Sechstes Kapitel
Jena
oder
Die Historie von der Susanna zu Babel und vom Drachen zu Babel (1620)
Martin Bötzinger steigt wieder auf der Treppe eines Dominikanerklosterbaues empor. Aber nicht mehr faule Mönche hausen darin: die letzten drei waren vor zweiundsiebzig Jahren ausgezogen und hatten den beiden blutjungen Professoren Strigel und Stigel, die mit einer Anzahl Studenten von Wittenberg und Erfurt her eingezogen waren, das Feld geräumt. Nun machen sich mehr oder weniger faule protestantische Musensöhne in dem Paulinerkloster breit.
Der „Bean“ Bötzinger befindet sich mit noch mehreren seinesgleichen auf dem wichtigen Gang zur „Deposition,“ dem rohen, komisch-umständlichen Akt, durch den die angekommnen „Bacchanten“ (Beane) zu eigentlichen Studenten geschlagen werden, und
der schon bei Gründung der Universität eingeführt worden war.
Sie waren beim Vorsteher ihrer „Nation“ inskribiert und beim Dekan zur Deposition angemeldet worden. In einem Kollegiensaal angelangt, wo viel Neugierige sich eingefunden haben, stellen sich die Bacchanten auf; der Dekan der philosophischen Fakultät besteigt das Katheder und führt in längrer Rede aus, was der Zweck der Deposition sei. „Maßen ihr hieher gekommen, euch an den Bronnen der Weisheit zu lagern und zu schöpfen nach Herzenslust, hat euch Gott gestellet zwischen Hunderte dero fürstlichen Pflegekinder des Geistes, und sollt ihr euch unter ihnen beweisen und bewähren als bescheiden und dienstfertig; euer wildes, unbändiges Gemüt soll sich in Leutseligkeit und Geduld verkehren; von den groben bäurischen mores sollt ihr befreit werden und von den Fehlern gegen das Dekorum und die höfliche Sitte. In dem neuen Studioso müssen alle wilde, beißende, fressende qualitates ertötet werden. Es werden euch hernach Fragen vorgelegt werden, durch welche Gelegenheit gegeben wird, denen einbildischen Ignoranten die derbe Wahrheit unter die Augen zu reiben, dumme Köpfe zur Ausübung des Ingenii anzumahnen, hurtige Geister aber mit etwas gelinderer Art zur Schärfung des Verstandes und Erlernung der Philosophie, auf deren meiste Disziplinen die Fragen eingerichtet sind, anzureizen. – Zur bessern Impression in eure jungen Gemüter soll anjetzo unser famulus communis als verpflichteter und vereidigter Depositor in hergebrachter Weise seine Ceremonia gewissenhaft und ohne Zaudern vornehmen.“
Sofort wirft der „Deposter“ jedem der von ihm zu verarbeitenden den Bacchantenrock um, verabreicht dem ersten eine Ohrfeige und richtet die Frage an ihn: „Wie ist die Erbse auf die Welt gekommen?“ Die Antwort lautet: „Ich weiß das nicht.“ Da folgt eine zweite Ohrfeige mit den Worten: „Du Schelm! Sie ist rund auf die Welt kommen.“
„Du, Mutterkalb!“, wendet sich der Vereidigte an den Zweiten, „wie viel Flöhe gehen in einen Scheffel?“
Zitternd antwortet der Knabe: „Das hab ich bei meinen Präceptores nicht gehabt; nur die Grammatik und ein Compendium Logicae et Rhetoricae habe ich gelernet.“
„Was?“, schreit ihn der Famulus an, „wenn du nicht mehr ein Bacchant sein willt, mußt du wissen, daß die Flöhe nicht in den Scheffel gehen, sondern hüpfen!“ Und appliziert dem Unwissenden ebenfalls eine schallende Ohrfeige.
„Du willt auch ein Pennal werden, grüne Raupe!“, redet der Pedell Martin Bötzinger an, „sage an, wie heißt auf lateinisch ein Mäuseloch?“
Martin starrt den barbarischen Examinator verzweifelt an und bleibt stumm. Die Ohrfeige läßt nicht lange auf sich warten und ist begleitet von den Worten: „Ei, du dummer Rapschnabel du! Ein Mäuseloch heißt auf lateinisch Mysterium!“
Es war dem ehemaligen Kustos, der mit dem Bischof Julius in Würzburg disputiert hatte und von diesem Fürsten der feindlichen Kirche sogar mit einigem Respekt behandelt worden war, ganz unerhört, auf diese Weise zum Studenten „geschlagen“ zu werden. Er schleuderte den Bacchantenrock von sich und schickte sich an, zu gehen. Aber des Dekans donnernde Stimme bannte ihn, und er stand da im Kollegiensaal als Achse und hörte und sah nicht mehr.
Nachdem das Examen beendigt war, brachte man den „Depositorsack“ herbei. Aus diesem kam zum Vorschein ein Hut mit Hörnern, ein großer Zahn, als der eines gewaltigen Ebers, ein hölzernes Halsband, Axt, Hobel, Bohrer, ein großer Kamm, eine mächtige Schere, Schermesser und Seife. Zur Verarbeitung mit diesen Instrumenten wurde der widerspenstige Bacchant Bötzinger zuerst vorgenommen. Der Deposter setzte ihm den Hut mit den Hörnern auf – und schlug ihm denselben dann ab mit den Worten: „So, unbändiger Bock, schlag ich dir die Hörner ab! Werde zahm und lerne dienen! Ducke dich vor den Absoluti!“
Bei den letzten Worten nahm er den großen Zahn und steckte ihn dem blassen Martin zwischen die Zähne: „Seht diesen wilden Hauer! Beiß nur wacker ein! Schnapp, klapp! – Der Zahn ist weg. Nun sei kein wilder Wühler mehr, kein Beißer und kein Schmeißer!“
Ehe sichs Martin versah, ward er auf den platten Boden geworfen und mit Axt und Hobel bearbeitet, daß ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat: „Ich habe manchen Knorz wie du schon zurecht geschnitzt; wenn auch dein Holz gar fest verwimmert ist: es flieget Span auf Span!“
Nach dieser Prozedur mußte sich Bötzinger erheben. Mit einem großen Kamm fuhr ihm der geschäftige Deposter durch das Haar: „Pfui! Sieh, wie das rauft; wie widerbürstig ist doch dieser Quasimodogeniti!“
Der geschwätzige Famulus machte bei seinem Säuberungsgeschäft dem angehenden Pennal das Kinn schwarz und rief: „Seht da, der saubere Fink denkt schon an einen Bart! Sitz gleich nieder auf den Stuhl da! Ich werde als Barbier dir deinen Dünkel scheren!“
Martin wurde eingeseift und mußte sich mit einem großen hölzernen Messer im Gesicht herumkratzen lassen. Endlich, nach unsäglicher Qual war er frei aus den eisernen Händen des rohen Deposters. Während der Verarbeitung der übrigen Bacchanten lehnte Martin geknickt an der Wand und dachte: „Es fehlen nur noch die Koburger Pritschmeister mit der Kuhhaut.“
Nach dieser gröblichen Säuberung und Ablegung des Bacchantenrocks hielt der Depositor eine Rede an die angehenden Pennale, empfahl sie dem Dekan und bat für sie um Erteilung des Depositionsscheins, der natürlich sein gutes Geld kostete. – Der Herr Dekan hielt darauf eine lateinische Schlußrede, worin er die Deponierten ermahnte, sich eines geziemenden Studentenlebens zu befleißigen und den Schoristen (Absoluti) Gehorsam zu leisten.
Nachdem hierauf der Dekan den Bacchanten Absolution erteilt hatte, wurde ihnen noch Salz und Wein gereicht, damit „sie sollten ihre Reden und Thaten mit guter Lehr und Weisheit würzen und die Correctiones, die Verweis und Vermahnungen wohl annehmen.“ Dem Martin Bötzinger aber goß der Pedell den Wein über den Kopf.
Er stürmte voraus die Treppe hinab. Im Korridor trat ihm ein Schorist in den Weg und rief: „Wie lang ist ein Pennaljahr, du blasser Spulwurm?“ Martin platzte heraus: „365 Tage!“ und wollte vorüber. Aber der Herr Schorist packte ihn am Kragen und schnarrte mit einer in Bier untergegangnen Stimme: „Ein Jahr, 6 Monate, 6 Wochen, 6 Tage, 6 Stunden und 6 Minuten! Merks! Alberner Ölberger!“ Er ließ das angehende Pennal los und hieb mit seiner Karbatsche hinter ihm drein.
Martin war es unmöglich, sich an dem an demselben Abend stattfindenden Absolutionsschmause zu beteiligen, und meldete sich krank beim Vorsteher seiner „Nation.“ Er hatte ja wohl schon von der Deposition gehört, hatte aber keinen Begriff von dieser barbarischen Zeremonie; denn als ihm einmal auf seine Frage darnach von Koburger Studenten reiner Wein eingeschenkt worden war, glaubte er, man wolle ihn mit der Beschreibung des Spektakels zum besten haben. Nun hatte er das Unglaubliche bis auf die Hefe ausgekostet. Es war ihm übel geworden, und er lag auf seiner Stube und dachte abermals ernstlich nach über den Unterschied zwischen vernünftigen Leuten und Narren. Das müde Pennal fiel in ein erquickendes Schläfchen.
Gegen Abend sprang es auf und eilte hinaus. Seit seiner Würzburger Reise war dem jungen Bötzinger trotz Wald- und Flurfriedensbruch ein öfteres Ergehen im Freien zum Bedürfnis geworden: Berg und Tal, Wald und Flur, und was da fliegt und kriecht und springt und singt, mußte in seiner Seele Eindrücke hinterlassen haben, aus denen eine Sehnsucht nach Erneuerung geboren worden war.
Martin durchmaß raschen Schrittes die Saalgasse, grüßte den alten Türmer auf dem Saaltor, der sich am offnen Fenster von der Abendsonne bescheinen ließ, überschritt die Lachenbrücke, die Saalbrücke, deren Entstehung aus dem Anfang des fünfzehnten
Jahrhunderts datiert, und über die die Grenze zwischen Thüringen und dem Osterland lief – eines der sieben Wunder Jenas, weil sie noch einen Dreier mehr als der Turm der Michaeliskirche gekostet hatte –, und wandte sich dem Hausberge zu.
Die Obstbäume standen da in einer Ruhe, die Großes ahnen ließ: ihr Blütenreichtum konnte mit jeder nächsten Minute seine Entfaltung beginnen; die Finkenmütter deckten mit ihrem Flaum den köstlichen Inhalt ihrer zirkelrunden Nester, während ihre Herren prächtige Fanfaren auf „Hochzigbier“, „Lacklackzier“, „Weiterspazier“, „Beithahn“ und
„Reithahn“ reimten und in den blauen Himmel empor schmetterten; die Lerchen schienen von der üppiggrünen Saat als beschwingte Dichterstimmen mit tausend Grüßen empor geschickt zu sein; und von dem Hausberg herunter wetteiferten Drossel und Amsel aus voller Brust mit Fink, Lerche, Saat, Baum und Strauch da unten im Lobe auf den Allmeister. Dem Martin Bötzinger wurde es wohl, und es wurde ihm wehe, und er wußte nicht, sollte er weinen oder mitsingen.
Da kam vom Fuchsturm her eine Rotte Schoristen mit ihren untertänigen Pennälen und sang auch in die Welt hinein. Aber ihr Lied war nicht keusch wie die Naturlieder; sie sangen den „Gesang der Schlemmerzunft":
Laßt uns schlemmen und demmen bis morgen!
Lasset uns fröhlich sein ohne Sorgen!
Wer uns nicht borgen will, komme morgen!
Wir haben nur kleine Zeit hier auf Erden;
Drum muß sie uns kurz und lieb doch werden.
Wer einmal stirbt, der liegt und bleibt liegen;
Aus ist es mit Leben und mit Vergnügen.
Wir haben noch von keinem vernommen:
Er sei von der Hölle zurückgekommen
Und habe verkündet, wie dort es stünde.
Gut Gesellschaft treiben ist ja nicht Sünde:
Sauf also dich voll und lege dich nieder!
Steh auf und sauf und besaufe dich wieder!
Dem armen Pennal Bötzinger wurde es wieder übel. Er kehrte um und eilte den Hausberg hinunter: von so roher Gesellschaft wollte er sich nicht insultieren lassen.
Aber von der Saale herauf kam auch eine singende Clique. Martin stutzte wie ein gekreistes Wild. Von unten herauf schlug an sein Ohr:
Wir müssen es haben, bis wir erkalten,
Und sollten wir auch nichts im Beutel behalten.
Sa! Lustig! Seid lustig und trinket, ihr Brüder!
Ein artiges Mädchen bringt alles schon wieder.
Sa! Lustig! Und wenn uns das Mädchen will borgen,
So wollen wir trinken bis wieder an Morgen!
Martin schlug in seiner Angst den Weg nach Ziegenhain ein, und bei dem Gedanken, daß die von unten kommenden vielleicht nach Ziegenhain wandern möchten, schlug er sich ins Gebüsch, um da zu warten, bis die Luft wieder rein wäre.
Nun hatte sichs aber gefügt, daß eine junge, blühende Jenenserin von Ziegenhain kam und sich auch vor diesem Kreuzfeuer versteckt hatte. Auf diese stieß das geängstigte Pennal. Mit einem Schrei des Schreckens wollte das Jungfräulein fliehen; aber der angehende Student bekam Courage und hielt das erschrockne Kind am Arm fest mit den Worten: „Lauft doch nicht den Wilden in die Arme; Ihr habt Euch gewiß hier bergen wollen vor ihnen – ich auch. Wartet mit mir hier, bis sie vorüber sind!“ – Das Mägdlein wurde ruhig.
Martin setzte sich mit einem Anflug von Ritterlichkeit hinter einen Busch und blickte durch die Zweige hinüber nach der lieblichen Abendröte. Da lispelte das verschämte Jungfräulein: „Ihr ſeid doch auch ein Student?“
Das ritterliche Pennal sagte, ohne seinen Blick von der Abendröte abzuwenden: „Seit heut; aber es ist mir nicht wohl zu Mut.“
Die schlanke Jenenserin hatte schon einigemal mit ihrem langwimperigen Blick den Unwohlen gestreift und sah eben wieder nach ihm hin, ob es noch nicht besser mit ihm werden wolle. Der schüchterne Student lud sie zum Niedersetzen ein, damit sie vom Gebüsch gedeckt werde und vor den losen Burschen verborgen bleibe, und blickte dabei nach ihr hinüber.
Da traf sein Blick in das große, dunkle Auge, das sich eben auftat, um zu untersuchen, ob der Student von heute noch immer nach dem Abendrot luge. Das war ein schlimmes Treffen. Die Jungfrau ließ sich auch hinter einem Busch nieder, und nun sah das Pennal nicht mehr nach dem Abendrot, und die Jenenserin kümmerte sich nicht mehr um sein Unwohlsein.
Da trafen die singenden Rotten auf einander, und das war auch ein schlimmes Treffen. Der Gesang verstummte, Zank erhob sich, die Degen schlugen Feuer aus den Steinen, es gab Schmähreden und Flüche, es entstand ein wildes Gedränge und Geschrei. Martin blickte verstohlen nach dem Mägdlein hinüber und bemerkte, daß es blässer aussehe als vorher. Sein ritterlicher Anflug verstärkte sich, und er verließ seinen Busch und setzte sich hinter den Busch des Mägdleins.
„Ist Euch bange?“
Sie bewegte sanft den schönen Kopf und lächelte, und dabei streifte sie den Nähergerückten mit ihrem sengenden Blick. Und das war wieder ein schlimmes Streifen, weil Martins Auge bei seiner Frage gerade offen stand.
Der Studentenskandal legte sich, die Abwärtskommenden zogen weiter, singend der Stadt zu, und die Aufwärtssteigenden schlugen johlend und grölend den Weg nach Ziegenhain ein. Als sie an dem Pärchen im Busch vorüber waren, rückte Martin näher und flüsterte: „Doch wieder ein Duell! Diese Unmenschen!“
„Es dunkelt; mein Vater ist steng!“ Das ängstliche Kind wollte sich erheben; aber Martin faßte ihre Hand und bedeutete sie, daß es besser sei, noch einige Minuten zu warten, und er könne sich nicht nehmen lassen, sie bis an ihre Wohnung zu begleiten.
Das gute Mägdlein fügte sich in den Vorschlag.
Am Saaltor blieb das Jungfräulein stehen, und ehe es dem Studenten seinen Dank für den gewährten Schutz aussprechen konnte, rief der Türmer unwirsch herab: „Vor einer Stunde schon sah ich nach dir aus! Was ist passiert?“
Da wandte sich die verlegne Tochter an den Studenten mit der Bitte: „Erzählts ihm selbst; das ist das Kürzeste.“ Martin stieg mit in den Turm hinauf.
Der Alte war mit Feuerschlagen beschäftigt, als seine Tochter mit ihrer Zeugschaft eintrat. Sein Zunder wollte nicht fangen, und er murmelte die seltsamsten Flüche auf seinen Stahl und Stein herab, denen taktmäßig Funkenbüschel entsprühten. Das Mädchen legte ein Beutelchen mit Geld auf den Tisch, holte andern Zunder und löste den Alten ab in seinem ärgerlichen Geschäft. Bald erleuchtete ein langer brennender Buchenspan auf einem großen Leuchter neben dem Tisch die kleine Stube. Und während das Jungfräulein ein Gefäß mit Wasser holte und unter die Flamme stellte für die abfallenden glühenden Kohlen, hatte sich der Alte breitspurig, die Fäuste in die Seiten gestemmt, vor Martin hingestellt und gerufen: „Schwenzelenz! Das ist ja das scharmante Herrlein, das mich heute abend von unten herauf so freundlich begrüßt hat. Setz er sich nieder! Was ist denn sein Begehr?“
Martin setzte sich und erzählte kurz das sonderbare Zusammentreffen mit des Türmers Töchterlein. Er ſchloß: „Weil Ihr nun Eure Tochter eher habt erwarten mögen, als sie gekommen ist, hab ich auf ihren Wunsch Euch bezeugt die Ursache ihres Verbleibens.“
„Ich hätte meiner Tochter auch ohne Sein Zeugnis geglaubt; aber sei Er mir willkommen auf meinem Turm! Eher hätt ich geglaubt, daß einer der vier Affen am Turm des Johannistors herabsteigen und mich besuchen, als daß so ein junger Student bei mir einkehren würde.“
Martin wollte sich verabschieden, wurde aber von dem Türmer auf seinen Stuhl niedergedrückt mit der Bedeutung: „Ein Stündchen da oben bei mir möchte einem Studentlein wohler bekommen als den Schlemmern ihre Nächte auf dem Fuchsturm. Ich war auch einmal Student. – He, Susanna! Es wäre höchlich an der Zeit, das Abendbrot aufzutragen! Er ist mein Gast, wenn auch nur auf ein Stündlein. Schwenzelenz! – Was ich sagen wollte, Susanna! Der Ziegenhainer hat also bezahlt? Gut, morgen werde ich nachzählen. – Ja, sieht Er, guter Freund! ich habe viel erlebt – aber da oben auf meinem Turm, wenn er auch nicht hoch ist, will ich den Sack zubinden! So, Susanna, du verstehst mich; nun hol in der Nachbarschaft noch eine Kanne Orlamünder! – Zugelangt, Er wird auch Hunger haben! Schwenzelenz!“
Der aufgeräumte Alte rückte die aufgetragnen Eier, Wurst, Käse und Brot zurecht und eröffnete mit gutem Appetit das Mahl. Martin hatte allerdings Hunger und langte tapfer zu. Der Kontrast, in dem die Wohlhäbigkeit auf dem Turm zu der „schlechten Zeit“ stand, stärkte den Appetit des Pennals ungemein.
„Er war also auch Student?“, fragte Martin.
„Das will ich meinen! Schwenzelenz! Hab jus studiert, bin aber relegieret worden, sintemal ich meinem guten Freund den Schädel nicht hab spalten lassen.“
„Das ist ja aber schandbar!“
„Nenn Er es schandbar, oder wie Er will: die töllsten Streiche machen die Studenten. Das war schon zu meiner Zeit so.“
„Daß er den Freund geschützt hat, war gewiß nicht schandbar, aber die Relegation!“
„Ich mußte mirs gefallen lassen. Es war im Juli 1561 – die grassationes nocturnae waren im Schwang – eine warme Nacht; wir hatten einen Tumult mit den Bäckergesellen. So ein infamer Hund schwingt das Schwert über meinem Freund – ich sehs und haue ihm das Eisen aus der Hand, aber auch drei Finger mit hinweg. Ich ward im hellen Mondlicht erkannt und am folgenden Tag relegiert. Aber ich freute mich doch, daß mein guter Franke den Schädel noch heil hatte – hieß Johannes Hübner.“
„Das ist mein Großvater!“, rief Martin in großer Aufregung, „der Pfarrer in Bindlach!“
„Heilige Dreifaltigkeit! Junge, sei fein Narr!“, rief der Alte und sprang auf.
„Mein Großvater hat einmal von einem Kommilitonen Erasmus Schmid gesprochen.“
„Schwenzelenz! Der bin ich ja! – Ei, ei, ei! Macht mir der Herrgott noch so eine Freude, ehe ich den Sack zubind! Na, nun wirds Zeit, daß das Orlamünder kommt!“
Der Alte riß die Stubentür auf und rief die Treppe hinab: „Susanna, kommst du? Du hast mir einen Boten von meinem Frankenfreund mitgebracht! Schwenzelenz! Hast du mir eine Freude angerichtet!“
Susanna trat ein und sagte erstaunt: „Ihr sitzt ja im Dunkeln!“ Der Rest des brennenden Spans war ins Wasser gefallen. „Ich will mein Lämplein anbrennen, Vater.“
„Nichts da! Ich bleib bei meinem Kandelaber. Ein Licht, das nicht wärmt, mag ich nicht. Schlag Feuer, Susanna! Wer denkt denn an das Lichtschürn, wenn einem so ein Licht von Franken her aufgeht? Schwenzelenz! Nun muß der alte Erasmus dem jungen Hübner einmal ordentlich in die Augen leuchten!“
„Nicht Hübner, Martin Bötzinger! Meine Mutter ist das Kind Eures Freundes!“
„Richtig! So! Die Jugend schlägt über die Mutter in den Großvater. Leucht her, Susanna! Das sind ganz seine Augen – hab ich nicht Recht, Susanna?“ Susanna lachte.
„Schenk ein, Susanna! Drei Gläser! Schwenzelenz! Vivat, der junge Franke!“
Das Gleichgewicht in dem Alten hatte sich einigermaßen wiedergefunden, und das Abendessen wurde fortgesetzt in Gesellschaft der Susanna. Nun aber begann in dieser das Gleichgewicht mit jedem Herzschlag in größere Gefahr zu geraten, weil sie dem jungen Franken ins Auge hatte leuchten müssen.
Von Zeit zu Zeit, wie es eben das Gespräch mit sich brachte, wallte es in dem Alter immer wieder auf.
Wenn der Mann im unbarmherzigen Gang des Lebens ein Jugendideal nach dem andern hat begraben, und er nun kühl, oft gar bedauerlich kühl um sich blickt und das Streben, Sehnen und Glühen des Jünglings als der Überlegne belächelt; wenn für ihn das Leben gleichsam aufgeschlagen liegt als ein Buch, aus dem die besten Blätter herausgerissen sind; wenn dieser kühle Mann nun seine eigne, so reiche Jugend als einen großen Irrtum bezeichnet; so ist diese trostlose Nüchternheit das Resultat einer falschen Subtraktion. Gar manches hat er ausgestrichen, was doch noch ist. Es gibt Hohes: und das Hohe ist unvergänglich. Weil sich aber der Mensch zu leicht im Gemeinen verliert, so geht ihm der Sinn für das Hohe verloren. Dann steht er in dem Wahn, das Hohe sei nie dagewesen. – Aber wie im Herbst, wenn die Felder leer sind, und das Laub zu gilben beginnt, bei sonnigen Tagen unsichtbare Spinnerinnen mit weißseidnen Flocken Baum und Busch überziehen und die Erinnerung an die Blütenpracht des Frühlings wachrufen; so, wenn das Menschenleben zur Rüste geht, beginnen geheimnisvolle, wohltätige Himmelsmächte im Herzen einen Faden nach dem andern zu spinnen über die Lebensöde hinweg nach der reichen Jugendzeit zurück: und der Greis lächelt nicht mehr über das Streben, Sehnen und Glühen des Jünglings; er verspürt noch einmal in tiefster Brust auch das Glimmen der Jugendfreundschaft.
Dieses Glimmen war im alten Erasmus Schmid in lauten Jubel ausgebrochen. Er konnte sich nicht satt hören an den Erzählungen Martins von seinem Großvater in Bindlach; es hätte not getan, Martin hätte ihm den Grundriß des Pfarrhauses, der Kirche, des Dorfes hingezeichnet, so eingehend trieb der alte Erasmus seine Forschung.
Endlich nahm Martin Abschied von dem Freunde seines Großvaters, und Susanna holte ihr Lämpchen herbei, dem gewonnenen Hausfreund das Geleite zu geben und den Torschluß zu besorgen.
Der Alte rief die Treppe hinab dem Scheidenden nach: „Komm bald wieder, Herzensjunge! Ich habe dir noch meine Geschichte nach der Relegation zu erzählen!“ – Und Martin rief von unten hinauf: „Und ich meine Würzburger Reise.“ Aber der Alte meinte eigentlich das Geheimnis, das ob der guten Susanna schwebte, und der Junge sein Geheimnis von der großen Fledermaus.
Am Ausgang des Turmes fand ein merkwürdiger, stummer Abschied statt, sodaß, als Martin auf der Straße stand, und der Riegel einen humoristischen Gedankenstrich zwischen ihm und ihr machte, es ihm vorkam, als hätte er nicht einmal „Gute Nacht!“ zu ihr gesagt. Aber sie tat einen fröhlichen Seufzer und stieg beherzt im Turm empor.
Am andern Morgen drinnen in der Stadt auf einem Wetterbrett schimpfte ein Sperk gottheillos auf die angekommne Mauerschwalbe, die ihn „aus seinem Logis vertrieben und sein Eheglück gestört habe“ – der Bachsterz hatte bereits den Dachfirst hundertmal inspiziert und eben seinem Haushalt unter dem zerbrochnen Ziegel einen Besuch mit dem Bemerken abgestattet, daß des Nachbars Kater unbeweglich drüben unter der Dachluke in der Sonne liege, weil er sich in vergangner Nacht im Duell mit eine vielsemestrigen Kommilitonen eine Verrenkung zugezogen habe; und der Rotzagel hatte unter dem Dachsparren seiner brütenden Ehehälfte eben erzählt, daß der neue Student, der sein Fenster zu schließen vergessen habe, noch immer im Bett liege und mit geschlossenen Augen von einer Susanna rede, auch daß es heute einen fliegenreichen Mittag geben werde: da schlug ein Schorist mit seinem Degen auf Bötzingers Bettdecke, daß das träumende Pennal auffuhr und den Eindringling anstarrte, als wäre er eine große Fledermaus.
Der Schorist lachte hell auf und rief: „Bist du da, Martin?“ Und Martin, nachdem er sich die Augen gerieben hatte, rief: „Ei, hab ich dich endlich gefunden, lieber Jörg? Ich hab dich nun schon drei Tage gesucht.“
„Und hast mich bis dato nicht gefunden! Ich mußte dich erst ausfindig machen.“
Nun hatten sie sich einander wieder, zwischen deren Herzen draußen in Franken der Gott der Ferien das Gewebe der Freundschaft angeknüpft hatte.
„Was starrft du mich so an, mein zartes Pennal?“, fragte Jörg Eisentraut von Ibind.
„Ich bewundre deinen An- und Aufzug, Jörg; es scheint, du spielst den
Großen?“
Jörg Eisentraut, der Theolog der Zukunft, stand da mit breitgestülptem Sammetbarett, in einem seideverbrämten Wams, zerschlitzter „Pluderhose“ mit aufgeschnittnem Unterfutter, breitgestülpten kurzen Stiefeln, den Stoßdegen mit unförmlichem Korbgriff an der Seite; der Hals, mit großer linnener Krause geziert, war bloß bis auf die Schultern, auf denen ein kurzer bunter Mantel hing. Der Bart versuchte seine ersten Windungen.
„Dieser Aufzug hat deinem Vater ein Paar Ochsen gefressen; das ist mir zu toll!“
Da schlug Jörg eine garstige Lache auf und rief: „Mein liebes grünes Pennal, das verstehst du noch nicht. Wer sich ein Jahr lang in Pennallumpen herumgedrückt hat, der freut sich seines „Agenten“-Bewußtseins erst dann, wenn sein Äußeres mit dem Innern harmonieret. Eine ganz sonderliche Ursach aber hab ich, vornehm aufzutreten, da ein Kätzchen, so auf dem Saalturm hauset, mir Widerpart hält und das Fenster zuschiebt, wenn ich komme. Ich werd sie noch fangen, und wenn der alte Schwenzelenz-Schmid sich auf den Kopf stellt! –
Hast du schon vom neuen Fechtmeister gehört? Die Akademie Jena hat eine große Acquisition gemacht, um die sie ganz Deutschland und das Ausland beneiden wird. Ein genialer Schüler der berühmten privilegierten Fechtergilde, der Marxbrüder zu Frankfurt
am Main, der große Fechtmeister Wilhelm Kreußler, hat sich dauernd hier niedergelassen: eine neue Ära wird anbrechen. Seine Kunst besteht darin, daß der deutsche Degen mit breiter, beides zum Hieb als zum Stich geeigneter Klinge geführt, aber nur zum Stoßfechten benutzt wird. – Tue etwas hurtig dazu, dich in dieser edeln Kunst auszubilden; wenn du in „Balgerei“ kämst, müßtest du als ein erbärmlicher „Feix“ das Hasenpanier ergreifen.
Martin war aus dem Bett gesprungen und im Ankleiden begriffen. Dabei entwickelte er eine auffällige Hast – beim Schnüren seiner Hosensenkel wurde die Hand von einem leisen Zittern befallen. Auf die Fechtmeistergeschichte hatte er gar nicht gehört. Seine Gedanken jagten sich um eine unsichtbare Spindel wie die Daumen des weiland Bischof Julius Echter von Mespelbrunn, als er mit dem Koburger Kustos disputierte. – Kaum erschaut das liebliche Wesen, um das sich Mut und Zagen in seiner Seele streiten, wandelt es ihm den Freund in einen Feind um.
„Du hasts auf einmal gar eilig, mein Muppergensis!“, spottete Jörg, der stolze Schorist.
„Ich will ins Kolleg!“
„Zu wem?“
„Zum Magister Heider!“
„Da hättest du früher aufstehen sollen; der liest um acht; jetzt schlägt es neun!“
„So geh ich zu Gerhardus!“
„Der liest um sieben!“
„Geh ich zu Major Himmelius!“
„Der liest heut nicht!“
„Gehts zu Hoffmann!“
„Der führt heut seine Studenten herbatum.“
„So gehe ich nach Ziegenhain!“
„Nach Ziegenhain geht man nicht des Morgens. Geh mit mir auf den Burgkeller: du mußt. Doch deine Franken kennen lernen, mit denen du nächten deponieret worden. Beim Absolutionsschmaus, den du versäumt hast, hat unsre Nation die Ehre der alten Trinkländer ins rechte Licht gesetzt. Auf solche heldenhafte Taten hat ein warmes Frühstück zu folgen, das du dir nicht versagen darfst; maßen eine Absolution ohne Schmaus ein Komet ohne Schwanz ist, solltest du derohalben doch wenigstens ein Schwänzlein daran hängen.
Dem armen Pennal ward wieder übel. Am Tage vorher hatte ihn doch wenigstens ein ihm Fremder, ein dazu Verpflichteter und Vereidigter geohrfeigt, behackt, gehobelt und eingeseift: heute marterte ihn sein Freund. Was waren alle Leiden des vorigen Tages gegen die Drohung seines Freundes, das Kätzchen auf dem Saaltor zu fangen, und wenn sich der Schwenzelenz-Schmid auf den Kopf stellte?
Der Bachsterz auf dem Dachfirst spottete hinüber zum verrenkten Kater: „So nahe liegen Liebe und Leid bei einander!“ Der schimpfende Sperk auf der Dachrinne rief in die Welt hinaus: „So nahe liegt Glück und Unglück beisammen!“ Und das neue Pennal seufzte tiefinnerlich: „So hart stoßen Freundschaft und Feindschaft an einander!“
Martin Bötzinger ging willenlos neben dem Schoristen seiner Nation her; nicht lange, so trat er mit ihm auf dem Burgkeller ein mitten in eine zechende, ausgelassene Rotte, seine Nation. Bald trank man dem Pennal Muppergensis barbarisch zu: es bestand in Schanden und ward zu zehn Krügen verdonnert. Dann wurde angestimmt:
Ist ein Leben auf der Welt,
Das mir etwa wohl gefällt,
So ists das Studentenleben;
Gott hats gegeben,
Merkt euch eben:
Wer der Weisheit Freund sein mag,
Folge dem Studieren nach.
Sind es nicht Opifices,
Sind sie doch Artifices:
Wie geschwind auf Instrumenten
Die Studenten
Mit den Händen
Musizieren allzugut,
Daß sich alles freuen tut.
Wenn sie denn studieren sehr,
Daß ihn'n wird der Kopf zu schwer,
Gehen sie bei Nacht spazieren,
Musizieren
Und vollführen
Eine solche Lustbarkeit,
Daß sich Leib und Seel erfreut.
Stört man ihre Lustbarkeit,
Heben sie bald an ein Streit,
Greifen alle nach dem Degen,
Gehn entgegen,
Zu erlegen
Den, der ihn'n hat was getan,
Trutz fang einer Händel an!
Vivant omnes insgemein,
Die den Studenten günstig sein,
Ha, sa! Vivant studiosi!
Generosi!
Animosi!
Vivant omnes Jungferlein,
Die den Studenten günstig sein.
Die letzten Zeilen sang Görg Eisentraut mit solcher Stentorstimme, daß seinen Freund Martin ein Grauen anwandelte.
Nach Schluß des Liedes trat ein Schorist herein in einem Professorenrock und persiflierte den Magister Wolfgang Heider.
Auf einem Tische ward aus Stühlen ein Katheder aufgebaut, das der falsche Magister alsbald bestieg. In einer oft von Beifall unterbrochnen Rede schilderte er den Jenenser „Schoristen“. So interessant diese Schilderung auch war, so müssen wir doch auf ihre Wiedergabe verzichten, sintemal sie als ein zu barbarisches Attentat auf unser heutiges Ohr höchlich mißfallen würde. Nur einige der zartesten Stellen mögen zum besten gegeben werden.
„Das öffentliche Kollegium besuchet der Schorist entweder niemalen, oder gar zu langsam: er höret keine Lektion. Bisweilen lauscht er vor der Tür, keineswegs, daß er etwas Notwendiges lernen wollte, sondern damit er etliche Sprüchlein auffassen und darnach unter seinen Rottburschen und Zechbrüdern erzehlen, der Professoren Stimme, Reden und Geberden nachaffen und zum Gelächter befördern möchte.
Bisweilen spazieret er haußen auf dem Saal und redet mit seinen Gesellen von Narrenpossen. Früh schläft das zarte und liebliche Brüderlein bis um neun, darnach aber, wo etwas Zeit bis zum Mittagsmahl übrig, bringt er solche zu, die Haare zu kämmen, zu krümmen, zu putzen, zu reiben …
Nach Mittag schläft entweder das faule Murmeltier und Meerkalb, oder wandelt mit seinem Jungen umher in dem nächsten Weidrich, oder sitzet in gemeinen Trinkzechen und rüstet sich also zu den annahenden Nachtscharmützeln, daß man auch dazumal, wie tapfer und frisch er sich halten werde, abmerken kann.
Wenn es ihm den Tag über in der Buhlschaft unglücklich ergangen; wenn zwischen ihm und seinen Saufbrüdern ein Zank entstanden; wenn er an die Pflastersteine anstößet; wenn er dem andern antwortet: so flucht er siebenhunderttausend Sakramenter.
Auf den Stuben der Schoristen siehet es also aus: Wenige Bücher sind vorhanden, und was da ist, das liegt unter der Bank, oder es sind Zauber- und amadische Fratzen. An der Wand sieht man etliche Dolche und Sticher, die nicht viel wert sind, um solche dem Rektor auf den Notfall einzuhändigen, etliche Büchsen, Panzer und eiserne Handschuhe, Wämser, die inwendig mit Werg, Baumwolle, Haar und Fischbein dicht ausgestopfet und vermachet sind, damit, wenn es zur Faust gerate, sie die Stich besser aushalten können. Man sieht große Humpen und Gläser, Karten, Brettspiele und Würfel. Ferner etliche Schriften, worauf angemerket, daß dieser oder jener daselbst niedergesoffen worden.
Endlich scheidet der Schorist von der Universität, fast allezeit schattengelb, mager, halbäugig, hinkend, zehrlos, mit Narben und Heften durch und durch zerflicket.“
Dem Martin Bötzinger ward wieder übel; er drückte sich davon und eilte ins Freie. Erst als die Steile des Weges seinen Sturmschritt in den eines Spaziergängers umwandelte, merkte er, daß er bereits weit von dem wilden Treiben des Burgkellers entfernt sei. Er stand still und sah nach der Stadt zurück.
Am Rand des Weges standen die Schlehensträucher in voller Blüte, und junges Gras sproßte dazwischen. Martin wandte sich wieder zum Weitergehen: sein Auge blieb an den weißen Blütenwolken hangen. Eben ließ sich ein Goldkäfer auf einen Zweig nieder; ein Goldammer trug dürre Hälmchen zum Neste. Da warf sich Martin auf den grünen Rasen zwischen den blühenden Schlehenhecken und sah in den blauen Himmel hinein und seufzte tief. „Sie schiebt das Fenster zu, wenn er kommt. – Aber er ist dreist und ein Schorist: ich bin ein trauriges Pennal! – Wenn sie einmal das Fenster offen ließe!“ – So redete und seufzte das grüne Pennal das Himmelblau au. Plötzlich brach er wie verzweifelt laut in die Worte aus: „Meine Freundschaft und meine Liebe erwürgen einander! Das Studentenleben ekelt mich an! Meine historischen Studien werden mir verkümmert werden! Ich bin elend! – Ich werde untergehen!“
Er hatte nicht bemerkt, daß zwei Herren den Berg herab gekommen, nicht weit von ihm stehen geblieben waren und seine laute Klage angehört hatten. Der eine fiel auf den letzten Ausruf Bötzingers ein: „Er wird nicht untergehen! Er nennt sich elend? Gerade, weil er das historische Studium liebt und ihn das Studentenleben anekelt, ist zu hoffen, daß er nicht untergehen wird. Und wenn seine Freundschaft und Liebe drohen, einander zu erwürgen, so sind das ja ganz mörderische Leidenschaften in ihm, an denen nicht viel verloren sein mag, wenn sie einander auffressen.“ Der andre Herr lächelte teilnahmvoll.
Bötzinger war aufgefahren und starrte den Sprecher an als einen Boten der großen Fledermaus. Die Herren redeten dem „traurigen Pennal,“ das wie zerschmettert da stand, zu, sich ihnen anzuschließen. Der herrliche Ernst, der das Gesicht des einen schmückte, und die sonnige Herzensgüte, die aus dem Gesicht des andern strahlte, wirkten so besänftigend und magisch auf das junge Gemüt, daß Martin, von neuem Lebensmut erfüllt, den Herren folgte. Sie erkundigten sich nach seinen Umständen und Nöten, und als Martin endlich auch die Sorge aussprach, „seine dreißig Gulden Stipendium würden nicht drei Monate klecken in dieser bösen Kipperzeit,“ erwählten sich die beiden Herren ihn zum Famulus.
Nun war Martin geholfen; nun hatte er gefunden, woran er sich halten konnte auf den Wogen des skandalösen Studentenlebens. Auch hinsichtlich seines leiblichen Unterhalts war ihm geholfen, sodaß er später als Pfarrer in seinem vitae curriculo schreiben konnte: „Wunderbarlich nehrte mich Gott der Herr zu Jena in der bösen Kipperzeit. Ich bekam eine stattliche Famulatur bei zwei Hallensibus: M. Mengeringio und Gottfried Scheffern. Davon hatte ich wöchentlich fünf Groschen. Darneben ließen sie es gutwillig geschehen, daß ich alle Tage vor vier Pfennig Semmel auf ihr Kerbholz schneiden ließe. Denn sie hielten bei dem Becken ein Kerbholz. Weil ich nun Famulus war, vergaß ich meines Besten nicht. Sie waren auch beide sehr andächtig, gottesfürchtig und fleißig; Mengering hielte Collegia, deren ich auch genosse, und brachte die Landsleute fast alle in seine Collegia.
Martin Bötzinger ward ein fleißiger Student. Er hielt sich zurückgezogen und kam darum mit seinem Freund Jörg, der im wilden Strome schwamm, nicht oft zusammen. Neben der Theologie lag er mit großer Emsigkeit seinen historischen Studien ob.
Es war am Freitag vor Pfingsten; die vierzehntägigen Ferien hatten begonnen. Aber Martin saß auf seiner Stube, vertieft in die berühmten Centuriae Magdeburgenses. Das war eine ausführliche Kirchengeschichte, die der Illyrier Matthias Flacius einst in Magdeburg „mit Hilfe vieler Handlanger verfertigt“, und durch die er die Notwendigkeit der Reformation historisch erwies. Die Flacianische Behauptung, die eigentliche Substanz des Menschen sei die Erbsünde, und er sei nicht ein Ebenbild Gottes, sondern des Teufels, brachte den jungen Forscher in große Aufregung. Er lief in seiner Stube auf und ab und stellte wieder ernstlich Betrachtungen an über den Unterschied zwischen Narren und vernünftigen Leuten. Da polterte sein Freund Jörg in die Stube und sagte: „Greif zur Klinge! Laß sehen, was du bis jetzt beim Meister aller Meister, unserm benedeiten Kreußler, profitieret hast!“
Martin zeigte stumm nach den Centuriae Magdeburgenses. Der Schorist Eisentraut lachte laut auf und rief: „Pennalschrullen! Willst du das Fechten aus Büchern lernen?“ – Er schlug das Titelblatt des Buches auf und rief: „Nur ein simples Pennal wie du bringt das fertig, der gloriösen Klinge unsers großen Kreußler das Flacianische Messer vorzuziehen!“
Martin fragte etwas betreten: „Was meinst du mit dem Flacianischen Messer?“
Da warf sich Jörg Eisentraut gewaltig in die Brust und erklärte im Gefühl seiner unwiderstehlichen Überlegenheit: „Zur Fabrikation dieses Buches da hatte sich Flacius ein ganzes Bureau mit einem Heer von Mitarbeitern eingerichtet und raubte aus allen Bibliotheken Bücher zusammen, aus denen er das, was er brauchte, nur herausschnitt: daher das „Flacianische Messer,“ mein lieber Freund und Philosoph – noch immer in Schülerschuhen! Das war sicher eine gloriöse Zeit an der hiesigen Akademie, da der Erbsünden-Flacius und Professor Viktorin Strigel einander in den Haaren lagen. Ich hätt dabei sein mögen, als die Strigelianer das Collegium Flacianum erstürmten und gänzlich vernichteten.“
„Wo hast du diese Nachrichten aufgefunden?“
„Das erfährt man alles gelegentlich auf der Kneipe. Warum fliehst du des Lebens frischen Born? Da ist mehr zu holen als aus diesem spitzbübischen Flacius, der aus lauter Respekt vor dem lieben Herrgott seine vernünftigen Geschöpfe zu Teufelskindern stempelt!“
„Morgen werde ich mich in das Lehen hineinstürzen auf etliche Tage. Willst du mit, Jörg?“
„Auf etliche Tage?“
„Meinetwegen auf acht Tage!“
„Nicht zu hitzig, Martin! Das möchte doch einen zu großen Katzenjammer geben.“
„Gibt es denn für dich das Leben nur in der Kneipe, mein tapferer Philosoph in Schoristenstiefeln?“
„Das erklecklichste wenigstens.“
„Was macht dein Kätzchen auf dem Saaltorturm?“
„Mag Mäuse fangen oder Flöhe! Mir schnurrt ein andres gar süß und wonnig.“
„Gott erhalt es so! Doch, was ich sagen wollt: morgen will ich nach Bischleben reisen. Hast du Lust, dich anzuschließen?“
„Ja, das ist ganz was andres! Ich bin dabei! Wo liegt dein Leben, in das du dich zu stürzen gedenkst? Nanntest du es nicht Bischleben?“
„Bei Erfurt.“
„Ei, das wird ganz prächtig! Du willst dich wohl einstweilen nach einer Pfarre umsehen?“
„Allerdings! Der dortige Pfarrer hat ein Buch von meinem Großvater; das will ich holen.“
„Doch nicht vom Flacianischen Messer zugeschnitten? Dann lieber acht Tage lang mit der Kreußlerschen Klinge auf den Rosenkeller gelegt!"
„Nein! Das Äneäs Sylvii historisch Werk in Münchsschrift auf Großregalpapier gedruckt.“
„Aha! In Ebersdorf hast du also auch leer abziehen müssen wie in Würzburg? Und sollte die Reise nach Bischleben wieder ein großer Umweg werden: ich bin dabei. Ein Umweg in den Ferien eröffnet neue Spekula für das Leben.“
Martin war heiter geworden ob des Flacianischen Messers und ob des süßen, wonnigen Schnurrkätzchens und stimmte mit ein in das vergnügliche Lachen seines Freundes. Liebe und Freundschaft durften ja nun bei einander wohnen.
Der Sperk hatte sich längst aus seiner Wohnungsnot empor gearbeitet zu einem beneidenswerten ehelichen Wohlleben. Er hatte sich nicht weit von seiner Feindin unter demselben Wetterbrett mit seiner Madame wieder ganz herrlich eingerichtet, hatte am Sonntag vor Pfingsten fünffache Vaterfreuden erlebt, ob deren Mannigfaltigkeit ihn die Dohlen auf dem nahen Kirchturm verspotteten, und ließ, ganz aufgehend in der Geschäftigkeit eines pflichttreuen Brotschaffers, dem sich eben aus Martins Fenster nach dem Turmzifferblatt umsehenden Jörg Eisentraut etwas Warmes auf die Nase fallen. Der Schorist fuhr in die Stube zurück und rief entrüstet: „Bötzinger, was hast du für unflätige Gesellen über dir, die sich nicht entblöden, einem Theologen auf die Nase zu spucken?“
Martin versicherte, daß niemand über ihm wohne, der einem auf die Nase spucke; er wisse nur von einer Schwalbe, einem Sperk, einem Rotzagel und einem Bachsterz – Jörg müsse sich wohl geirrt haben. Dieser aber sagte: „Ich werde dir ein Blasrohr verschaffen, damit du dieses leichtsinnige Gesindel wegputzen kannst. – Also morgen sieben Uhr Ausmarsch, Sturz ins Leben! Adjo!“
Als Martin allein war, sah er sich um nach seinen Hausgenossen über sich. Er hörte vom Dachfirst her die Rufe des Bachsterz, sah, wie der Rotzagel eine Fliege von der Wand wegschnappte, und wie der Sperk sich vom Wetterbrett hinab auf die Straße stürzte und einige Brotkrumen auflas, die einem vorübergehenden, frühstückenden Bettelmädchen entfallen waren. „Ihr seid mir liebe Hausgenossen; euch verstehe ich besser als die Schoristen und manchen Professor! Wir vier bleiben gute Freunde. Die Mauerschwalbe sei geduldet, aber meine Freundin kann sie nicht werden; sie hat zu viel Ähnlichkeit mit der Fledermaus.“
So hatte Martin nun sein Haus bestellt am Tage vor seiner Abreise. Aber sein Herz wollte nicht zur Ruhe kommen; auch seine Famulusdienste hatten nur den halben Bötzinger. Verfolgte ihn der Vogelmord, der im Blasrohr steckt? Oder die Fledermaus? Quälte ihn die Erbsünde? Oder war es Unruhe ob des Äneas Sylvius, den er nun bald besitzen oder wieder nicht finden werde? Je näher der Abend heranrückte, desto unruhiger wurde es in ihm. Seine andre Hälfte trieb sich eben am Saaltor herum, und am Abend machte sich das arme Pennal auf, diese desertierte andre Hälfte einzufangen. Hastigen Schritts ging der sonderbare Jäger durch das Saaltor, ohne zu den Fenstern des Turmes aufzublicken.
Und das war es. Sechs Wochen waren verstrichen, und der junge Franke hatte noch nicht wieder den Retter seines Großvaters besucht. Wer konnte wissen, ob das Fenster auf dem Turm immer zugemacht worden war, wenn der stolze Schorist kam? Das waren sechs qualvolle Wochen gewesen. Heute erst hatte sich herausgestellt, daß sich das traurige Pennal ohne Not gequält hatte. In dem humoristischen Gedankenstrich eines Torriegels liegt oft auch tiefer Sinn.
Nicht einmal aufgeblickt hatte Martin und war durchs Tor gelaufen: er hatte kein gutes Gewissen. Und weil er durchgelaufen war, wurde sein Gewissen noch schlimmer, und es ging nun durchaus nicht mehr anders; er kehrte um und stieg in dem Saaltorturm empor. Es war just um dieselbe Zeit, wo er vor sechs Wochen bei Erasmus Schmid eingetreten war; aber heute war es noch lichter Tag. Der Kandelaber war vor den langen Tagen in einen Winkel der Küche zurückgewichen.
„Schwenzelenz! Ist das eine Ader von meinem Johannes Hübner in Bindlach? – Acht Tage – vierzehn Tage – auch drei Wochen hab ich mirs gefallen lassen. Aber dann dacht ich: Jugend hat keine Tugend! – Er weiß also doch noch den Weg auf meinen Turm?“
Mit diesen Worten, die Fäuste in die Seiten gestemmt, empfing der Turmwart den jungen Franken. Dieser erklärte in seiner Verlegenheit: „Ich fürchtete immer, der Jungfrau Susanna im Wege zu sein – ich – – ich“ – „Hat diese Ihm was in den Weg gelegt?“ – „Mit nichten!“ „Vor der braucht Er sich nicht zu fürchten, weder im Bösen noch im Guten.“ Und der Alte schüttelte dem Besuch die Hand, und beide nahmen Platz an dem Ahorntisch, schön weiß wie der in der Mupperger Schule. Bald kam Erasmus auf seine Geſchichte nach der Relegation. „Ja da stand ich nun, was anfangen? – Ich war geschickt im Lautenschlagen und verstand gar fein zierlich zu singen, war überhaupt mit den Mysterien der Musika vertraut. Schon als Student war ich derowegen geschätzt und gesucht. Also machte ich mich auf mit meiner Laute – einem veritablen Instrument, und reiste von einem Rittergut und Schloß zum andern. Und siehe da, ich ward bald als Lehrer des Lautenspiels, als Notenschreiber und kurzweiliger Gesellschafter arg begehrt. Ich verlebte schöne Tage – die lustigsten auf dem Brandenstein. Als ich später freite, hat mir der Ehestand durch meine Musikfahrten einen Strich gemacht. Nur auf dem Brandenstein wollte man mich nicht entbehren, also daß ich auch im Ehestand dorten noch etliche Besuche machte, bis uns nach langem Harren endlich ein Töchterlein beschert worden. Ein Jahr darnach habe ich den Brandenstein auch quittieret.. Aber ich habe mich hier in der Stadt nachmals recht gut genähret. Viele Studenten habe ich in meiner Kunst, in der ich mich immer mehr vervollkommnete, unterrichtet und mancher Dame noch die Finger zurecht gestellt.“
Erasmus ließ seinen Beſuch auf einige Minuten allein. Dieser war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Geschichte nach der Relegation, seine umherschweifende Hälfte, die er schon eingefangen zu haben geglaubt hatte, war ihm wieder entwischt und flackerte zwischen dem Gebüsch am Hausberg hin und her. – Die Hauskatze drückte sich schnurrend an seinen Beinen herum; aber er stieß sie unmutig von sich.
Der Alte kam wieder zurück mit einem Krug Wein, schenkte ein und stieß mit dem Enkel seines Freundes an auf „die guten alten Zeiten.“ Dann fuhr er fort: „Ich hatte mir zu dem Erfreiten noch ein Sümmchen gespart, hatte auch außerdem noch eine ganz absonderliche Einkunft, und heute noch, daß ichs mit ansehen kann in diesen bösen Zeiten. Da mein einziges Kind die Pest hinweggerafft hatte, und vor zwei Jahren auch meine Ehehälfte – Gott hab sie selig! – mir ein Schnippchen geschlagen hat; da litt es mich nicht mehr da drunten in der dicken Luft: ich zog auf diesen Turm, wo ich auch den Sack zubinden will. – Die Pest, Junge, die Pest ist das abscheulichste Metier des Sensenmannes. Wenn der Hippenmann in der Pest einherfährt, kömmt mir die Menschheit vor wie der alten Deutschen Unterweltsgöttin Hel, halb weiß, halb schwarz. Die Pest hat im Jahre 1578 durch ihr Wüten in Jena die ganze Akademie in die Flucht gejagt. Bin damals als Lautenschläger und Singemeister auch mit ausgewandert nach Saalfeld. Die
vormundschaftliche Regierung in Weimar hatte es also befohlen, und der Stadtrat in Saalfeld sorgte für das Unterkommen und die Verpflegung der Professoren und Studenten und bestimmte die Gebäude des vormaligen Franziskanerklosters zu Hörsälen und Convictorio. War auch ein lustig Leben in Saalfeld, sintemal die achthundert Bergknappen dort sich ihres vermeintlichen herkömmlichen Rechts an die jungen Weibsbilder nicht begeben wollten zu Gunſten dero herrschsüchtigen Akademici, also daß manch Tröpflein heißen Blutes floß. Aber von dem Prorektor ist denen Studenten dahin Vorhalt geschehen: „Ihr Gesellen! Worzu gehe ihr zu freien aus? Lernet vorher etwas Rechtschaffnes und freiet vorerst nach einem Dienst, ehe ihr euch um ein Weibsbild umtut!“ – Am 9. März 1579 sind wir wieder in Jena eingezogen mit großem Schall und Jubilieren. – Ja, die Pest, die Pest! Sie hat mir auch mein Haus halb weiß halb schwarz vor die Augen gestellt. Nun ist nur noch ein wenig Weiß übrig da auf meinem Kopf: bald fährts hinunter zu dem Schwarz!“ Martin wendete ein: „Er denkt ja gar nicht an Jungfer Susanna?“
„Schwenzelens! Junge, du hast Recht. Gut, daß sie nicht da ist; sie ist bei einer Freundin in der Nachbarschaft im Garten. Ja, sonſt hätt ich längst einen Krug Orlamünder holen lassen. – Aber es ist doch so. Weil ich nun einmal geschwatzt habe – Schwenzelenz! Junge, das ist mir noch nicht passiert! –– Aber weil ich nun einmal A gesagt habe, will ich auch B sagen: du sollst erfahren, wer die Susanna ist.“
Plötzlich horchte der Alte auf, legte den Finger auf den Mund und sagte dann leise: „Sie kommt!“
Susanna trat ein, drehte sich aber flugs um, als sie den Franken dasitzen sah, und griff noch einmal nach der Türklinke, als ob sie nicht ordentlich eingefallen gewesen wäre. Dann ging sie beherzt zwei Schritte näher und wünschte „ Guten Abend“ in einem Ton, aus dem dem „traurigen Pennal“ alle „Mysterien der Musika“ zu reden schienen.
Es wurde noch von diesem und jenem geredet: am meisten redete der Alte. Martin und Susanna dachten noch weniger, als sie redeten: ihr ganzes Sein ruhte in den Augen und in den beinahe hörbaren Herzschlägen. Und als die Hauskatze sich wieder an Martin heranwagte, klang ihm ihr Schnurren wie süßer Sang und Lautenspiel. Der Tag war zwar lang gewesen; aber nun ging er doch der Nacht aus dem Wege.
Martin verabschiedete sich. Der Alte legte ihm beim Abschied ans Herz, nicht wieder solange seinen Turm zu meiden; von der Susanna habe er nichts zu fürchten. Dieser Zusatz des Alten trieb dem friedliebenden Jungfräulein das Blut ins Gesicht. Um ihre Friedensliebe mit der Tat zu beweisen, und weil doch der Riegel vorgeschoben werden mußte, stieg sie dem Scheidenden voran die Stufen hinab. An der Turmpforte angekommen, fragte Susanna verschämt, ob Martin sich vor ihr fürchte? Martin verspürte im Dunkeln – zuweilen eine Wohltat für die Menschheit – einen ritterlichen Anflug und entgegnete: „Liebe Susanna! Ich fürchtete sechs Wochen lang, dir durch einen etwaigen Besuch lästig zu werden. Diesen Grund meines Wegbleibens habe ich als Entschuldigung angeführt auf die Vorwürfe deines Vaters. Daher seine Bemerkung. Aber der heutige Vormittag hat mir gezeigt, daß mich ein Wahn verblendet hatte. Verzeihe mir, Susanna!“
Nun hätte Susanna zu fragen gehabt nach der sie angehenden wichtigen Begebenheit des Vormittags; aber sie hörte wieder auf zu denken. Und da das Auge für das geheimste Sein und Weben im Dunkel keine Zufluchtsstätte mehr abgeben kann, somit der Herzschlag noch allein übrig bleibt für solche hohe Einquartierung, kam es, daß der Susanna das Herz zu voll wurde, und ein heißer Seufzer sich der wogenden Brust entrang. Weil aber Martin sich in derselben Lage befand, seufzte er auch. Und als er nach dem Pförtchentor greifen wollte, ergriff er aus Versehen – es war ja dunkel! – die Hand der Susanna. Da gebärdete sich das Sein und Weben der beiden Ärmsten in den jungen, weichen Herzen sehr ungestüm: es schwindelte ihnen, daß sie sich mit beiden ganzen Armen an einander festhalten mußten, und es kam Brust an Brust, und die Herzschläge trafen auf einander und schlugen auf einander, und Mund traf auf Mund. Da aber durchfuhr beide ein großer Schrecken, den sie noch nicht gekannt; noch nie empfunden hatten: und sie fuhren aus einander.
Und der rostige Riegel erlaubte sich wieder seinen humoristischen Gedankenstrich.
Martin vergaß an diesem Abend wieder sein Fenster zu schließen. Am Morgen, als die fledermausähnliche Bewohnerin des Wettersimses den Kirchturm umsegelt und in das Gekrächze der Dohlen ihr „Kyrie“ mischte, der Sperk aber in modernpoetischer Frische auf Sperk, Sperk – zirk zerk reimte und sich nach einem frühstückenden Bettelmädchen umsah, machte in dem offnen Fenster Martins der Rotzagel einen maliziösen Knicks und flog unter den Sparren und meldete seiner epigonenhaft-geschwätzigen Familie (zweiter Zeugung): „Der Philosoph und Historiker da unten liegt im Bett und spricht abermals mit geschlossenen Augen von einer Susanna. Auf heute vormittag zehn Uhr ist für unsre Wand ein Fliegenkongreß angekündigt.“
Ob dieser Kongreß politischen oder gewerbwirtschaftlichen, gelehrten oder kunstgewerblichen Charakters sein werde, davon schwieg der Rotzagelvater. Aber das knicksende und komplimentierende Prinzip spitzte sich schon zu auf Vernichtung so und so vieler kongregierender Faktoren, und sein Gelbschnabeltroß sperrte schon auf. Der Tages- und Jahreszeit nach mochte dieser Kongreß etwas verfrüht sein, wie so manches andre; aber die Macht der Sonne ist eben unwiderstehlich, zuweilen lästig und aufreibend.
Das hatten auch unsre beiden Freunde zu empfinden, als sie um zehn Uhr das Mühlthal entlang wanderten, hinein in das Leben: sie schwitzten schon dermaßen, daß ihnen die Ahnung eines mittägigen Gewitters aufging. Sie blieben stehen und wischten sich den Schweiß aus dem Gesicht. Bei einem Blick in die Pfingstherrlichkeit des Waldes hub Jörg Eisentraut in seiner philosophisch-tiefsinnigen Art an: „Es ist doch eine wunderbarliche Einrichtung Gottes, daß gerade zu Pfingsten, wenn die Bursche für ihre Mädchen Maien brauchen, die Birken sich in das schönste Grün werfen und nicht mehr als Besenreisig dastehen.“
Martin fügte hinzu: „Und daß die Tannen auch im Winter grün bleiben, sonst hätten wir keine Christbäumchen für die Kinder.“ Jörg machte mit großer Genugtuung seinem Freunde die Mitteilung, daß der Herr Professor Hoffmann, als er sie im vergangnen Jahre herbatum geführt, denselben Satz aufgestellt habe. Der Gott der Ferien – manche Gelehrten halten ihn für einen Sohn Wotans und der Idun – schwebte vergnügt über der theologischen Philosophie der beiden Musensöhne und sagte: „Heiliger Hans Kranich, du großer Salbader! Es ist ein preislich Ding, der Menschenverstand, wenn er vermeint, auf den Spuren der Götter zu tappen! Wie hell bestrahlt diese Straßen auch deine Leuchte, o Jena!“
„Jena!“, rief Martin, und wies nach der Stadt und fügte triumphierend hinzu, daß er den Saaltorturm sehe.
„Geh mir mit deinem Saaltorturm! Der Fuchsturm ist mir lieber!“, warf Jörg hin.
„Und mir ist der Saaltorturm lieber als der Fuchsturm, sintemal er einen Talisman birgt, köstlich über alle Maßen!“
„Spötter! Hab ich dir doch vermeldet, daß ich ein Schnurrkätzchen habe, gegen das der Saalbackfisch eine hölzerne Puppe ist, sag ich dir!“
„Aber sie ist nicht von Holz; das hab ich gestern verspürt. Sie ist bieg- und schmiegsam und warm wie das Feuer!“
„Laß das, Martin, wenn wir Freunde bleiben wollen! Ein Schorist läßt sich nicht verspotten von einem grünen Pennal, das noch keine Klinge in die Hand bekommen hat und auf das Flacianische Messer schwört.“
„Ich spotte nicht. Mein Glück ist allzu groß, als daß ich es dem Sohne meiner freundlichen Wirtsleute in Ibind, der mir teuer geworden ist, verschweigen dürfte.“
„Wie? Was? Der Saalbackfisch hat sich an dich geschmiegt?“
„Es ist mir heiliger Ernst!“
„Und was sagt der Schwenzelenz-Schmid dazu?“
„Er ist der Jugendfreund meines Bindlacher Großvaters und war außer sich vor Vergnügen, als er mich entdeckte.“
Martin erzählte nun seine lange Saaltorturmgeschichte, und Jörg sah ihn verwundert von Kopf bis zu Fuß an mit dem Ausruf: „Bei Gott! Mein lieber Bücherskorpion, das hätte ich dir nicht zugetraut! Nun fehlt dir noch die Klinge, und du bist ein gemachter Bursche!“
Die Freunde setzten ihren Weg fort, und Jörg sagte: „Weil du so aufrichtig gegen mich bist, muß ich dir auch ein Geheimnis anvertrauen. Hast du schon von dem Drachen gehört, der in den Teufelslöchern hauset und die Umgegend unsicher macht?“
Der junge Theologus dachte an den Drachen zu Babel und gestand: „Vom Jenenser Drachen habe ich noch nichts gehört. Übrigens glaube ich gar nicht an Drachen, so wenig wie an Hexen.“
„Deine Drachenleugnung lasse ich mir noch gefallen, sintemal ich weiß, wie die Drachen gemacht werden; aber die Existenz der Hexen leugnen wollen hieße unsrer Theologie, in specie der johanneischen Trias, und dem jus und der ganzen Welt und dem Herrgott ins Gesicht schlagen.“
„Du weißt, wie die Drachen gemacht werden, und ich, wie die Hexen und Spitzbuben und Räuber gemacht und unschuldige Weiber und Mütter verbrannt werden. Aber die entzündete Kriegsfackel wird als ein schreckliches Strafgericht über dieses hexenverbrennerische Geschlecht kommen! Der große Feuerbesen, den vor zwei Jahren unser Herrgott aus seinem Himmel herausgereckt hat, der verblendeten Art zu nachdrücklicher Warnung, war aus Scheiterhaufenflammen zusammengebunden.“
Zuweilen durchlodern auch den Schulbuben oder ein Pennal die Zornesflammen, die sich an dem Feuer des heiligen Geistes entzünden und an genialen Männern zu beobachten sind. Jörg Eisentraut ward von einem Schrecken befallen, als er seinen Freund sprechen hörte wie einen angehenden Erzengel. Er drang vergeblich in Martin, ihm seine Erfahrungen auf dem Hexengebiete mitzuteilen. Martin schwieg beharrlich. Die Freunde wanderten nun beide schweigend fürbaß: das Drachengeheimnis ward vor der Hand nicht wieder erwähnt und, weil es zu donnern begann, vergessen.
St. Georg, der sich auf seinem Felsennest schon die Augen gerieben hatte, versank wieder in Schlaf. Und die große Fledermaus, auf der der Marschall Hans vom Forst hergeritten kam, stürzte jählings in die Saale. Aber der Genius Öku-Thor fuhr zornflammend durch die Wolken, daß die alte Erde ächzte, und das Zornflämmlein des Pennals verlöschte wie ein Irrlichtlein, wenn es von Wotans Odem getroffen wird, der ja auch in der christlichen Zeit noch die deutschen Berge und Täler durchweht. Hatte dich, Martin Bötzinger, sein Wesen berührt, daß du nicht an den Spuk der Christen glauben mochtest?
Je ärger das Gewitter tobte, desto eiliger bekamen es unsre schweigsam gewordnen Musensöhne. Plötzlich versperrte ihnen eine Kutsche den Weg. Die Deichsel hatte sich in den steilen Rand gebohrt, und die schönen Pferde konnten weder vor- noch rückwärts in dem Graben; sie waren von Blitz und Donner scheu geworden und standen zitternd da und schämten sich ihrer Kraft vor dem tobenden Himmel. Ein Rad des Wagens war zerbrochen; im Schutz des ungeheuern Wagenschirmes jammerte eine Dame. Unter dem Wagen kauerte der fluchende Kutscher: denn er wollte seine Haut nicht vom Regen auswaschen lassen, der eben in großen Tropfen herab zu stürzen begann.
Martin Bötzinger machte Anstalt, zum Kutscher unter den Wagen zu kriechen; aber Jörg redete in den Wagen hinein: „Gnädige Frau! Wenn das Wetter gnädig vorübergegangen ist, wollen wir das Rad ausbessern helfen, daß Ihr weiter und in die Stadt kommen könnt; bis dahin gewährt Ihr uns wohl gütig Schutz in Euerm Wagen vor dem gewaltigen Regen?“ Die Dame winkte die Herrlein zu sich, und ehe sichs Martin versah, saß Jörg unter dem großen Schirm. Martin stieg nach. Die Dichtverschleierte sprach kein Wort, und die Studenten ehrten ihr Schweigen.
Aber unter dem Wagen rumorte der Kutscher in den absonderlichsſten Flüchen auf den schlechten Weg und den schlechten Wagen, auf das Wetter und die wetterscheuen Kanaillen. In der guten alten Zeit, die besonders deshalb zu loben ist, weil sie nie zu knapp war, und man sich zu allem Beginnen nach Belieben von diesem Artikel nehmen konnte, hatte jeder Kutscher Beil, Hammer, Zange, Nägel und sonst etliches Werkzeug in seinem Kasten. Als Öku-Thor über alle Berge gefahren war, der Regen bis auf den letzten Tropfen in den Gräben dahineilte oder den Maulwürfen seinen Besuch abstattete, und die Sonne wieder ihre ganze Lichtfülle über die Gegend goß, hackten und hämmerten Kutscher und Studenten wie duzbrüderliche Stellmachergesellen. Bald war das Rad geflickt. Nun galt es, den Wagen flott zu machen. Aber das wollte nicht gelingen. Das Gepäck mußte abgeladen werden, und die Dame aussteigen. Weil gerade Martin am Schlag stand, öffnete er und half der Dame beim Aussteigen. – Da geschah es, daß sich der Schleier verschob, und Martin plötzlich ganz nah in ein Paar langwimperige, dunkle Augen sah, und es fuhr ihm ein Schreck in die Glieder beinahe wie an der Saalturmpforte vor dem humoristischen Gedankenstrich des rostigen Riegels.
Es gelang endlich, den Wagen soweit zurück zu arbeiten, daß der Kutscher seine Pferde aus dem Graben heraus und auf die Straße zu stehen bringen konnte. Das Werkzeug wurde zusammengesucht und in den Kasten gebracht, das Gepäck wieder aufgeladen und festgebunden. Bevor die Dame einstieg, richtete sie herzliche Worte des Dankes an die akademischen Stellmacher. Da war es dem traurigen Pennal wieder, als zögen ihm einige Mysterien der Musika durchs Herz.
Der Wagen rollte fort, und die Wandrer zogen ihres Weges. Das war ein merkwürdiger Unterschlupf, redete Jörg seinen Freund an. Aber dieser, von der Anstrengung ganz blaß, schwieg so hartnäckig, als säße er immer noch neben der gnädigen Frau.
Schier wie vor dem Ketschentor in Koburg, als er zum erstenmal nach des Äneä Sylvii historischem Werk auszog, wurden unserm Martin Bötzinger die Füße schwer. Das Brennen auf den Lippen vom vorhergehenden Abend hatte sich wieder eingestellt, und der Herzschlag, der von dem Schlag des andern Herzens nicht paralysiert werden konnte wegen einer, mit jedem Schritt größer werdenden, ungeheuern Luftschicht dazwischen, drohte die Brust zu sprengen. Und er konnte jetzt auch nicht mit dem Mupperger Schlehendornstock die Beine eines Rappen entzwei schlagen, der einen vom Aberglauben Gehetzten ins Verderben trug, zur Erleichterung der eignen Beine und seines gequälten Herzens; er konnte auch nicht umkehren und durch die trennende Luftschicht fliegen an das paralysierende Herz: es ging ihm der zur Seite, den er heraufbeschworen zum Sturz ins Leben, zum Begleiter für eine historische Pilgerfahrt, die dem zerschlagnen Gemüt und dem großväterlichen Andenken frommen sollte. Liebe und Freundschaft standen nicht mehr mit einander auf Kriegsfuß. Sie hatten sich mit der Enkelpflicht verbündet und mit der Sehnsucht nach Mannhaftigkeit: alle vier Mächte stiegen vom Herzen hinauf ins Gehirn und hinab in die Fußsohlen und schalteten und walteten gleichsam von Rechts wegen in dem traurigen Pennal, daß ihm die Herrschaft über sich verloren gegangen war. Martin stöhnte. Jörg Eisentraut hörte es nicht. Er hatte am Weg Weiden geschnitten, aus deren Rinden er Pfeifen und Huppen zu machen gedachte zur Kurzweil auf dem Weg und zur Erheiterung seines melancholischen Freundes.
„Sie ist nicht seine Tochter; und die sich vorhin auf mich stützte, wird sie mir entführen. Und sie wird vielleicht denselben Platz einnehmen, den ich vorhin inne hatte, und wird von hinnen fahren in die blaue Ferne, während ich nach dem Äneas laufe. Und wenn ich zurückkomme und auf den Saaltorturm eile, wird mir der Alte klagen: „Ich bin allein! – O, allein!“ Allein bin auch ich dann! Allein!“
Dieses letzte „Allein!“ hatte Martin als einen Schmerzensschrei hervorgestoßen. Jörg war nur noch wenige Schritte hinter ihm und erschrak bei dem Ausruf so, daß er Weiden und Messer fallen ließ, an Martin heransprang und ihn mit dem Ruf festhielt: „Halt ein! Hier bin ich!“
Martin schauderte zusammen. Er warf sich dem Freund an die Brust und weinte. – „So nahe beisammen liegen Knabenspiel und des Schicksals Ernst!“, flüsterte es in den Zweigen einer alten Buche. Der Gott der Ferien schwebte aber von dannen gen Bischleben und sah dem Pfarrer Paul Wolf in die Studierstube.
Es war sonderbar. Der einst in Königsberg als Superintendent aus den Fugen geratne Paul Wolf war in so konzentrierter Stimmung, trieb in seinem Geiste auf so hochgehenden Wogen, daß er vor dem Pfingstfeste stand als vor einem hohen Berge, worauf er die Leuchte des heiligen Geistes aufzupflanzen habe, die alle Welt erhellen sollte. Und doch hatte er nur einem Häuflein Bauern zu predigen. Was frommt diesen rohen Naturen solche Begeisterung , solch hoher Flug? Wäre es nicht richtiger gewesen, der Herr Pfarrer Paul Wolf hätte in diesen Tagen Tausenden und Abertausenden aus den gebildeten Ständen seine Geistesblitze ins Herz schleudern können? Mit nichten! Was man Gebildete nennt, sind die, deren Leben mehr oder weniger nur eine Darstellung des Formenzwanges ist, stamme nun dieser Formenzwang aus der Theologie, oder aus der Philosophie, aus der Kunst, oder – aus dem Salon. Es sind die Pharisäer, die verrannten Gelehrten, die ästhetisierenden Lumpen, die blasierten „Gentlemen.“ – Die Naturen, die sich trotz des Wustes, den die Völker fast zum Erdrücken der Menschheit in Büchern aufgespeichert haben, den klaren Blick eines freien Charakters errungen und sich die Kraft, sich zu frischem Schaffen emporzuschwingen, bewahrt haben, und die Naturen, die trotz Theologie, Wissenschaft und Kunst, die sie umfluten, der Natur noch so nahe stehen, daß man sie ungebildet, roh nennt: sie stehen offen für den heiligen Geist. – Wo fändet ihr dankbareren Boden, ihr aufrichtigen, treuen, begeisterten Seelsorger, als bei den Bauern! Da seid ihr daheim, wie euer Christus unter den Fischern, Webern und Zöllnern. Wehe über den, der sich seiner Heimat nicht mit ganzer Seele hingäbe, der zum Pfingstfest den Berg der Leuchte für die Bauern zu hoch hielte und den Blitzen der im Dogma ruhenden Kristalle nicht zum Durchbruch zu verhelfen wüßte: er stünde im Dienste des Antichrist wie die im Dogma verstockten Pharisäer.
Die Studierstubenfenster des Pfarrers Paul Wolf in Bischleben hatten mehr zu bedeuten, als nur Licht und frische Luft ein oder schlechte Luft hinaus zu lassen. Sie waren die Tore eines wunderbaren Verkehrs zwischen Garten und Studierstube. Selbst im Winter blieb dieser Verkehr lebhaft. Der Geist hält immer wieder zusammen, was Natur, Zufall oder Gewalt auseinander reißen, sonst gäb es ja keinen Verlust. Die Bäume und Sträucher z. B. reden durch Blätter, Blüten und Früchte, nicht nur zur Frühlings-, Sommer- und Herbstzeit, auch im Winter: nur negativ. Da predigen sie ein dreifaches Minus, das die Hoffnung auf Wiederkehr weckt. Und in diese negative Predigt hinein tritt auch noch die positive des Schnees, Sturms und Hungers, welche schlimmen Gesellen einst dem Herrn Pfarrer in Bischleben Goldammer, Lerchen und Spatzen in den Garten getrieben haben, weil aus den Studierstubenfenstern herab das Mitleid seine spendende Hand hielt.
Aber es war am Freitag vor Pfingsten. Die Hahnenfußröschen, Schlüsselblumen, blauen Kirchtürmlein, Gelbveilchen, Syringen, Tulpen und Pfingstrosen lachten zu den Studierstubenfenstern hinauf und schickten, je nach Vermögen, ihre Wohlgerüche empor zur Erquickung des begeisterten Mannes, der in seiner Studierstube bei offnen Fenstern eben, ganz vernehmbar von den Spuren des geheimen Waltens unter und über der Erde redend, sich für seine Festkanzel vorbereitete. Nicht nur die Blumen lauschten – auch der Gott der Ferien horchte hoch auf und sagte: „Jungens, diese Predigt zum ersten Feiertag müßt ihr hören!“ Und da Martin Bötzinger und Jörg Eisentraut am ersten Feiertag, als es zum erstenmal mit drei Glocken läutete, noch nicht an das Aufstehen dachten im obern Stübchen des Wirtshauses zu Bischleben, weil sie noch träumten – vielleicht von der Susanna zu Babel und vom Drachen zu Babel, so lenkte der Gott der Ferien, der auch Gewalt über die Sperlinge haben soll, den Flug eines von seinem Nebenbuhler verfolgten Subjekts dieser Sippe so, daß es Rettung im Luftloch des obern Wirtshausstübchens suchte. Aber der Verfolger schoß nach ins Luftloch, und beide Spatzenhitzköpfe gerieten in das Stübchen und schossen an die Fensterscheiben, daß der eine der Träumenden glaubte, die Susanna zu Babel, und der andre, der Drache zu Babel sei in ein Kartaunenkreuzfeuer geraten, und beide vor Schreck aus dem Bett sprangen. – Und der Gott der Ferien rieb sich die Hände und sagte: „Jungens, ihr müßt diese Predigt hören!“ Die Glocken läuteten zum drittenmal, und der Herr Pfarrer schritt, seinem Küster zur Seite, ein durch die steinerne Pforte. Von des Pfarrers Antlitz ging ein Schein aus; des Küsters Gesicht war der verkörperte Ausdruck bescheidner Dienstbeflissenheit.
Martin und Jörg, an denen der Geistliche mit seinem Untergeordneten vorübergeschritten war, schwelgten als Priester mit ihren Küstern in der Zukunft. Sie suchten sich ein Plätzchen im ländlich bescheidnen Gotteshaus.
Wenn im gewaltigen Dom der Einzelne als ein Stäubchen emporgerissen wird, um unterzugehen in der großen Idee, so rückt die kleine Dorfkirche die Einzelnen an einander zu gegenseitiger Erwärmung und liebevoller Umspannung, daß alle sich fühlen als Glieder einer Gemeinde des Friedens.
Der Gesang war zu Ende: Paul Wolf auf der Kanzel begann seine Predigt, die die Blumen des Pfarrgartens und der Gott der Ferien schon gehört hatten. Und die Gemeinde des Friedens, deren begeisterter Gesang den Pfarrer in seiner Sakristei aller irdischen Beziehungen entkleidet hatte, gähnte nicht und weinte nicht. Aller Augen und Herzen wurden größer. Es ging kein Brausen durch die kleine Kirche; aber in den Herzen brauste es, obgleich es Bauernherzen waren. Und Martin und Jörg saßen da und hatten vergessen das Flacianische Messer und die Kreußlersche Klinge, die Susanna zu Babel und den Drachen zu Babel, Saaltorturm und Fuchsturm, saßen da in der kleinen Dorfkirche, entrückt dem erbärmlichen Studentenleben und verschmolzen mit der kleinen Gemeinde des Friedens und des heiligen Geistes. – Der Gott der Ferien war Zeuge gewesen, hatte auch einen Blick in die Herzen getan und sagte: „Jungens, diese Ferien sind euch gesund!“
Gesunden kann das Herz des Erdenpilgers am Großen, Erhabnen. Die Quacksalber sind vom Übel. Die, die aus dem Kirchlein zu Bischleben am Vormittag des ersten Pfingstfeiertages im Jahre 1620 kamen, waren nicht bei einem Quacksalber gewesen: Bursche, den Rosmarinstengel oder Marumverumzweig ins Gesangbuch geklemmt oder zwischen den Fingern drehend, und Mädchen mit Sträußchen aus Riechblättlein, Gelbveilchen, Aurikeln und Jünkerlein gingen neben- und hintereinander und schämten sich, zu tun, als hätten sie schon einander gesehen; die alten Mütterchen und gebückten Greise waren verklärt wie zum Eingang ins himmlische Paradies, und die strammen Bauern und Bäuerinnen steckten die Köpfe zusammen mit Stolz auf ihren Pfarrer. Alle kamen gesunder, frischer und über alles Kleinliche emporgehoben an den häuslichen Herd.
Der Herr Pfarrer Paul Wolf hängte seinen Priesterrock an den Nagel, zog seinen Hausrock an und eilte auf seine Studierstube, an die Stätte seiner Korrespondenz mit dem Himmel. Da, wo er gedacht, geschrieben und schon gepredigt, was er eben seiner Gemeinde in hoher Begeisterung vorgetragen hatte, konnte seine Zufriedenheit und Amtsfreude allein würdig und ganz zur Entfaltung kommen. Nach etlichen elastischen Umgängen zwischen diesen traulichen vier Wänden stützte er sich mit verschränkten Armen auf die Brüstung des offnen Fensters. Und nun war ein Lächeln und Leuchten zwischen dem Garten und dem geistlichen Antlitz hinauf und hinunter, daß sich der Fink im großen Apfelbaum auf den äußersten Zweig setzte – zum Greifen nahe vor des Pastors Gesicht – und darein schmetterte, als gedächte er besser zu predigen als der Alte. Wer getraute sich, einen Menschen in solchem Glück zu stören?
Zwei Jenenser Studenten taten es. „Euer Hochwürden ist bei fünfundachtzig Zentner Büchern gewiß schon arrivieret, daß ein oder das andre Werk seinen Herrn verloren. Euer Hochwürden können sich wohl auf den Mupperger Pfarrer Johannes Bötzinger erinnern und auf den Pfarrer Willius in Sonneberg, so hat flüchten müssen und ist von Bischof Julio in Würzburg wieder in Gnaden aufgenommen worden, ingleichen auch, daß Magister Sebastian Lütz in Ebersdorf auf seinen Wanderungen in seine Heimat, nämlich Ottendorf zwischen Haßfurt und Schweinfurt, Euch etlichemal in Königsberg besucht hat, also daß zwischen beiden hochwürdigen Herren gewiß ein Austausch in Bücherraritäten sich gefügt haben mag; und wie solche Bücherleihung selten ohne Manko verläuft, so hat es auch meinen seligen Großvater Johannes Bötzinger getroffen, also daß uns ein Familienschatz abhanden gekommen ist durch den Pater Willius, wie mein Großvater auf dem Sterbebette meinem Vater anvertraut hat, und weil er ihn aufgefordert hat zur Zurückbeschaffung selbigen Schatzes, hat es mich gedrängt im Eifer meiner historischen Studien und sonderlich in Ansehung des großväterlichen Sterbebettanliegens, mich aufzumachen nach Würzburg, den Pater Willius ausfindig zu machen, wobei ich vor Bischof Julio dem Willius konfrontiert worden und seine Durchlaucht mir fünfundzwanzig Gulden eingehändigt hat zur Tilgung der Williusschen Schuld, will sagen Loskaufung unsers Familienschatzes, den mein Vater meiner historischen Studien wegen mir gern vermacht, und der sich nach Aussage des Würzburger Münchs in den Händen des Magisters Sebastian Lütz in Ebersdorf hat befinden sollen, obschon solches ein Irrtum war, und ich die fünfundzwanzig Gulden meinem Vater zur Aufbewahrung habe übergeben müssen, aber der Magister Sebastian Lütz mich hierher gen Bischleben zu Euer Hochwürden verwiesen hat, also, daß ich als Student zu Jena meine ersten Ferien nicht besser sollte zu verbringen meinen, als hierher zu eilen, um mein Anliegen vorzutragen, nämlich“ – Dem so furchtbar gestörten Herrn Pfarrer Paul Wolf trat kalter Schweiß auf die Stirn. Obgleich Martin in seinem Vortrag soweit vorgerückt war, daß zu hoffen stand, daß er endlich den Zweck seines Besuches erfahren würde; war es doch dem nervösen Herrn Paul Wolf schlechterdings unmöglich, nur noch ein Wort anzuhören. Er fürchtete, in seine Königsberger Krankheit zu verfallen, und unterbrach den Sprecher.
„Setzt euch, junge Freunde! Es ist mir schon angenehm, Jenenser Studenten bei mir zu sehen; aber daß es Franken sind, macht mir Freude über die Maßen. Ich will ein Trünklein besorgen, und dann wollen wir weiter verhandeln.“
Die beiden jungen Theologen waren allein. Jörg sprach seine Verwunderung aus über das Rednertalent seines Freundes. Und Martin freute sich still, daß es ihm so über Erwarten gelungen war, seinen in Ebersdorf begangnen Fehler zu vermeiden: dort hatte er durch kurzes, unvermitteltes Auftreten den Herrn Magister Sebastian Lütz in Verwirrung und Aufregung versetzt; heute aber war er mit diplomatischer Feinheit zu Werke gegangen und glaubte, noch keines Lobes so würdig gewesen zu sein als des ihm von Jörg gespendeten.
Der Herr Pfarrer kam mit einem Krug Wein zurück, trank den Studenten zu und wandte sich an Bötzinger: „Junger Freund, so viel ich aus Eurer Rede herausgefunden habe, sucht Ihr ein Buch Euers Großvaters – und das wäre?“
„Des Äneä Sylvii historisch Werk in Münchsschrift auf groß Regalpapier gedruckt“, erklärte Bötzinger.
„Ah, das berühmte Buch! Ich hatte es allerdings von meinem Freund Lütz in Ebersdorf, und es ist gut, daß ich daran erinnert werde. Aber es tut mir recht leid, daß ich es Euch nicht aushändigen kann, dieweil ich es in Königsberg gelassen habe bei dem dermaligen Rektor, jetzigem Diakonus, Matthäus Göring, und vergessen habe, es an Magister Sebastian Lütz zurückzudirigieren.“
Martin Bötzinger machte ein langes Gesicht; aber Jörg freute sich schon auf eine Ferienreise, die nun sein Freund sicher mit in seine Heimat über Königsberg machen werde. Das war nun freilich wieder einmal ein Umweg gewesen, ein Umweg über Bischleben nach Königsberg, wo die Freunde vor vier Jahren auf dem vermeintlichen Umweg über Würzburg mit dem Amtschreiber Jonas Pürtzel im Ratskeller, nicht weit von dem Bücherregal, auf dem des Äneä Sylvii historisch Werk damals noch prangte, gefrühstückt hatten.
Der Herr Pastor Paul Wolf kannte sogar das Bäuerlein Eisentraut von Ibind. Und so, wie die fränkischen Beziehungen, in die die beiden Studenten zu seiner Erinnerung kamen, ins einzelne und kleine wuchsen, so wuchs die Freude in dem guten Pastor Wolf, die jungen Herrlein bei sich zu sehen. Studenten in Ferien sind überall zu Haus, wo man sie gern sieht. Und weil sie der Herr Pastor Paul Wolf so sehr gern bei sich sah, die Franken, und sie von einem Tag zum andern fest zu halten verstand, so kam es, daß sie auch seine Trinitatispredigt noch zu hören bekamen.
Jörg hatte sofort für alle Abende seines Aufenthalts in Bischleben auf einen Platz unter der Dorflinde abonniert, Was blieb dem verlegnen Martin übrig? Er trollte auch alle Abende mit ins Abonnement. Denn abends bedurfte der gastfreundliche Pfarrer aus Rücksicht auf seine Nerven der ungestörten Ruhe. Aber die Susanna zu Babel und der Drache zu Babel hatten heimtückischerweise eine Allianz eingegangen und unter der Linde Minen gegraben, daß am Montag nach dem Trinitatisfest den beiden Abonnenten die Ahnung einer großen Gefahr aufging und sie von hinnen nach Jena trieb.
Die Reise von Bischleben zurück nach Jena lief ohne Abenteuer und sonderliche Beschwer ab, wenn wir von den Blasen an den Füßen Martin Bötzingers absehen. Die Luft war würzig und stärkend, rein von Drachen- und Fledermausrittern und hatte schon in Bischleben begonnen, ihre heilkräftige Wirkung in Martins Brust zu bewähren, sodaß alle Skrupel und Nöte in den Hintergrund getreten und gleichsam als heimliche Parasiten in Lethargie versenkt waren. Um so mächtiger wurde aber eine Leidenschaft in dem zwanzigjährigen Studio, so mächtig, daß der gewissenhafte Forscher versucht werden kann, die Herbeiführung des Scheintodes der Parasiten mehr dem Wachstum dieser Leidenschaft als der kräftigenden Luft zuzuschreiben. Und die Macht dieser wachsenden Leidenschaft träufelte Federkraft in die Muskeln und machte die Füße leicht und die Blasen schmerzlos; sie machte die Augen blind für die Naturpracht und die Ohren taub für Lerchengesang und des Freundes Stimme. Diese Leidenschaft war so mächtig geworden, daß sie den Saaltorturm in die Lüfte hob und mit nickender Haube auf Stelzen vor Martin hertanzen ließ wie einen Bajazzo, den das arme Pennal bei Todesstrafe einzuholen habe.
Am Mittwoch nach dem Trinitatisfest abends, als Jörg Eisentraut in die geheime Drachensitzung eilte, stand der Saaltorturm wieder fest auf seinem Mauergrund; der rostige Riegel am Pförtchentor starrte trostlos der Nacht entgegen, und die Fenster reflektierten in magischem Feuer das Himmelsrot im Westen. Hinter diesen Fenstern lag der alte Erasmus Schmid fest auf seinem Lager, und davor saß traurig die gute Susanna.
„Wenn ich wieder gesund bin, ziehst du, Susanna. Ich nehme mir dann eine Haushälterin, die mir hilft, bis ich den Sack zubinde da oben auf meinem Turm. Deine neue Mutter wills nun einmal so haben!“
Susanna schwieg und weinte. Da wurden Fußtritte hörbar, und es pochte an der Tür. „Herein!“, riefen die Mysterien der Musika.
Wer weiß, wie es in einem Roman hergeht, erwartet auf das „Herein!“ unstreitig Martin Bötzinger. Wer sollte es denn anders sein? Als er die Schneckentreppe emporstieg, freute er sich wie ein Kind, daß der alte Turm wieder so fest stand und nicht mehr auf Stelzen auf der Landstraße tanzte. Aber er war doch manchmal auf der Treppenschraube stehen geblieben. Der furchtbare Gedanke, daß bei seinem Eintritt ihm der Alte entgegenrufen werde: „Allein!“, hatte seine Freude am Turme beim Genick gepackt und schüttelte sie. Die Freude rang sich aber immer wieder los und riß den glühenden Franken etliche Stufen empor, bis der schwarze Gedanke immer wieder seinen Katzensprung machte und ihn zum Stehen brachte. Und so war denn Martin auf das „Herein!“, vor dessen Muſik der hemmende Gedanke purzelbaumschlagend die Treppe hinabstürzte, von der Freude gleichsam in die Stube geschleudert worden.
„Also nicht allein! Ihr seid noch da, Jungfer Susanna!“, jubelte die befreite Freude. Es war aber doch nicht der rechte Jubelton, womit Martin Bötzinger diese Worte sprach. Wehmut und Trauer, die in dem Turmstübchen schwebten, hatten mit ihren Fittichen die Freude des Eintretenden gestreift und den Jubel gedämpft.
„Nicht allein! Suaanna ist noch da!“, bekräftigte der kranke Erasmus Schmid, als verstünde sich von selbst, daß Martin wisse, was auf dem Turm vorgegangen war an den eben verflossenen Pfingstfeiertagen. Aber Susanna stand bewegungslos da und blickte fragend auf den Alten. „Du hast Recht, Susanna! Du hast Recht! Aber nun hast du schon acht Tage lang da gehockt, ohne frische Luft zu schnappen. Nun geh ein halbes Stündchen hinaus in den reichen Frühlingsabend, mein junger Freund aus Franken löst dich ab.“
Hört das Weinen auf in dem Trostauge des Weibes – sei es noch so jung oder noch so alt? Aus den Tränenfluten steigt ewig neuer Glanz empor. Das Frauenauge, das nicht mehr weint, ist auch des Glanzes bar: es ist gebrochen in Verzweiflung oder Tod. Wo der Glanz aufsteigt, da folgt auf Weinen auch bald Lachen.
Susanna weinte, als sie ging. Doch draußen in dem Hochzeitsduft und Glanz und Hochzeitsjubel der Natur, die, triumphierend über die Spannenlänge der Nacht, einen Gruß an den Morgen aufspielte, ehe sie sich unter den Schein der Ruhe begab, draußen im schrankenlosen Leben des Frühlings schlugen der guten Susanna die Wogen der Wonne ans Herz. Wenn sie auch nicht lachte: das Herz entzündete sich doch an dem Gedanken, daß der Franke sie abgelöst habe, zum Lachen.
In den letzten Jahren hatte Susanna für einen Menschen in der Welt gelebt, für den Vater. Zu dem Vater kam der junge Franke. Zu diesen beiden war die Mutter gekommen, wenn auch nur als Pflegemutter. Susanna hatte noch keinen Aufschluß über ihre Herkunft bekommen. Sie wußte nicht, wie ihr geschah, als sich eine vornehme Dame ihrer annahm. Und die Liebesfülle einer weiblichen Seele, die sich in sie versenkte, erfüllte sie mit der Freude an dem Gewinn eines unschätzbaren Reichtums. Ein neues Leben hatte dieser Frühling gebracht: er hatte den jungen Franken bevollmächtigt, die Susanna zu küssen, und hatte die Geküßte einer Mutter ans Herz gelegt. Was wunder, wenn der Susanna das Herz lachte? Und wenn sie den Vater begraben und weinen muß, und wenn sie Jena verlassen und weinen muß: sie kann heimkehren an ein Mutterherz und – wird lachen.
„Mein lieber, trauter Bötzinger! Ich spürs, daß der Sack bald zugebunden werden muß. Schwenzelenz! Es ist zu heftig über mich hereingebrochen.“ So eröffnete der kranke Erasmus seine letzten Mitteilungen an den jungen Franken. Der alte Schmid war ein braver, verschwiegner Mann. Der Seelsorger, die Hebammen und sonst noch einige treue Nachbarn, gute Freunde und desgleichen wußten, daß Susanna nicht die leibliche Tochter des Lautenschlägers Schmid war. Wer sie war, wußte niemand. Die von den Wissenden, die vom Alter und der Pest nicht an die kühle Erde abgeliefert worden waren, hatten sich im Verlauf der Jahre so daran gewöhnt, die Susanna als Tochter Schmids anzusehen, daß ein ganz besondrer Fall nötig gewesen wäre, sie an den Sachverhalt zu erinnern. Da dieser Fall aber nicht eintrat, und die wirkliche Tochter Schmids gestorben war, so war die Susanna eben „Schmids Susanna“ ohne Skrupel und Bedenken. Der Herr Erasmuss hatte auch gleich in den ersten Jahren die Neugierde gehörig auf die tastenden Krallen geklopft und war von ihr für die spätern Jahre verschont geblieben, selbst von den alten Weibern.
Martin Bötzinger, der Enkel des Jugendfreundes, war der Auserkorne, dem Schmid sein Geheimnis anvertraute.
„Aber ehe der Sack zugebunden wird, mußt du erfahren, wer die Susanna ist. Über dem Rennsteig drüben muß eine Burg Rauenstein liegen – bin in meinem Leben nicht dahin gekommen. Und der Burgvogt von Rauenstein, ein Herr von Schaumberg, hatte ein feines Töchterlein und war mit dem Edeln von Brandenstein also vertraut, daß sein Töchterlein über ein halbes Jahr auf dem Brandenstein auflag. Ich merkte wohl – es war bei meinem letzten Besuch auf dem Brandenstein –, wessen sich das gnädige Fräulein von Schaumberg zu versehen hatte. Da machte mir die gnädige Frau von Brandenstein den geheimen Antrag, eine Bekannte zu mir in mein Haus nach Jena zu nehmen, allwo sie ihrer Genesung sich pflegen solle. Ich hatte Schweigen zu geloben. Und wer zog bei uns ein? Das gnädige Fräulein von Schaumberg, nun die Mutter meiner guten Susanna. Ich wills kurz machen. Und jetzt ist sie am Freitag vor Pfingsten gekommen – o du lieber junger Freund, es hat mir das Herz bald abgedrückt! – sie ist gekommen und hat ihre Tochter gefordert! Sie hat da mein Leben attackieret, und ich stund da wie ein gallichter Truthahn und wehrte mich. Aber es war nicht nötig; nach den langen Verhandlungen während der lieben Pfingstfeiertage erklärte Susanna, sie bleibe bei mir; wenn Gott eingreife, sagte sie, wolle sie ziehen, sonst nicht. Nun hat Gott eingegriffen! Diese Pfingsten brachten mir auch noch eine Erkältung – da lieg ich nun und warte – aber ich brauch nicht lang mehr zu warten – ich muß mit nächstem den Sack zubinden; ich weiß es! Nun weißt du, wer die Susanna ist. Wenn sie mein Letztes bestellt hat, bringst du Nachricht auf den Brandenstein. Dort harrt die Mutter. Ich hab ihr versprochen, ihr binnen . drei Wochen das Töchterlein zu schicken. Nun ist schon über eine Woche verstrichen: es geht nun rasch bergein, gebt nur acht! Mein Nachbar, der Schneider Seidenbecher, der Bruder meiner Seligen, ist mein Erbe. Er wird alles besorgen. Und wenn ihr mich begraben habt, soll die Susanna auf meine Kosten in einer gutverschlossenen Kutsche nach dem Brandenstein abgeliefert werden. Den Auftrag erteile ich dir, trauter Martin, besorg mirs gut! Wenn hernach die Susanna kommt, soll sie dir das Fuhrlohn aufzählen. Sie darf aber nicht wissen, was Bewandtnis es damit hat! – Basta! – Schwen–zelenz! – Man wird doch – recht schwah – wenns zum – Sackzubinden – kommen soll!“
Der Kranke war in einen Schlummer gefallen. Das Sprechen hatte seine geringen Kräfte erschöpft.
Krankenwärter war Martin noch nicht gewesen. Es ist immerhin gut, daß neben der Universität das gemeine Leben noch seinen Kopf behauptet. Denn das Kneipenleben der Studenten – obwohl es unsern Martin noch nicht verschlungen, und obgleich es Jörg Eisentraut das „erklecklichſte“ nennen zu müssen fes überzeugt war – ist doch nur ein Apartement des gemeinen Lebens. Martin saß in „weihevoller Stimmung“ an dem Krankenbett auf dem Saaltorturm. Er war so erfüllt von Stimmung, daß er gar nicht an das Sackzubinden glaubte, der simple Martin. Seine Stimmung pumpte sich in großen Zügen voll an der Würde, die in ihm durch den vertrauensvollen und geheimnisvollen Auftrag, der nicht einmal dem Schneider Seidenbecher, dem Schwager und Erben, über die Schwelle durfte, konstatiert worden war; seine Stimmung quoll über bei dem Gedanken an den Zahlakt und stellte den Würzburger beinahe in die Antiquitätenkammer; seine Stimmung gewann einen Anflug pragmatischer Sanktion bei dem Hinblick auf die erschütternde Tatsache, daß das gemeine Leben ihn als Pfleger an das Krankenbett des einstmals Relegierten gesetzt hatte, wie zur Vergeltung der rettenden Heldentat an seinem Bindlacher Großvater. – Die Turmkatze wetzte ihren Bart schnurrend an Martins schwarzen Strümpfen; aber er schleuderte sie nicht von sich: er wußte doch, daß auch die unvernünftige Kreatur ein Recht habe, sich zu erwärmen an der pragmatischen Sanktion.
Susannens Herz hatte im Frühlingsabend gelacht trotz der Läufte des gemeinen Lebens, die Ernst auf ihr weiches Antlitz gelagert hatten. Und als sie auf der Schneckentreppe des Saaltorturms, auf der vor einer halben Stunde der Kampf zwischen Freude und schwarzem Gedanken ausgefochten worden war, emporstieg, lachte ihr das Herz immer noch: sie glaubte auch nicht an das Sackzubinden. Aber an die Gegenwart des jungen Franken glaubte sie und an den Humor des rostigen Pförtchenriegels.
Leise, mit Vermeidung auch des geringsten Geräusches, dessen ein Schloß beim Auf- und Zumachen fähig ist, wie das war an der Tür des Stübchens auf dem Saaltorturm, trat die erquickte Susanna ein.
Die Fittiche der Wehmut und Trauer vibrierten noch in dem Krankenzimmer und dämpften das Herzenslachen unter der schwellenden Brust. Die Dämmerung hatte sich in den Winkeln und Ecken des Stübchens schon zur Finsternis zusammengezogen. Susanna stand regungslos in der Mitte des Stübchens wie die Botin der Nacht. Der Kranke schlummerte sanft, als versuche er den Schlummer nach dem Sackzubinden, und sein Wärter-Vikar – war auch entschlummert. Die Turmjagd auf der Landstraße hatte ihn dermaßen ermüdet, daß der sanfte Schlummer des Alten seine ansteckende Wirkung ohne Widerstand zur Geltung gebracht hatte. Da stand nun die Botin der Nacht und bebte und wußte nicht, ob sie den Wächter wecken oder schlummern lassen sollte. Wollte sie ihn wecken, so mußte es so geschehen, daß des Kranken Schlummer nicht gestört werde. Und das war ein Kunststück! Immer noch stand Susanna bewegungslos. Da hob sich plötzlich des Wächters Hand wie zu einer Geste. Die Angst, der Träumende könne laut zu reden beginnen und die Ruhe das Kranken gefährden, schreckte Susanna dermaßen, daß sie in demselben Augenblick an des jungen Franken Seite stand, die ausgestreckte Hand ergriff und ihre andre Hand ihm auf den Mund legte. Da der Träumende aber im Begriff stand, der in die gutverschlossene Kutsche einsteigenden Susanna seine Treue zu versichern, so war er gar nicht überrascht, die Susanna leibhaftig vor sich zu sehen und mit sich in Berührung zu fühlen, als er erwachend aufsprang. Und er zog sie an sich und küßte sie.
Unter welchen Umständen an jenem Abend Martin vom Saaltorturm hinweggekommen, und ob des rostigen Riegels Sprache humoristisch oder ächzend war, ist nicht möglich zu sagen, weil dafür jegliche urkundliche Unterlage fehlt.
Acht Tage waren verflossen. Der Lautenschläger Erasmus Schmid auf dem Saaltorturm hatte den Sack zugebunden und war begraben.
Vor Kahla – vormittags neun Uhr – hielt eine wohlverschlossene Kutsche. Der Schlag ward aufgetan, und heraus stieg Martin Bötzinger. Da stand das traurige Pennal und starrte den Wagen an, aus dem leises Schluchzen drang. Der Kutscher warf den Schlag zu, schwang sich auf den Bock und jagte davon. Aber Martin starrte immer noch in die Luft hinein, wo die Kutsche gestanden hatte, und hörte immer noch das Schluchzen. Die Saalberge fingen an zu schwanken und begannen in großem Kreis, auf dessen Zentrum der Ausgesetzte zu einem Häuflein Unglück zusammenschrumpfte, einen Spaziergang, der endlich in ein tolles Jagen ausartete – immer um Martin herum, bis ihn der Schwindel ins Gras am Wegrand warf.
Als er sich von seinem Achsenanfall einigermaßen erholt hatte, raffte er sich auf und ging langsam, mit Blei an den Füßen, dem verödeten Jena zu. – Verödet! – Verödet durch den Tod eines alten Türmers und die Abreise eines Saalbackfischs.
In Burgau war abends vorher hinter verschlossenen Türen letzte große geheime Drachensitzung gewesen. Nach Aufhebung der Sitzung war bis gegen den Morgen gezecht worden. Von den Beteiligten war keiner nach Hause gekommen. Als der große Rausch im Heu, auf Bänken, unter den Tischen verschnarcht worden war, ging das Zechen von neuem an. Der große Tag der Drachenkreisung war gekommen. Jörg Eisentraut hatte sich an der letzten Sitzung nicht beteiligen können: er hatte sich noch mit den Nachwehen der vorletzten Drachensitzung abzufinden. Heute war er mit dieser Abfindung im „Lusthäuschen,“ d. i. im Carcer, wo man sein Leid zu verschmausen und zu vertrinken pflegte, zu Ende gekommen.
Vom „Lusthäuschen“ wanderte Eisentraut direkt nach Burgau, um das Versäumte einigermaßen beizubringen. Jörg stand auf der Wirtshaustreppe, als er seinen Freund Martin schweren Schrittes daherziehen sah.
„Siehe da! Ein trauriges Pennal, das in der Irre läuft, Hierher! Hier ist deine Heimat!“ Mit diesen Worten eilte Jörg die Treppe hinab, faßte den Freund und zog ihn in das stürmisch belebte Haus.
Ihr Freunde, laßt uns lustig sein
Bei gutem Bier und kühlem Wein,
Weil wir hier noch beisammen leben!
Wach auf, du liebe deutsche Welt!
Wem unser Leben nicht gefällt,
Der mag uns hundert Taler geben;
So lange der Tadler mein Vater nicht ist,
Und sich nur das neidische Herze zerfrißt,
Auch mir niemals von Essen und Trinken was gönnet,
So mag er sich pachern zum Esel und Rind.
Sa! Sa! Sa! Sa! Sa! Sa! Sa!
So sang das Drachenkorps, als Martin von Jörg Eisentraut eingeführt wurde.
Das Leben im Wirtshaus zu Burgau umflutete das niedergeschlagne Pennal fast als ein aus babylonischen Gossen zusammengelaufnes Jauchenmeer. Da war es verwichen auf dem Burgkeller dagegen noch reputierlich hergegangen.
Das traurige Pennal Martin Bötzinger machte einen Fluchtversuch, wurde aber von seinem Freund gewaltsam zurückgehalten mit dem Bemerken, er dürfe durchaus nicht versäumen, die Ausführung des lange und weise geplanten Streiches heute mit anzusehen.
Gegen vier Uhr kam eine Deputation von sechs Schoristen angeritten und meldete: „Der Drache ist gekreist in seiner Höhle; die Mannen sollen flugs aufbrechen zu seiner Erlegung und feierlichen Einbringung!“
Die unflätigen Burschen zogen aus dem Wirtshaus zu Burgau und bewegten sich in langem Zuge, bewehrt und bewaffnet, nach den Teufelslöchern bei Camsdorf. Da war von ungefähr sechzig Studenten eine Höhle umstellt. Ein großer Wagen, mit zehn Pferden bespannt, hielt da zum Transport des zu erlegenden Drachens. Aus der umstellten Höhle ertönte ein schauerliches Brüllen. Die sieben Köpfe des Ungeheuers kamen zum Vorschein. Die Drachenritter zogen sich zusammen, eine furchtbare Salve erfolgte, ein siebenfaches Brüllen ertönte, und unter allgemeinem Hurraschreien und entsetzlichem Spektakel ward das Ungeheuer hervorgearbeitet, dessen Geripp heute noch als eins der sieben Wunder Jenas auf der Universitätsbibliothek zu sehen ist, auf den bereitstehenden Wagen geladen und unter viel Lärm in die Stadt gebracht.
Martin Bötzinger war der letzte im Zug und so niedergeschlagen, daß er es nicht einmal zu der bekannten, ihm geläufigen Betrachtung brachte.
Der Streich war gelungen, und es wurde in selbiger Nacht noch ein Schwanz daran gezecht, der dem Drachen alle Ehre machte. Aber trotz der Dracheneinbringung war Jena für unser Pennal verödet. Es hatte sich auf sein Stübchen gedrückt, nun doch noch über den Unterschied zwischen vernünftigen Leuten und Narren nachgedacht, und war dann unter seine Bettdecke gekrochen.
Als am Morgen der Rotzagelvater einen seiner ausgeflognen Gelbschnäbel, der sich in Martins wieder offengebliebnes Fenster gewagt hatte, wegen seines Vorwitzes hart anließ, hörte er, daß der junge Historiker mit geschlossenen Augen laut von einer Susanna und von einem Drachen sprach. Er machte seinen maliziösen Knicks und flüchtete sich mit seinem Sohne auf die Dachrinne. Da kam er neben den Sperk zu sitzen. Und der Bachsterz kam gerade in der Rinne dahergeschwippt. Der Rotzagelvater flüsterte: „Bst! Die heilige Kyrieschreierin brauchts nicht zu wissen; unser Historiker drunten träumt eben von einer Susanna und von einem Drachen.“ – „Von der Susanna zu Babel“, sagte höhnisch der Sperk, – „und vom Drachen zu Babel“, fügte schnippisch der Bachsterz hinzu. Die heitern Hausgenossen des traurigen Pennals flogen kichernd auseinander.