Eltern. Und diese haben jene an den Pfahl gebracht. O Jammer! O Qualen der Hölle, die ich zu dulden habe zwischen dem Weib am Pfahl und meinen Eltern! O, schreckliches Geschick, zu einem Leben in diesem Jahrhundert verdammt zu sein! Es zerfleischt die Edelsten, es würgt die Bravsten: Gleisner und hohle Tröpfe erhebt es auf den Schild!
Theologie habe ich studiert. Wie gedachte ich mich zu erheben durch dieses Studium! Wie hatte ich mich gefreut, durch dieses Studium empor zu klettern auf den heiligen Berg gleich einem Moses und zu schöpfen aus dem heiligen Bronnen, empor zu steigen auf den Berg der Verklärung und mit Johannes zu liegen an des Heilands Brust! Auf den schmalen Stegen nichtsnützer Tüfteleien haben sie mich balancieren gelehrt; in den Gossen des scholastischen Unrats haben sie mich waten lassen. Der Stand, der lebendig sein soll im Volk unten und oben, zwischen Hoch und Niedrig als Träger der gewaltigen Liebespredigt des heiligen Nazareners und seines hohen Beispiels, dieser Stand ist eifrig, gute, edle Mütter zu verbrennen. Und diesem Stand gehöre ich an, und dieser Stand wird mich verfluchen, wenn ich mich wider ihn setze, wider seine Verblendung und seinen Wahn.
Was ist Recht und Gerechtigkeit heute? Was ist noch mein und dein? Ruft sie an, die das Recht studiert haben! Es ist ihnen ergangen wie mir. Aber sie wissen es nicht und vermeinen, sie wären die wandelnde Gerechtigkeit des Himmels auf Erden. Sie schüren große Feuer und verbrennen die leibhaftige Liebe und Treue und reiben sich die Hände vor Wohlbehagen und erwarten Gottes Segen für ihre Schaudertaten.
O armes, elendes Volk, das solchen Mächten unter die Füße geworfen ist.
Vor fünfzehn Jahren schon hätten sie den Hans mit verbrannt, hätt ihn nicht die Verzweiflung und der Todesschrecken ihren Kreisen entrafft. Das arme, gichtbrüchige Weib hat ihn aufgehoben, als ihn der Tod schüttelte, dem ihn die Heimat in den Rachen gejagt hatte, hat ihn aufgehoben und gerettet und hat sich gefreut, als wär ihr in dem verlornen Hans ein Sohn gegeben – hat beklagt seine Verirrung unter die Unehrlichen, unter die ihn die Ehrlichen getrieben haben, hat Hoffnung gehabt, die frohe Hoffnung, daß er sich in diesen Tagen zu einem neuen, bessern Leben aufraffen werde, und hat in dieser Freude durch ein einziges Wörtlein ihn – verraten an die bluthungrige Welt. Wehe, Wehe über diese Welt! Jetzt werden sie ihn foltern! O, ihr schandbaren Höllenknechte!
Aus dem Wahnsinn deiner Mutier und aus ihrer Asche haben sie sich den Fluch groß gezogen, der dich endlich im Genick gepackt und dich in ihre Folterkammer geschleudert hat!
Aber so wahr ein Gott im Himmel lebt, und so wahr sein Sohn für das Evangelium der Liebe seine göttliche Seele am Holz ausgehaucht hat: ich rette den Hans!“
Wie Donner rollten die letzten Worte über die Lippen Martin Bötzingers, während er die geballten Fäuste nach dem Fenster streckte. Er griff nach seinem Stock, verließ sein Zimmer und stürmte zur Burg hinaus, den Berg hinab. Er hörte nicht den Lerchengesang und sah nicht die Blütenpracht umher und sah auch nicht die Jungfer Ursula Böhm die nicht weit vom Weg auf dem Rand eines Weinfeldes saß.
Die Unruhe und Angst, die das Innere der Jungfrau erfüllte, war durch den Zuspruch des Superintendenten ein wenig gedämpft worden, hatte sich aber nach seiner Entfernung mächtiger als vorher aufgebäumt und sie hinausgetrieben ins Freie. Sie war am Festungsberg umhergeirrt und hatte vor einer halben Stunde die Lindenelsa davonfahren sehen. Sie hatte vor sich hin gerufen: „Ach, Elsa! Du warst bei ihm auf der Festung und hast es ihm erzählt; du hast ihm erzählt, daß sie deinen Hans gefangen haben und verbrennen wollen; du hast ihm erzählt, daß ich ihn verraten habe. Was hat er zu dir gesagt, Elsa? Hat er mich verdammt, verflucht? O, ich kann dir nicht unters Gesicht treten, armes Weib! Sonst lief ich dir nach und ruhte nicht, bis du mir seine Worte sagtest! Ich elendes Ding da inmitten des Maies! Die Blüten fallen ab vor mir! Siehsts, Elsa Geßnerin, wie sie fallen und den Weg weißen wie Schnee! Huh! Kalter Schnee im Mai!“
Matt war Ursula auf den Rand des Weinfeldes hingesunken. Bötzinger hatte sie nicht gesehen. Und weil er doch so nahe an ihr vorübergeschritten war und sie nicht gegrüßt hatte, barg Ursula ihr Gesicht im Schoß und schluchzte, überwältigt von unsäglichem Schmerz.
Als Bötzinger längst durch das Tor der Stadt verschwunden war, erhob Ursula endlich das Haupt und sagte leise: „Er verachtet mich! Ich mag nun nimmer leben!“
Martin war zum Herrn Superintendenten geeilt. Der hatte eben angeordnet, daß mittags von zwölf bis ein Uhr mit allen Glocken geläutet werde, um seinen Sprengel, nachdem der Teufel gebannt und ausgetrieben war, kirchlich zu weihen.
Dem zu ihm eintretenden Martin Bötzinger gegenüber ließ sich der wichtige Mann Gottes also vernehmen: „Herr Bötzinger, mein lieber junger Freund, der Er auch den großen Beruf der Seelsorge erwählet hat, es wird Ihm bereits bekannt sein, welchen Triumph ich in den Annalen meiner Amtstätigkeit zu verzeichnen habe gegenüber dem Satanas, der in meiner Diözese eingebrochen war.“
„Man hat den Hans vom Straufhain gefangen, habe ich gehört, und foltert ihn wohl schon in Koburg und will ihn als einen Hexenmeister verbrennen.“
„So ist es, mein lieber Bötzinger! Es war ein saures Stücklein Arbeit; aber es ist uns ausgeschlagen zur Ehre Gottes. Nimm Er sich das zum Exempel! Ich bin zweimal nachts bei nicht geringer Gefahr, die ob unsrer Gegend durch die Bande des Meisters der schwarzen Kunst schwebte, im Walde bei Gompertshausen gewesen und habe daselbst an geheimem Ort die Männer der Landessicherheit eingesegnet zu ihrem schwierigen Werk. Aber wie schon vermeldet, der Herr hat mein Tun gekrönet mit dem Sieg des Kreuzes über das Werk der heidnischen Finsternis. Der Name des Herrn sei gelobt!“
„Hochwürden! Daß unter der Direktion des Hans auf dem Straufhain eine Spitzbubenbande allerhand Diebswerk getrieben hat, ist ja wohl bekannt. Aber wo liegen die Beweise für die schwarze Kunst des Hans? Wer kann eine Spur nachweisen von einem Bündnis, das er mit dem Teufel gehabt haben soll? Und doch soll und muß dieser Mensch verbrannt werden?“
Dieses Tones hatte sich der Herr Superintendent von dem jungen Mann, der vor zehn Jahren sein Schüler in Koburg gewesen war, nicht versehen. Wie? So ein heuriger Has will einen Zweifel in diesen Triumph setzen? Will einen gewissenhaften Mann in seinem Amt und in seiner Würde durch gotteslästerliche Bedenken alterieren? Unerhört! Des Superintendenten Gesicht rötete sich, seine Stirnadern traten heraus wie blaue Schlangen, und er hub an mit donnernder Stimme: „Wer hat Ihn als Anwalt des Teufels zu mir kommen heißen? Junger Mensch, ist Er von Sinnen? Bedenkt Er nicht, vor wem Er steht? Ein Wort von mir, und es ist um Ihn geschehen!“
„Hochwürden! Ich komme nicht als Anwalt des Teufels. Ich komme auf Anregung meines Gewissens und in Sorge um mein Seelenheil zu Euch. Helft mir! Meines Gewissens Not bringt mich sonst um!“
Der Herr Superintendent Sebaldus Krug wurde wieder sanft wie ein Lamm nach solchem Aufschrei einer gequälten Seele. Er forderte den Herrn Bötzinger auf, unumwunden zu beichten und seines Herzens Anliegen ohne Bedenken und Zagen kund zu geben.
Bötzinger erzählte nun sein und seiner Eltern Verhältnis zu der Mutter des Hans und deren klägliches Ende; er schilderte mit den lebhaftesten Farben den großen Konflikt, in den er geraten war durch seine Liebe zu der armen Sambel von Mupperg und durch seine unerschütterliche Überzeugung von ihrer Unschuld, und wie aus dieser Überzeugung sein Zweifel an der Existenz von Hexen und eines persönlichen Teufels herausgewachsen sei, und der Konflikt sich so verstärkt habe, daß er sich als eine vereinsamte Kreatur unter einem wahnsinnigen Geschlecht fühle: Und wie ich weiß, daß die Sambel unschuldig verbrannt worden ist, so weiß ich auch, daß ihr Sohn dem Wahnsinn unsrer Zeit zum Opfer fallen soll. Wehe über diese Zeit!“
Der Herr Superintendent sah den jungen Mann nach seinen letzten Worten einige Augenblicke mitleidsvoll an und sagte dann: „Lieber Herr Bötzinger! Es ist jammerschade um Ihn. Aber Er ist ein neu Exempel zu der alten Erfahrung, nämlich daß ein Verrückter sich für vernünftig hält und alle Vernünftigen für Narren erklärt. Hat Er denn nicht soviel gelernt auf den Schulen, daß Er weiß, daß wenn er die Existenz des Teufels leugnet, Er mit einem Bein im Atheismus steht und mit Nächstem als ein gottloser Mensch unstät und flüchtig, gleich als ein toller Hund, unrettbar in den Abgrund stürzet?“
„Mein Gott, in dem die Idee der Erlösung von Ewigkeit her ein Bestandteil ist, ist so groß und erhaben, weil er eben die Liebe, Gnade und Barmherzigkeit ist, und wir, seine Menschenkinder, sind so klein und niedrig, so schwach und schwankend, daß er zu unserm Heil so schon genug zu richten und zu weisen, zu heben und regieren hat, und nicht erst nötig ist, seine Allmacht, Liebe, Gnade und Barmherzigkeit aufzurütteln durch einen Teufel, der nach Gottes Geschöpfen sähet und stellet.“
Der Herr Superintendent ward durch die simple Argumentation des jungen Theologen einigermaßen verblüfft. Ein Superintendent ist aber gewöhnlich ein gewandter Mann, der sich durchaus nicht merken läßt, daß ihn etwas verblüffen könnte.
Der Herr Sebaldus Krug schlug den verabschiedenden Ton an und erklärte: „Lieber Herr Bötzinger! Er scheint seine Studia zu oberflächlich getrieben zu haben, sonst müßte Er wissen, daß unsre gelehrtesten und größten Theologen – ich will Ihn nur an den Doktor Martinus Lutherus erinnern – nicht nur überzeugt waren von der Existenz des Teufels, sondern sogar viel mit ihm persönlich zu schaffen gehabt haben. Laß Er sich künftig nicht mehr einfallen, unsre Theologie und unser Jus über den Haufen werfen zu wollen, sondern lern Er noch was Tüchtiges, so will ich seine närrischen Einfälle vergessen und Ihn zur Zeit empfehlen.“
So ward der arme Bötzinger in Sachen des armen Hans von der ersten theologischen Instanz heimgeschickt.
Im Hause des Ratsherrn Michael Böhm war aller Zusammenhang aufgehoben: der Ehewirt und die Ehewirtin gingen aneinander vorüber wie Fremde, jedes als hätt es kein gut Gewissen; der Zacher fluchte und schimpfte zwischen seinen Gäulen herum und pochte mit dem Striegel viel heftiger an die Standsäule, als es nötig war, den Staub heraus zu bringen, und die Lise warf den Futterkorb in die Ecke, als hätte sie sich an ihm einen Spreißel in den Finger gestoßen; dem großen Rosmarin in Ursulas Stübchen hatte der Gram die dicken, schmalen Blätter am Rande krumm gezogen; der Marumverum ließ seine jungen Spitzen traurig hängen, die Muskatblättlein lagen matt auf dem Rande des Scherbens, und das Gelbveigelein legte seine welken Blumenblätter um die Staubgefäße wie zum Sterben. Die Schwalbe hatte sich auf ihrem Singstand heute noch nicht sehen lassen, war am Festungsberg umhergeschweift und hatte sich nach der Urschel umgesehen, und als diese ins Haus zurückgekehrt war, hatte sich das treue Hauswesen in der Halle vor dem Stall leidvoll und stumm unter einen Dachsparren gedrückt.
Beim Mittagessen schmeckte es allen nicht; Ursel legte den Löffel zuerst weg. Die Mutter fuhr sich mit der Schürzenspitze über die Augen und sagte: „Urschel, gräm dich doch net! Denk dran, was der Herr Superdent gesagt hat. Er ist unser Beichtvater und weiß den Willen dessen, der die Nieren prüft.“
Aber Ursel stand auf vom Tisch und ging in ihr Stübchen und warf sich aufs Bett und weinte. Sie war matt wie ihre Blumen am Fenster und schlief ein. Die Mutter sah nachmittag nach ihrer Tochter und flüsterte dann unten in der Hausflur ihrem Ehewirt zu: „Sie schläft. Der liebe Gott wird ja mit seinem Frieden einkehren.“
Aber Ursel hatte einen bösen Traum und klagte erwachend vor sich hin: „Meine Freud an ihm ist vorbei. Wenn ich an ihn denk, zittre ich. Ein Feuer brennt in mir, das mich verzehren will. Er verachtet mich ja! Und ich kann nicht ohne ihn leben; das spür ich seit heut. Was fang ich an? Ach, schlügen doch die Flammen einer Feuersbrunst über seinem Haupt zusammen, oder die wilden Wogen des Meeres, daß ich hineinspringen könnte, ihn zu retten, daß er mich nicht mehr verachtete!
Soll ich meines Elends Ende suchen in einem tiefen Wasser? Und wenn ichs tät, und er weinte um mich! Dann wärs zu spät, und ich hätt im Grab keine Ruh und müßt ihn alle Mitternacht an seinem Lager um Verzeihung bitten. Das muß ich als Lebende; und wenn er mir verzeiht, bin ich getröstet. Ach, er wird mir verzeihen; er ist ja gut! Aber vor Scham müßt ich zu seinen Füßen sterben! Ich kann nicht zu ihm! Ach Gott, ich kann nicht! Nur ein Weg ist, den ich gehen kann. Vor einem Weib, vor der Lindenelsa werd ichs vollbringen. Die kann mir helfen; sie muß mir helfen!“
Festern Fußes verließ Ursel ihr Kämmerlein. Sie war von Hoffnung erfüllt und sah ihre Eltern und den Zacher und die Lise wieder mit andern Augen an als am Vormittag und wirtschaftete im Haus herum, zwar noch etwas unruhig und hastig, aber es war doch wieder ein andres Leben in den Gliedern. Und als die Frau Böhm an ihrem Ehegespons vorüberging, stieß sie ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte leise: „'S wird wieder besser.“ Und der Zacher schlug die Lise mit seiner schweren Hand auf den Buckel und sagte: „Was bald wird, das vergeht bald wieder.“
Gegen Abend trat Ursel in ihrem Sonntagsanzug vor ihre Mutter und sagte: „Ich hab einen notwendigen Gang, Mutter. Macht Euch aber keine Sorge, so ich etwas länger als bis zehn Uhr ausbleiben sollte. Ich habe Hoffnung, zufriedner heimzukehren, als ich ausgehe. Habt keine Angst um mich, Gott wird helfen!“ Und ehe die Mutter fragen oder Einwendung machen konnte, war Ursel fort aus dem Haus.
Sie schlug den Weg nach Gompertshausſen ein und lief dahin, flüchtig wie ein Reh.
In Gompertshausen in dem Hause der Lindenelsa hatte die geheime Konferenz bereits ihren Anfang genommen. Herr Martin Bötzinger saß vor dem Lager der gichtbrüchigen Geßnerin und erzählte seine Verhandlung mit dem Herrn Superintendenten Sebaldus Krug.
„Schlechte Aussichten das! Was fangen wir an?“, jammerte die Lindenelsa.
Herr Bötzinger hatte geschworen, den Hans zu retten, und gab noch nicht alle Hoffnung auf.
„Zuvörderst ist festzustellen, ob noch ein gutes Pferd des Hans auf dem Straufhain steht, und sind seine Leute zu bedeuten, daß sie sich vor der Hand noch zusammenhalten für den Fall, daß alle Bemühungen auf dem Wege offner Verhandlung scheitern sollten, und nur noch an eine Flucht gedacht werden könnte. Auch ist noch zu bestellen, daß täglich zweimal vom Straufhain aus bei Euch Instruktion eingeholt werde.
„Richtig, richtig! Aber ich komm mit meinem Karren net auf den Straufhain; das Fuhrwerk auf die Festing war schlimm genug!“
„So bleibt nichts andres übrig, als daß ich morgen das Spitzbubennest erklettre. Morgen ist Sonntag; eine Predigt habe ich nicht übernommen; Zeit hätte ich. – In Koburg komme ich morgen so nicht an. Also morgen auf den Straufhain, am Montag nach Koburg!“
Über dem Kreckgrund stand eine große schwarze Wolke, und aus dem dunkeln Mantel der hereinbrechenden Nacht quoll Gewitterschwüle, die wohltätig Flur und Wald durchdrang. Da pochte es an der Tür der Lindenelsa.
„Ist net gefährlich. Die Geleitsreuter habn net erst gepocht. Geh Er getrost hin und mach Er auf! Wird jemand was Kranks habn.“
Herr Bötzinger ging und öffnete die Haustür. Ursula Böhm schlüpfte in die Hausflur und blieb stehen. Bötzinger drückte die Tür wieder zu und fragte: „Wer seid Ihr? Und was ist Euer Begehr?“
Mit einem Schrei sank Urſel dem erkannten Schließer vor die Füße. Bötzinger hob das Mädchen auf. Es hing ihm ohnmächtig in den Armen. Dann flüsterte es: „Laßt mich gehen; ich will fort von hier!“
Die „lahme Magd“ kam aber schon mit ihrem Lämpchen, beleuchtete die Gruppe und rief: „Ach, du Allwaltender! Die Böhms-Urschel! Ach, du liebstes Gottle! Führt sie doch rein in die Stube! Legt sie auf mein Bett, mit der ists net richtig. Ich hab gute Tropfen – gleich, gleich! Hernach wirds schon besser!“
Ursel lag da auf dem Bett blaß wie vom Todesengel berührt, und Bötzinger stand mit gefaltenen Händen vor der herrlichen Gestalt wie versteinert. Bald kam Elsa aus ihrer Kammer zurück, schob den Herrn Bötzinger auf die Seite, tat einige Tropfen aus einem Gläschen in einen Löffel und flößte sie der Leidenden ein. Dann strich sie ihr mehrmals über die Stirn und lockerte das Mieder. Da schlug Ursel die Augen auf und sprang empor vom Lager. Sie sah sich in der Stube um, als ob sie sich überzeugen wollte, daß außer der Elsa und dem Herrn Bötzinger niemand da sei. Dann wandte sie sich an Elsa: „Ich hab Notwendiges mit Euch zu reden und bin deswegen gekommen; aber ich schäme mich vor dem Herrn da.“
„So, so, so!“, brummte die Lindenelsa, setz Sie sich nur. Der Herr da ist der Hauslehrer von der Festing und ist ein braver Mann; dem kann Sie schon trauen. Und zu schämen braucht Sie sich net vor ihm; Sie ist ja auch ne brave Jungfer. Und
Sie mags glauben oder net, ich weiß schon, warum Sie gekommen ist. Das Gewissen hat Sie net ruhen lassen. Meins schlägt mir auch, Urschel! Aber die größt Schuld liegt auf mir. Ich hätt partout nix sagen solln von dem Hans, daß er wieder kommen wollt. Aber, du liebstes Gottle! Wer hätt gedacht, daß so 'n Wörtle gleich zündt, daß die Welt, was das anlangt, fängt wie Zunder! Gute Urschel, das hat Sie auch net gedacht, sonst hätt Sie auch nix gesagt.“
Ursel weinte vor sich hin. Das tröstliche Zureden der Elsa war Balsam für ihr gequältes Herz. Endlich faßte sie sich Mut und sagte mit gedämpfter Stimme: „Ach, Elsa, ich dacht schon, daß Sie mir vergeben würde. Aber der Herr da verachtet mich, weil ich geplaudert hab. Ach, und das drückt mir das Herz ab.“
Die letzten Worte gingen unter in lautem Schluchzen. Da stand Bötzinger auf, legte seine Hand der Jungfer Ursel auf die Schulter und sagte in feierlichem Ton: „Trautes Mägdlein, Ihr seid im Irrtum! Ich verachte Euch nicht. Die verachte ich, die den Hans verbrennen wollen, und die seine Mutter verbrannt haben. Wie kommt Ihr dazu, zu denken, daß ich Euch verachten könnte? Darüber müßt Ihr mir einigen Aufschluß geben!“
Die Hand Bötzingers brannte der Jungfer Ursel auf der Schulter, und wie Feuer durchzog es ihre Glieder, also daß ihre Finger in ihrem Schoß zu zittern begannen. Sie weinte nicht mehr, und leise sagte sie: „Heut vormittag hat mich die Angst zum Haus hinausgetrieben; ich lief durchs Feld und am Festungsberg herum und sah die Elsa den Berg hinabfahren. Da wußte ich nun, daß sie bei Euch gewesen war, und was sie Euch erzählt hat. Ich saß an einem Rain nicht weit von dem Weg und war vor Traurigkeit beinahe von Sinnen. Und Ihr seid an mir vorübergegangen und habt keinen Gruß für mich gehabt. Da dacht ich, ich wär in Euern Augen nichts.“
Ursel bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und fing wieder an zu weinen.
„Es ist gut, daß Ihr aufrichtig seid“, sagte Bötzinger, „und nun traut auch meinen Worten. Mit dem Hans habe ich als Knabe gespielt, und an seiner Seite ist mir von seiner guten Mutter viel Liebe erzeigt worden. Die Mutter haben sie unschuldig verbrannt, und nun bezichtigen sie den Hans des Umgangs mit dem Teufel und wollen ihn auch verbrennen. Als mir die Elsa die Nachricht von der Gefangennahme brachte, war das ein Schrecknis für mich, das mir ans Leben ging. Und ich habe hernach geschworen, den Hans zu retten, und machte den ersten Gang in dieser Sache zum Superintendenten. Und als ich so den Berg hinabstürzte, sah ich weder rechts noch links, sah ich gar nichts von der ganzen Welt, denn meine Gedanken stürmten mir durch den Kopf, daß ich nicht hörte, noch sah. Ich hab also auch Euch nicht gesehen, Jungfer Ursula. Und nun, da ich aufgeklärt bin über Euer Inneres, maßen ich sehe, daß Ihr die Sache, die uns so bewegt, an Euch sehr angehen laßt, bekenne ich vor Gott und Euch, daß Ihr mir wert und teuer geworden seid. Reicht mir die Hand, und der Friede Gottes sei mit Euch!“
Bötzinger ergriff feurig die sich zaghaft vom Schoß erhebende Rechte der Jungfer Ursel. Glückseligkeit erfüllte das Mädchen; ihre Wangen röteten sich, und die Hebungen ihres Busens wurden schneller. Da erhob sich Elsa und strich mit ihrer krummen Gichthand der Jungfrau mehrmals über den Kopf und sagte schmunzelnd: „Sola, sola! Mei Töchterle! Nun ist alles gut. Wir drei ghörn nun zusammen. Und wir plaudern nix wieder, gar nix! 'S wird nix wieder verraten.“
Dem letzten Wort der Elsa folgte starkes Donnern. Ursula sprang erschrocken auf von dem Schemel, auf dem sie vorhin niedergesunken war, und sagte: „Ach, meine Eltern vergehen vor Sorge um mich; wenn ich nur zu Haus wär!“
„Sie kann net allein gehn, Urschel. Herr Bötzinger, Er muß dem Kind 's Geleit gebn!“
In einiger Verlegenheit fügte sich das Pärlein den Anordnungen der Lindenelsa. Es verabschiedete sich, und die lahme Magd gab an der Haustür noch die Weisung: „Stellt euch fei net unter einen Baum; wenn ihr a weng naß werdt, schadts nix: die Donnerkeil fahrn gern in die Bäum. Hilf Gott, daß ihr gut heim kommt!“
Es war sehr finster. Und als das Pärlein das Dorf hinter sich hatte, sagte Herr Bötzinger: „Ihr seid noch angegriffen; Ihr waret vorhin sehr aufgeregt: ich will Euch führen.“
Ursula entgegnete: „Ist net nötig. Freilich war ich sehr erschrocken, als ich in der dunkeln Hausflur Eure Stimme hörte. Es war, als käm das jüngste Gericht über mich. Aber jetzt bin ich froh; ich fürcht mich auch net.“
Nun ging der Marsch eine Strecke ganz still; nur die Fußtritte hörte man. Wenn es blitzte und donnerte, fuhr freilich Ursel ein wenig zusammen; aber aller Schrecknis und Furcht war in diesem Wesen die Macht genommen: es war von Zuversicht und ruhiger Freude erfüllt. Es sind nicht mehr Flammen und Meereswogen nötig: Ursula weiß nun, daß sie dem Manne, ohne den sie nicht leben kann, wert und teuer geworden ist. Und dieser Mann schreitet fest neben ihr her und hält sich, besorgt um sie, an ihrer Seite: was kann sie anfechten?
Obgleich ihre Gestalten in Finsternis gehüllt waren, hingen doch die Augen Ursulas an dem Herrn Bötzinger. Wenn aber vom Himmel das blendende Gewitterlicht flammte, dann sah Jungfer Ursel flugs gradaus.
Martin Bötzinger dachte nacch über den Unterschied zwischen dem langwimperigen Fräulein von Rauenstein und dem Heldburger Kind. Er dachte nicht an die dunkeln und an die blauen Augen, an das schwarze und das blonde Haar: es war ein Unterschied von innen heraus, der das adliche Fräulein vor der Jungfer Ursel in den Schatten stellte. Aber der studierte Mann zerbrach sich den Kopf vergeblich und fand durchaus nicht, warum die Ursel von innen heraus ihn so erwärmte.
Ursel fing an zu bereuen, daß sie zu dem Herrn Bötzinger gesagt hatte: „Ist net nötig.“ Sie fürchtete, ihn verletzt zu haben, da er so lange schwieg, und in einem geheimen Winkel ihres Herzens regte sich der Wunsch: „Wenn ers nur noch einmal sagte!“
Ein greller Blitz und der darauf folgende Donnerschlag riß Martin aus seiner Grübelei und Träumerei. „Jungfer Ursula, das Wetter scheint immer ernster zu werden. Ich werde wohl am besten tun, wenn ich in Heldburg warte, bis es vorüber ist. Im fürstlichen Haus oder auf dem Rathaus wird es wohl noch Gesellschaft geben.“ Da die Nacht hübsch finster war und niemand sehen konnte, wie rot ihr Kopf wurde, so faste sich Ursel ein Herz und sagte: „Herr Bötzinger, das beste wär, ich brächte Euch meinen Eltern als Gast mit; da wäret Ihr die Nacht gut aufgehoben. Wie würde sich mein Vater freun, wenn Ihr uns die Ehre geben wolltet. Seit er Euch hat kennen gelernt, hat er viel von Euch gesprochen.“
„Ich fürchte nicht, daß es so schlimm werde, und hoffe, die Nacht noch gut auf die Burg zu kommen.“
Als das Pärlein über Gellershausen hinaus war, stolperte Ursel über einen Stein und wäre beinahe gefallen. Herr Bötzinger merkte es und bat in vertraulichem Tone: „Laßt Euch doch führen, Jungfer Ursula, damit Euch nicht noch ein Unfall trifft!“
Ursula hütete sich, wieder zu sagen: „Ist net nötig!“ Sie durfte es nicht zum zweitenmal wagen, dem „braven Mann“ wehe zu tun. Wenn die Lindenelsa dabei wär, so würde sie gewiß schelten, wenn sie wieder sagen wollte: „Ist net nötig!“ Die brave Ursel ließ sich also von dem braven Manne führen.
Aber nun war es mit der ruhigen Freude zu Ende. Der Weg lag auf Sprungfedern, und die Herzschläge der Jungfrau drangen dem vorwitzigen braven Mann durch Mark und Bein. Es flutete hinüber und herüber, und kein Gedanke fand mehr den Weg auf die Zunge.
Die Blumenstöcke in Ursels Schlafstübchen waren wieder frisch: die vorsorgliche Mutter hatte sie begossen. Die Schwalbe saß behaglich in ihrem Nest unter dem Dache der Stallhalle. Der Zacher und die Lise hatten auch ihre Nester aufgesucht und schliefen bereits. Aber der Ratsherr Michael Böhm und seine Ehewirtin saßen in großer Sorge um ihr Kind da und erwarteten in Unruhe seine Ankunft. Als die Haustür ging, und es dann leise an der Stubentür pochte, liefen beide in ängstlicher Spannung den Eintretenden entgegen. Es ist nicht möglich, zu sagen, was für ein Freudensturm in dem Ratsherrn aufloderte, als er den Herrn Martin Bötzinger erkannte und seine Tochter gesund und von einem überirdischen Licht umflossen ihm folgen sah. Die Mutter stand da stumm und sprachlos.
„Mutter, ich weiß nit, wie uns geschieht“, rief Herr Böhm, „das ist der Herr Hauslehrer Martin Bötzinger! Du weißt ja, wie uns das Schicksal aneinander gebunden hat. Herr, in deinem himmlischen Reich, was bereitest du uns für große Freude! Sei Er willkommen in unserm Haus, guter Freund!“
Herr und Frau Böhm schüttelten fast leidenschaftlich dem jungen Mann die Hand. Dann kam auch die Reihe an die Tochter. Und diese sagte: „Seid net bös auf mich! Es ist nun alles gut; morgen will ich Euch meine Geschichte erzähln. Mit dem Herrn da bin ich unbestellt heut abend zusammengekommen. Ich wußt nix von ihm, und er nix von mir. Weil nun das Gewitter gekommen ist, hat er mir das Geleit gegebn. Und weil es mit dem Gewitter immer schlimmer wird und der Vater so ein großes Stück auf den Herrn Bötzinger hält, hab ich ihn euch für die Nacht als Gast mitgebracht. Ich bin müd und will zu Bett gehn.“
Ursel sagte mit einem Händedruck den Eltern und dem Gast „Gute Nacht!“ und verschwand.
Als längst alles im Haus schlief, sang sie wie im Traum:
Ob den Weingeländen
Lacht der traute Mond;
Ob den Felsenwänden
Die Frau Holle thront.
Und die Rebenblüte
Hauchet zarten Duft;
Und der Frau Gemüte
Tönet durch die Luft.
Süße Lieder schallen
Von dem Felsenthron:
In des Waldes Hallen
Kreiset Ton um Ton.
Und aus Haslach schleichet
Sich ein Bursch hinan,
Wo die Frau sich zeiget,
Die so singen kann.
Und die Macht der Lieder
Hält ihn fest gebannt,
Bis Frau Holle wieder
Mit der Nacht entschwand.
Um Frau Holle werben
All mein Leben lang
Möcht ich – bis zum Sterben
Lauschen ihrem Sang!
In dem Burschen wecket
Sehnen Todesnot:
Nach drei Tagen strecket
Ihn der kalte Tod.