Martin Bötzinger. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert

 

Erstes Kapitel

Angetan

 

Angetan haben es die Hexen Vieh und Menschen. Aber das war nicht das Schlimmste Anno 1609 und vorher und nachher. Viel schlimmer war es, was man von Gottes und Rechts wegen den Hexen antat. Denn Anno 1609 und vorher und nachher mußten Gott und das Recht viel auf ihre Rechnung stellen lassen, was ihnen zuwider war.

Wie es nun zu allen Zeiten Einfältige gegeben hat, das heißt solche, deren natürlicher Verstand und kräftiges Herz dem wahnverquickten Glauben und Brauch ihrer Zeit Widerstand leisteten, so auch am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts.

Angetan ist es der Steinach, klar und lustig zwischen Bergen des Thüringerwaldes nach Süden, dem Main zuzueilen; und wenn sie aus den Bergen heraus und in die liebliche, fruchtbare Ebene getreten ist, duckt sie sich in schleichendem Gang an dem einzelnstehenden, ernsthaften Muckberg (Mupperg) vorüber und berührt dann das Dörflein Mupperg, die Geburtsstätte unseres geistlichen Simplicius, Martin Bötzingers.

Es war Sonntag. Der Nachmittagsgottesdienst war beendigt, und der Herr Schulmeister und Küster Joseph Bötzinger trat mit seinem zehnjährigen Sohn aus dem Kirchlein und schloß die Tür hinter sich zu. Da näherte sich der Schultheiß von Mupperg.

Guten Tag, Herr Schulmeister! Der Martin da, sapperlot, kann ja die Orgel schon brav schlagen!“

Schön'n Dank, Herr Schulz! – Geh, Martin, und laß die beiden Hühner, die eingesperrt sind, heraus! – Es war das erstemal; er hat ein wenig Angst gehabt – aber man muß zufrieden sein.“

Der Schultheiß schüttelte dem Schulmeister die Hand mit Behagen und schien von einem heimlichen Freudenstrahl, der aus des Begrüßten Auge leuchtete, wie erwärmt.

Aus dem kann einmal was werden, Herr Schulmeister, er macht seinem Lehrherrn Ehre.“

Das war ein Festtag für mich, Herr Schulz! Der Junge soll zwar nach dem Wunsch seines seligen Großvaters Pfarrer werden; aber ich. freue mich doch, daß er auch Geschick zum Orgelschlagen beweiset.“

Er hat ja wohl noch immer Not mit seinen Hühnern, Herr Schulmeister?“

Diese Nachbarschaft bringt mich noch unter die Erde. Meinen Hühnern tut sies an, meine Kühe werden angezapft, vorigen Herbst hat sie mir ein Schwein beschrien! – Ich kanns nicht länger mit ansehen! Wenn die Nachbarin mit dem Teufel buhlt“ – bei diesen Worten schlugen die beiden Männer ein Kreuz vor dem Gesicht – „das ist ein Elend!“

Das Gespräch wurde leiser. Dann verabschiedete sich vor der Kirchofpforte der Herr Schultheiß mit dem Versprechen, gegen Abend in der Schule einzukehren.

Des Schulmeisters heimlicher Freudenstrahl begann erst wieder zu schimmern, als er auf seinem bescheiden eingerichteten Zimmer bei seinem Weinkrüglein saß. Dieser edle Sonntagstrank stammte aus einem ansehnlichen Fäßlein, das regelmäßig um Fastnacht herum von Georg Bötzinger, „Lichtensteinischem Vogt" zu Gemünden, als brüderliches Gratial einlief. Es ist schwer zu sagen, ob der größere Anteil an der Erweckung des Freudenflämmchens in Josephs braunem Auge der sonntäglichen Stimmung, oder dem Gedanken an Martins erste Probe im Orgelschlagen, oder dem Weinkrüglein zugeschrieben werden mußte. Aber dieses Flämmchen loderte immer herzhafter auf und ergoß über das Antlitz des Schulmeisters einen lieblichen Glanz. Er war allein. Martin war „ins Dorf“ gegangen, und „Margret,“ die Ehewirtin, nähte im obern Stübchen Henkel an große Linnenstücke, die auf die Bleiche kommen sollten.

Sie hatte den Schlußknoten gemacht, ihre Leinwand sorgfältig geballt und schmunzelnd in die Truhe geschlossen. Dann nahm sie eine große Schachtel von einem mit Blumen und Reimsprüchen gezierten Kleiderschrank, öffnete sie und durchforschte prüfend den Inhalt, der in verschiednen Bündelchen getrockneter Kräuter, mehreren Tüten und kleinen Schächtelchen und Gläsern bestand. Diese Raritäten und die Leinwandtruhe waren die Schätze der Frau Schulmeisterin.

Die Kräuter hatte sie unter Anweisung ihrer Mutter meist selbst gesucht in der Gegend von Bayreuth. Und wenn sie das Tausendgüldenkraut wieder in seine Ecke legte, dann nahm sie Abschied von der Bergwiese, wo sie es gepflückt hatte. Kam dann der Sonnentau an die Reihe, so fuhr sie mit der Hand über die Stirn, als wollte sie einen Vorhang von dem düstern Waldgrund hinwegschieben; wo sie einst entblößten Fußes das niedliche Pflänzchen aus dem Sumpf geholt hatte. So dauerte das Spiel der Erinnerung, das Durchträumen der entflohenen Jugendtage, das Schwärmen im Heimatlichen Revier ihrer Kräuterfahrten fort, bis jeder Gegenstand wieder sein Plätzchen einnahm. So hatte ihr diese wunderlichen Dinge die Mutter gepackt, die Pfarrfrau von Bindlach, als Margret ihren Familiennamen Hübner mit Bötzinger vertauscht hatte und dem gewonnenen Eheherrn in die Schule nach Mupperg gefolgt war.

Der Vorrat von Heilmitteln stand wieder wohlverwahrt auf dem Kleiderschrank, und Margret begab sich zu ihrem Joseph beim Weinkrüglein. Da geschah es, daß ein Schatten auf des Weibes Antlitz plötzlich das Freudenflämmchen in des Mannes Auge auslöschte.

Wo ist Martin?“, fragte Margret.

Ohnig!“

Ich kann dirs net länger verschweigen. Der Martin hat Umgang mit dem Schneidershans. Wie oft hat er mir versprochen, ihn zu meiden! Aber es ist, als wärs dem Martin angetan: er kann net von dem Strick lassen, der doch drei Jahr älter ist. Die Schleicherin wird mit ihren Künsten auch noch über unsern Martin kommen. Joseph, wir wollen sehn, daß wir von hier weg kommen; ich kriegs mit der Angst!“

Gott in deinem Reich! Auch unserm Martin angetan? Ich bring dies Höllenstück vors Halsgericht!“

Herr Joseph Bötzinger war aufgefahren und stand in der Mitte der Stube, lodernd in Wut. Da klopfte es an der Tür. Auf das „Herein!“ des Schulmeisters trat der Schultheiß ein, mit freundlichem Gruß zwar, aber etwas betreten, denn das „Höllenstück“ und das „Halsgericht“ des zornigen Schulmeisters waren ihm wie Donnerkeile ins Ohr gefahren.

Das Bötzingersche Ehepaar hieß den Besuch mit Befangenheit willkommen; Frau Margret wischte mit ihrer Schürze einen Stuhl ab, auf dem kein Stäubchen war, und rückte ihn für den Schultheißen an den Tisch; Herr Joseph schob sein leeres Krüglein auf die Seite und brach endlich das fatale Schweigen mit der Erklärung: „Sieht Er, Herr Schulz, es ist ein Elend, so eine Nachbarschaft zu haben. Da erzählt mir meine Frau, daß es auch unserm Martin angetan ist.“

Der Schulz begleitete sein „hm! hm! hm!“ mit einem bedenklichen Kopfschütteln.

Er ist ja wohl aufgehoben, und man weiß nicht, ob seine Seele nicht derselbe geholt hat, mit dem sie buhlt. Von seiner bösen Hand war das Leben unsers Martin schon bedroht, eh er noch geboren war; aber der Allmächtige hat seinen Schirm über ihn gehalten. Nun soll dem armen Jungen von ihr die Seele verderbt werden!“

Leben bedroht, eh er geboren war?“, fragte der Schulz gedehnt.

Ja wohl! Da sitzt mein Gückler auf seinem Gartenzaun – er wirft mit einem dicken Knüttel nach ihm und – trifft meine Frau, die in demselben Augenblick aus der Stalltür tritt, – und das war in der Zeit, als sie auf den Martin hoffte, also daß jedermann dachte, es würde dem Kinde am Leben schaden oder doch ein häßlich Malzeichen bringen; es ist aber beides verblieben, und ist sie bald hernach mit einem fröhlichen Anblick von Gott begnadet worden.“

Plötzlich ward die Tür aufgerissen. Martin stürmte in die Stube und gebärdete sich zum Schrecken seiner Eltern und des Schultheißen rasend lustig. Dergleichen hatten sie noch nie gesehen. Das Singen und Springen, Lachen und Gestikulieren des Knaben galt allen als ein Ausbruch höllischen Wahnsinns.

Herr Joseph Bötzinger begann mit lauter Stimme zu beten, während. der Herr Schultheiß Kreuze schlug, und die Mutter den Knaben zu halten und zu stillen suchte.

Da stürzte der Arme zusammen. Die Mutter legte ihn auf die Ruhebank. Alle drei standen entsetzt vor dem kranken Knaben, durch dessen Körper es konvulsivisch stürmte. Endlich stellte sich ein ruhiger, fester Schlaf ein.

Die Mutter kniete weinend vor dem Schlafenden; der Vater durchschritt mit gefaltnen Händen und gesenktem Haupt das Zimmer; der Schultheiß stand mit verschränkten Armen.

Auf einmal flogen die Arme des Schultheißen auseinander, als sei er von einem großen Gedanken belebt. „Gestern ist der Herr angekommen. Er wird ihn heut in der Kirche gesehen haben, Herr Schulmeister! Ich hole ihn her; er soll sehen, was passiert ist, und soll sagen, was geschehen soll!“

Der Schultheiß eilte davon.

Als die Bötzingerschen Eheleute mit ihrem Unglück allein waren, erhob sich Margret, winkte ihren Eheherrn an das Krankenlager und begab sich nach dem obern Stübchen, holte die große Kräuterschachtel vom Kleiderschrank und eilte damit in die Küche. Dort zündete sie ein Lämpchen an – die Dämmerung war hereingebrochen –, nahm aus ihrem heilkräftigen Schatz Beschreikraut, Johannishand, Farnfrautmännlein, Siebenzeiten und zwei Gläschen, strich von dem Herd feurige Kohlen auf ein Blech und begab sich räuchernd in die Stube, den Knaben aus den Gläschen besprengend und heilige Formeln murmelnd. Als sie einen lächelnden Zug in dem Antlitz des Knaben bemerkte, fuhr sie um so eifriger in ihrem geheimnisvollen Geschäft fort.

Herr Joseph Bötzinger holte aus dem Tischkasten die messingbeschlagne Hauspostille hervor und betete eifrig. Die Aufregung des Vaters war so groß, daß ihm das Buch in den Händen schwankte. Der einzige Sohn in der Gewalt der Hexe! – Hatte die Mitteilung seiner Ehewirtin und ihre sichtliche Angst um den geliebten Martin ihn in Zorn und Wut versetzt, so wirkte die plötzlich hereinbrechende Bestätigung des eben Gehörten wie zermalmend auf den kräftigen Mann.

Seine Margret war dagegen wie entrückt und berührte als eine in überirdischen Kräften waltende Fee kaum den Boden.

Das Räuchern und Besprengen, das Bestreichen und Besprechen, das Zittern und Beten in der Stube, wo das leere Weinkrüglein beiseite geschoben stand, und der Hausgeist hinter dem großen grünen Ofen erschreckt hervorlugte, dauerte fort, bis der Schultheiß mit dem „Herrn“, Herrn Johann Wolfgang von Schaumberg eintrat.

Die an Schlössern und Dörfern und vielen Gerechtsamen reichen Ritter von Schaumberg waren ein altes, berühmtes Geschlecht, das manchem Fürsten die Spitze geboten hat, und dessen Bündnis zum öftern gesucht ward. Mit Mupperg, in dessen Besitz die Herren von Schaumberg schon über dritthalbhundert Jahre gestanden hatten, war Johann Wolfgang im Jahre 1599 vom Abt von Banz belehnt worden.

Als ihm im Kastrum der Schultheiß den Hexenspuk vorgetragen und den Namen „Sambel“ (von Susanna Barbara) genannt hätte, war eine Wetterwolke auf der ritterlichen Stirn aufgestiegen. Auf die Fragen des Herrn hatte der Schultheiß bescheidend genickt, daß allerdings diese Sambel dieselbe sei, die vor zwölf oder dreizehn Jahren im Kastrum gedient und dann den Schneider geheiratet habe, und daß ihr Mann vor etlichen Jahren gestorben sei – man sage, er sei das Gesicht im Rücken gefunden worden.

Sie war von Jugend auf des Teufels Buhle!“, hatte Herr Johann Wolfgang gebrummt, hatte dann den Mantel übergeworfen und nach dem Barett, mit Birkhahnfedern geschmückt, gegriffen; den behexten armen Jungen in der Schule in Augenschein zu nehmen und der Sambel den Prozeß zu machen, war er dem Schultheißen gefolgt.

Es war schon lange her. Aber er konnte es diesem Weibe nicht vergessen, daß sie ihm aus Treue zu ihrem Schneiderskonrad einst in keuscher Zornaufwallung einen Topf Milch über den Kopf gegossen hatte.

So groß auch die Angst des Bötzingerschen Ehepaares war: als Herr Johann Wolfgang von Schaumberg eintrat, verkrochen sich die von dem Hexenspuk heraufbeschwornen Geister hinab in die Fußspitzen und hinter die Ohren und unter die Zöpfe. Herr Bötzinger ließ sein Gebetbuch aus den Händen sinken; Frau Margret setzte ihren Heilapparat auf die Seite; und beide verneigten sich in Ehrerbietung vor dem Herrn. Der Schultheiß war an der Tür stehen geblieben.

Nachdem Herr Johann Wolfgang einen Blick auf den schlafenden Knaben geworfen hatte, redete er die „Schulleute“ also an: „Die Herren von Schaumberg haben allerwege auf Ehr und Reputation gehalten, und wenn vor ihnen hin und her einmal eine Fürstenkrone gewankt, werden sie doch allezeit die Krone ihres Heilands schützen und schirmen. Wir werden unser Gebiet säubern vom Antichrist. Des Teufels Magd ist übel beraten, dermalen ich Herr bin von Mupperg.“

Joseph Bötzinger hatte kaum begonnen, dem Herrn die Greueltaten der Sambel, die sie an seinen Hühnern und seinem Vieh verübt haben sollte, aufzuzählen, als ein Schluchzen und zugleich ein leises Pochen am Fenster vernehmbar wurde.

Herr Bötzinger erblaßte. Frau Margret fuhr nach dem Herrn hin und flüsterte ihm zu: „Gnädiger Herr, mein Räuchern und meine Sprüche haben die Hexe gebannt, draußen ist sie!“

Herr Wolfgang war überrascht; des Schultheißen verschränkte Arme flogen auseinander. Aber sie sanken nieder, und sein Mund wagte zu reden. Die Sambel trat in die Stube, weinend, zerknirscht.

Die Gegenwart des Schultheißen und des gnädigen Herrn wirkte wie versteinernd auf die Hexe. Ein Blitz sog die Tränen auf, und das schwarze Auge starrte ins Leere.

Herr Wolfgang von Schaumberg griff nach dem Degen und wendete sich an die Schneiders-Sambel mit donnernder Stimme: „Deines Treibens ist ein Ende! Die Gewalt des Herrn, unsers Christ, hat dich in deine eignen Stricke gejagt. Und darinnen sollst du umkommen. Sprich, wie hast dus diesem Knaben angetan?“

Das schwarze Auge bekam wieder Leben; es wurde wieder feucht und hängte sich flehend an die markige Gestalt, von der die dröhnenden Worte gekommen waren. Bebend erzählte das arme Weib: „Ich habe es ihm nicht angetan und habe niemanden noch in Schaden gebracht. Aber eine Zigeunerin gab mir einmal schwarze Körner. Die habe ich in meinen Garten gesät und davon Äpfel gebaut mit Dornen wie die Krone unsers Heilands. Und die Äpfel trugen mir viele, viele schwarze Körner. Wenn ich Tee von den Körnern kochte, nachts, wenn alle im Dorf schliefen, und davon trank, – da wurde mir so wohl – da wurde ich so leicht – das Dach verging über meinem Hause, ich flog durch die Wolken und kam in schöne Länder – und schöne Bursche und Mädchen und Männer und Weiber – viele und immer mehr – kamen geflogen – und auch mein seliger Konrad, jung und schön, – und wir tanzten und hatten Vergnügen und Kurzweil. Wenn alles aus war, lag ich wieder in meinem Haus auf dem Estrich.

Der Schultheiß hatte während der Erzählung den Nachtriegel unbemerkt vorgeschoben und in ängstlicher Spannung nach der Decke gesehen, ob sich wohl das Dach des Hauses noch abheben und die Hexe davonfliegen werde. Das Bötzingersche Ehepaar stand da mit weitgeöffneten Augen. Der Herr von Schaumberg aber fragte mit der Strenge eines Inquisitors abermals: „Wie hast dus dem Knaben angetan?“

Ich war heute nachmittag, fuhr mit matter Stimme die Gefragte fort, auf meinem Acker an der hintern Wasserrunse; ich wollte sehen, ob ich bald Klee für meine Ziegen holen könnte. Und weil die Sonne so warm schien, und die Lerchen so sangen, setzte ich mich auf einen Rand. Da dachte ich an meinen seligen Konrad und weinte mich recht aus. Ich hatte den Klee und die Ziegen und alles vergessen. Wie ich nachher die Augen aufschlug, hatte der Muckberg einen schwarzen Mantel umgetan und schritt auf mich zu, daß ich in Angst davon lief. Aber daheim fand ichs. Mein Hans und der Martin hatten sich von den schwarzen Körnern einen Trank gekocht. Und nun liegt er auch drüben, wie der Martin da. O, ich unglückliche Frau!“

Durch dieses Geständnis ward der unglücklichen Frau Schicksal besiegelt. Es galt allen als schauderhafte Bestätigung der Schuld, und man sah das ruchlose Weib dem Scheiterhaufen verfallen.

Auf Anordnung des Schaumbergers wurden der Sambel vom Schultheißen die Hände gebunden, damit sie nach dem Kastrum und dort hinter Schloß und Riegel gebracht werde.

Es war sehr dunkel geworden. Hinter dem Muckberg begann es zu wetterleuchten. Der Schultheiß schritt mit der Laterne vorauf; ihm folgte die Gebundne, und hinter ihr schritten würdevoll der gestrenge Wolfgang und der ernste Joseph Bötzinger.

Als sich der kleine Zug langsam an dem Schneidershäuschen vorüber bewegte, sank das Weib zusammen. Der Laternenträger wandte sich um, sodaß das blasse Gesicht der Gefesselten beleuchtet ward. In diesem Augenblick wurde von dem Häuschen her ein gellender Schrei vernommen.

Er hatte das Mutterherz getroffen. In dem noch jugendlichen Körper des Weibes gerieten plötzlich alle Muskeln und Sehnen in Spannung; es schnellte empor und wollte sich in ihr Häuschen stürzen. Aber wie mit eiserner Hand faßte sie der ritterliche Wolfgang und hielt sie fest. In demselben Augenblick hing auch schon Hans am Halse seiner Mutter.

Dem Herrn von Schaumberg wurde der Arm kraftlos; der Schulmeister faltete unwillkürlich die Hände; der Schultheiß stand da wie ungewurzelt und hohl wie ein alter Weidenstock.

Ein dumpfes Schluchzen rang sich aus der wogenden Brust des Weibes. Hans jammerte:

Mutter, ach Mutter! Sie wollen dich morden!“

Im nahen Teich quakten die Frösche ihren einförmigen Chor. Eine Feuerschlange schoß aus dem Himmel hernieder, und ein knatternder Donnerschlag folgte.

Da flüsterte die Mutter ihrem Hans ins Ohr: „Gehe heim und schlafe; ich gehe ins Herrenhaus und melke die Kühe. Morgen komme ich wieder.“

Hans fuhr zurück: das war nicht die Stimme seiner Mutter – das war nicht der warme Ton aus der Mutterbrust! Es war das eisige Flüstern einer Wahnsinnigen.

Hans verschwand im Gebüsch. Der Zug bewegte sich weiter nach dem Kastrum.

 

Am andern Morgen ging ein freiherrlicher Bote an den Schöppenstuhl nach Koburg ab mit der Meldung, daß im Kastrum zu Mupperg eine Hexe gefangen liege. – Der Schneiders- Sambel wurde der Prozeß gemacht. Ihre Wahnsinnsausbrüche galten als Strafe des Teufels an einer plauderhaften Schülerin. Nachdem man die Zeugen verhört hatte, wurde auch die Einziehung des Schneiders3-Hans als eines Hexenlehrlings beschlossen.

Aber der war verschwunden. Seit jener Schreckensnacht hatte man ihn nicht wieder in Mupperg gesehen. Man hätte gern Mutter und Sohn auf einem Haufen verbrannt und harrte zwei Monate auf die Einbringung des kleinen Hexenlehrlings. Da wurde der Ordinarius des Schöppenstuhls, der berühmte Rechtsgelehrte Dr. Wesenbeck, besorgt, meinend, es möchte am Ende gar noch dem schaulustigen Volk ein abschreckendes Exempel durch des Satans Künste verloren gehen, und ließ schleunig die Ladung zur „zweiten“ feierlichen Sitzung des Schöppenstuhls ergehen „auf Mittwoch nach St. Jakobi,“ damit, außer andern vorliegenden schweren Fällen, besonders in Sachen der Hexe von Mupperg nach kaiserlichem Recht „Spruch und Urtel“ gefällt werde. Der Ruf des Büttels an das Volk: „Ihr Toten und Lebendigen erscheint!“ ertönte durch alle Gassen der umliegenden Ortschaften.

Die Mupperger Hexe ward verurteilt.

Auf dem Anger zu Koburg wurde es eines Tages lebendig. Der Scharfrichter ließ an dem eingerammten Pfahl mit viel Sachverstand die vorgeschriebnen Mengen an Stroh, Reisig und Holz aufschichten; auch das ordnungsmäßige Quantum von Pech und Pulver war in Bereitschaft. Die Jugend der Residenz war vom frühen Morgen an auf dem Platze. Büttel, Henker und Peinlein hatten ihre Not, die andrängenden Massen abzuhalten, und rauflustige Buben machten Bekanntschaft mit den Stöcken der festlich aufgeräumten Knechte.

Die Schatten wurden kürzer; es wurde heißer. Aus allen Richtungen strömte Volk herbei.

Joseph Bötzinger, das Kamisol an seinem Schlehendornstock über der Achsel tragend, schritt auf einem Fußweg durch ein wogendes Kornfeld der herzoglichen Residenz Koburg zu. Sein kleiner Orgelschläger trollte in Schweiß gebadet hinterdrein. Plötzlich blieb er stehen. Sein Blick bohrte sich einen Moment durch die schwankenden Halme, dann fuhr er mit beiden Händen an das Kamisol des Vaters, sodaß dieser sich erschrocken umwandte und rief: „Was hast du, Märtel?“ Martins Blässe erschreckte den Vater noch mehr, und als der Knabe leise, aber in großer Aufregung hervorstieß: „Der Schneiders- Hans liegt da im Korn“ – verfärbte sich auch der würdige Herr Joseph Bötzinger. Doch sich bald ermannend, sagte er: „Komm, Märtel, es wird Zeit!“ – Schweigend begaben sich Vater und Sohn auf den Anger.

Aller Augen waren auf einen Punkt gerichtet, auf den Scheiterhaufen. – Dort oben auf der Feste hatte der tapfre Mann vor neunundsiebzig Jahren geweilt, der den großen Scheiterhaufen angezündet hatte, der den „alten Wust und Greul“ verzehren sollte – den großen Scheiterhaufen, an dem sich eine nie erlöschende Kriegsfackel entzündete und das Schwert härtete, das Deutschland durchs Herz schnitt. – Aber an den kleinen Scheiterhaufen, die für unglückliche Weiber angezündet wurden, waren sie einig, Katholiken und Protestanten. Das war eine große Sache zur Ehre des Himmels und wider das Werk des Antichrist!

Der Wahn hat im Menschengeschlecht seinen ewigen Thron aufgeschlagen; in den verschiednen Zeiten wechselt er nur den Rock. Wenn er den alten auszieht, ist der neue schon fertig. Fasching ohn Ende!

Die Hexe von Mupperg wurde an den Pfahl geschmiedet; der Qualm und die Lohe schlugen über ihrem Kopfe zusammen.

Bötzinger stand mit seinem Söhnlein unter den hintersten der gaffenden Menge. Da entstand in ihrer Nähe eine Bewegung in der dichtgeschlossenen Menschenmasse: ein Knabe arbeitete sich mit leidenschaftlicher Anstrengung aus dem vielköpfigen Wahnmeer heraus, hinter ihm her der schwerfällige Schulz von Mupperg. Der Fliehende stieß auf Joseph Bötzinger, blieb einen Augenblick stehen, warf seine Fäuste in die Luft und rief: „Das sollst du spüren! Du und dein Märtel!“ – Mit verzerrtem Gesicht stürzte er davon.

Es war der Sohn der Hexe. – Nun war es ihm angetan!