Dreißigstes Kapitel
Versöhnung
Wieder ist ein Tag verjubelt. Lerchen, Finken, Drosseln, Grasmücken – all die befiederten Spielleute des Tages bergen ihre verstummten Schnäbelchen im weichen Flaum; Käfer, Mücken und bunte Falter ruhen im grünen Hüttchen; die jungen Hühnchen und gelbflaumigen Gänschen singen leise unter den schützenden Flügeln ihrer Mütter.
Die Blumen- und Blütenpracht liegt der Nacht an der Brust und wird getränkt mit erquickendem Tau; die freundlichen Sterne lächeln ob des Duftrausches, worin die Erde liegt, und die Nachtigall schmettert und schluchzt, als trüge sie in ihrer kleinen Brust eine Welt der Wonne neben einer Welt des Schmerzes.
Auf dem Rathaus tanzen sie heckenhoch. Sie tanzen dem Ernst entgegen. Das ist des Lebens Lauf. Aber die Glut der Freude fördert nicht des Lebens Zweck; nur in dem Feuerofen der Leiden vollzieht sich die Läuterung der Seelen.
Noch ein Tag und noch eine Nacht vergehen in Essen, Trinken, Spiel und Tanz. Am dritten Tag geht die Hochzeit in Hahnschlagen, Sackhüpfen und allerhand toller Kurzweil zu Ende. Nun sind sie alle müde und erschöpft und verkriechen sich in ihre Schlummerwinkel wie die Käfer, Müden und Falter am Abend, wenn der Tau fällt.
Und die Nachtigall schmettert und schluchzt.
Am Freitag nach Exaudi mit dem Frühsten fuhr Zacher mit seiner jungen Frau, seinem Großschwäher und seinem Vater, der sich am Donnerstag mit einem Geschirr von Rauenstein eingefunden hatte, dem neu zu gründenden Herde entgegen.
Eine Stunde später ging das Michel Böhmsche Gefährt nach Koburg ab mit Meister Örtlein nebst seiner müden Sophel und den Eltern des Herrn Martin Bötzinger. Als sie Ummerstadt hinter sich hatten und zum Wald einfuhren, munterte der Herr Joseph Bötzinger zu schnellerm Fahren auf; er wollte mit seiner Gemahlin in Koburg bei Meister Örtlein etwas rasten und dann zu Fuß mit ihr nach Mupperg wandern. Darum war ihm die Zeit teuer. Plötzlich vernahmen die Eilenden vor sich im Walde sonderbares Rufen. Es klang fast wie Männergesang. Da riet der ängstliche Schulmeister von Mupperg zu langsamerer Fahrt. Als man aber einen Wagen kommen hörte, fuhr man auf die Seite und hielt an.
„Avance à l'aventure!“ scholl es aus dem Walde her, und wie als Antwort folgte aus rauhen Männerkehlen der Gesang:
Christophorus! valera -
Den Spieß und Feuerschlund -
Christophorus, valera!
Mach scharf und heiß itzund!
Nun beißt die Zähn zusamm
Und werft den Feind vom Damm!
Wolln lustig klettern übern Zaun,
Den Satan in die Pfanne haun!
Christophorus, valera!
Heisa, hopsa, trallera!
Ungefähr hundert Schritte vor den heimkehrenden Hochzeitsgästen brach eine Rotte von zehn bis zwölf „Schnapphähnen“ in den Weg und warf sich unter Anführung eines langen Strolches vier Reitern, denen ein mit zwei Pferden bespannter Wagen folgte, entgegen.
Aber der vornehmste der Reiter streckte durch einen Pistolenschuß den Anführer der Schnapphähne in den Sand. Und nun sprengten die Reiter einhauend zwischen die Meuterer, daß sie sich flüchtig in den Wald schlugen. Noch zwei von ihnen blieben liegen. Aber hinter einer dicken Fichte hervor ragte plötzlich die Muskete eines Flüchtigen: es krachte, und der vornehme Reiter sank vom Pferd. Dann war Ruhe; nur das Stöhnen des tödlich Verwundeten hörte man.
Beim Sturz des Reiters wurde aus dem Wagen ein herzzerreißender Schrei vernommen, und bald stieg eine Dame aus und warf sich jammernd nieder zu dem gefallenen Reiter. Die Unversehrten waren schon von ihren Pferden gesprungen und versuchten den Schwerverwundeten aufzurichten.
Das Heldburger Gefährt, das noch gar nicht bemerkt worden war, setzte sich wieder in Bewegung, und als es an der Schauerszene vorüber war, nahm es ein Tempo an, als ob ihm der Wald von zielenden Musketen strotzte. Margarete Bötzinger zitterte wie Espenlaub, und Frau Sophel drückte sich vor Entsetzen und Angst an ihren Ehewirt, daß ihm die Schreckenshitze schier die Leber röstete.
Joseph Bötzinger aber stammelte bald Buß-, bald Dankgebete.
Das war das Ende des langen Christophels, dem der Herr von Schaumberg auf Unterschwappach in seiner Chronica schnapphania ein Denkmal gesetzt hat. Was aus den beiden schwerverwundeten Schnapphähnen geworden, ist nicht auf die Nachwelt gekommen. –
Der von der Musketenkugel Getroffne ist unser Schweigmund von Unfind, der auf der Reise nach Rudolstadt begriffen ist und gedacht hatte, sich mit seinem jungen Weibe seiner Wohltäterin, der lahmen Magd in Gompertshausen, in Ehren vorzustellen. Er wußte, daß sie ihn liebte wie eine Mutter ihren Sohn.
Man legte dem Rittmeister einen Notverband an, brachte ihn mit möglichster Vorsicht in den Wagen und rückte langsam vorwärts. Das ledige Löwengold folgte traurig dem Wagen, als ob es gewußt hätte, daß sein Herr es nimmer wieder besteigen werde.
Ein vorauseilender Reiter hielt in Ummerstadt vor einem Gasthof und schickte den Tagwächter aus, den Bader herbei zu rufen. Als dieser ausfindig gemacht war, kam auch schon der Wagen der Frau Rittmeisterin an. Der Heilkünstler wollte Anstalten treffen zur Unterbringung des Verwundeten; aber dieser wehrte ab, und der Bader stieg in den Wagen, untersuchte die Wunde und legte einen Verband an nach den Regeln seiner Kunst. Nachdem ein möglichst bequemes Lager bereitet und der Leidende seinem Zustand entsprechend gebettet war, nannte dieser mit matter Stimme den Namen „Martin Bötzinger.“
„Ist in Poppenhausen Pfarrer und vor einer Stunde von seiner Hochzeit heimgekommen, hat des Ratsherrn Michel Böhms Urschel gefreit. Das waren lustige Tage auf dem Rathaus in Heldburg“, erzählte der geschwätzige Bader.
„Auf dem Rathaus!“ – Der Kranke stöhnte. – „Vor drei Jahren hatten sie ihn dort an die Säule in der Mitte der Stube gefesselt als Spitzbubenhauptmann und Hexenmeister.“
„Nach Poppenhausen!“, sagte er matt, und sein Auge traf bittend den tränenumflorten Blick seines Weibes. – Nach einer kleinen Pause wandte er sich mit Anstrengung an den Bader: „Bring Er heut noch, sobald es möglich, die lahme Magd von Gompertshausen nach Poppenhausen. Er wird gut bezahlt!“
Während der Bader den Puls des Rittmeisters befühlte, sagte er: „Werde schleunigst Euern Befehl ausrichten und die Lindenelsa nach Poppenhausen bringen. Ihr sollt sehen, daß es mit ihrer Kunst net weit her ist. Was versteht so ein elend Frauenzimmer von der Chirurgie! In Poppenhausen werd ich Euch die Kugel ausschneiden; wenn Ihr mir vertrauen wollt, rett ich Euch. – Aber ich bring die lahm Magd; verlaßt Euch drauf!“ Eine Handbewegung des Verwundeten genügte, den Bader zum Schweigen zu bringen, und der Taler, der ihm von der Frau Rittmeisterin in die Hand gedrückt wurde, beflügelte den Fuß des Davoneilenden.
Zwei Reiter und die Pferde wurden im Gasthof zu Ummerstadt einquartiert, der dritte Reiter ging zu Fuß neben dem Wagen her, dessen Lenker vom Tagwächter auf den Weg nach Poppenhausen gewiesen wurde. In gemessenem Schritt bewegte sich das Gefährt mit dem todwunden Manne durch die lachende Frühlingswelt.
Und die Nachtigall schmetterte und schluchzte.
Im Pfarrhause zu Poppenhausen stand die junge Frau vor ihrer „Siedel“ und erfreute sich mit musterndem Auge an der weisen Ordnung der Mutterhand, wie sie das dürre Obst in den Fächern sortiert aufgespeichert und allerhand zierliches Geräte aufgestellt hatte; und der Herr Pfarrer saß in seiner Studierstube und arbeitete am Schluß seiner dritten Pfingstpredigt. Denn nur noch der heilige Abend war übrig geblieben von der Woche zwischen Exaudi und dem Pfingstfeste.
„Amen!“, hatte er geschrieben, legte die Feder nieder und nahm aus dem Bücherregal ein großes Buch, legte es auf den Tisch und blätterte darin.
Es war des Aeneae Sylvii Papae historisch Werk in alter Münchsschrift gedruckt auf groß Regalpapier. Dann suchte der nunmehrige glückliche Eheherr seine Frau Gemahlin auf bei der Ausstattung, erfreute sich mit ihr an dem reichen Segen und ging darnach mit ihr der Magd nach in den Stall, um sich an dem Melken der „Immerkuh“ zu erfreuen. Und als die Milchstrahlen abwechselnd in den Stutz zischten, rief Martin Bötzinger aus: „Daheim auf Ithaka!“, und küßte seine errötende Ursel.
Und die Nachtigall schmetterte und schluchzte.
„Holla!“, rief es in der Flur des Pfarrhauses zu Poppenhausen, und vor der Tür hielt ein Reisewagen, und der Wagenlenker klatschte ein wenig mit der Peitsche.
Betroffen kam das junge Ehepaar aus dem Stall herzugeeilt. Es stieß in der Hausflur auf einen Mann in Reiterstiefeln und sah das Gefährt vor dem Haus und verlor schier die Fassung. Der Reiter aber sagte: „Hochehrwürden, wollet nicht erschrecken. Draußen in dem Wagen liegt mein Rittmeister verwundet. Er muß Euer Hochehrwürden kennen. Denn als er in dem Städtlein drüben einquartiert werden sollte zur Pflege und Heilung, hat er Euern wohlachtbaren Namen genannt und begehret, zu Euch gebracht zu werden. Auch die Frau Rittmeisterin und ihre Jungfer Kordula sind im Wagen. Habt Ihr ein Plätzlein, wo Ihr unserm liebwerten Herrn ein Lager bereiten könnt zu stiller Pflege, so übet Barmherzigkeit.“
Der Herr Pfarrer Martin Bötzinger gedachte der Heimsuchung durch das „Lauenburgische Volk“ und war in dem Wahn, der Offizier, der bei ihm gelegen hatte, sei es, der jetzt als Verwundeter Unterkunft suche. Nun stand selbiger Offizier zwar als „Mauser“ in seiner Erinnerung; aber er zeigte sich doch bereit, ihn aufzunehmen, und bat seine Gemahlin, die „Kaplanstube“ flugs rüsten zu lassen.
Das „hochpreisliche Ingenium“ dieser jungen Hausfrau hatte die erste Probe zu bestehen. In großer Geschäftigkeit machte sie sich mit ihrer Magd ans Werk.
Während der Unterredung zwischen dem Reiter und dem Pfarrer war Frau Susanna ausgestiegen und hatte sich langsam der Haustür genähert. Und als der Herr Pfarrer heraustreten wollte, stand die Dame tiefverschleiert vor ihm. Sie bat, eintreten zu dürfen. Der Herr des Hauses verneigte sich, und nachdem sich der Reiter auf einen Wink der gnädigen Frau entfernt hatte, bat diese um eine kurze Unterredung unter vier Augen.
Ob auch die Dame nur kaum vernehmbar gesprochen hatte, so weckte doch diese Stimme und diese Gestalt Erinnerungen in dem Herrn Martin Bötzinger, die ihm die Wangen röteten. Er öffnete die Stubentür und bat die Dame einzutreten. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, begann die Fremde zu sprechen: „Erschrecket nicht, Herr Pfarrer, wenn ich Euch sage, was meinen Mann zu Euch getrieben hat.“
Dem Herrn Pfarrer ging der melodische Klang dieser Stimme durch Mark und Bein; er verfärbte sich und griff nach einer Stuhllehne, als bedürfe er einer Stütze. Der Dame entging seine Erregung nicht, und sie fuhr fort: „Steigen Ahnungen in Euch auf, die Euch erschüttern? Ich kann es nicht ändern; ich muß sie bestätigen.“ Nach diesen Worten schlug sie den Schleier zurück. Da stand die Susanna mit den langen Augenwimpern.
Ithaka begann zu beben und zu schwanken wie das Schiff des irrenden Odysseus auf den Sturmwogen des Meeres.
Und die Nachtigall schmetterte und schluchzte.
Der Herr Pfarrer Martin Bötzinger war auf den Stuhl, an dessen Lehne er eine Stütze gesucht hatte, niedergesunken und starrte bewegungslos vor sich hin.
Da neigte sich die Dame zu ihm nieder und erfaßte seine Rechte und flehte: „Verzeiht mir! Ihr seid glücklich mit Eurer Ursula; und ich war glücklich mit meinem Schweigmund, Euerm Jugendgespielen. Verzeiht auch ihm! Reicht ihm die Hand, säumet nicht! Er sehnt sich nach Versöhnung, ehe er stirbt.“
Die letzten Worte gingen unter in schmerzlichem Schluchzen. Martin Bötzinger war emporgeschnellt. Es war ihm, als ertöne die Posaune des jüngsten Gerichts. Verzeihung? Sehnsucht nach Versöhnung! – Sterben?
Der Mut und das Feuer des berufnen Seelsorgers belebten ihn. Er eilte an den Wagen und traf Anordnungen, daß der Verwundete vorsichtig heruntergehoben würde. Der Reiter, der Wagenlenker, die Jungfer Kordula und der Herr Pfarrer brachten den blassen Rittmeister ins Pfarrhaus, um ihn in der Kaplanstube zu betten.
Während der Herr Pfarrer nach dem Wagen geeilt war, und Frau Susanna den Fuß aus der Stube hatte setzen wollen, war Frau Ursula Bötzinger aus der Kaplanstube getreten, um sich nach der Einquartierung umzusehen. Die langwimperige Dame hatte den Schleier nicht wieder vorgeschlagen, und so standen plötzlich Susanna und Ursel einander gegenüber, Auge in Auge.
Frau Ursel umklammerte krampfhaft die Türklinke, die sie noch in der Hand hatte, und ein gedämpfter Schrei entrang sich ihrer Brust. Da trat Frau Susanna zu der Erschrocknen, ergriff sie sanft am Arm und sprach: „Euer Glück freut mich. Auch ich war glücklich. Aber das Ende kommt. Reich und glücklich bin ich ausgezogen, arm und gebrochen werde ich heimziehen. Gott vergelte Euch die Barmherzigkeit, die Ihr an uns übet!“
Sie brachten eben den Rittmeister. Sein weinendes Weib strich ihm über die Stirn. Ein schwachleuchtender Schein zog über das Antlitz; diese weiche Hand tat dem Leidenden wohl.
Frau Ursula Bötzinger aber hatte sich in die Studierstube ihres Mannes geflüchtet und weinte bitterlich. Eine übermächtige Wehmut war über sie gekommen. Es war, als brächen aus den Spuren, die all ihr Leid und all ihr Glück je in ihrem Gemüt gezogen hatten, Feuerflammen.
Sie ist die vierte Seele, die mit uns zu einem unauflöslichen Ring zusammentritt – hatte dieser Verwundete zu ihr gesagt nach der Rettung aus den Händen der Wegelagerer. Nun hatte das Schicksal diese vier Seelen an einem Tage unter einem Dache zusammengeführt; das eine Paar in Glück, das andre in Todesnot.
Und die Nachtigall schmetterte und schluchzte.
Frau Susanna ordnete an, daß ihr Wagen und der Reiter nach Ummerstadt zu den andern zurückkehrten, nur ihre Jungfer behielt sie bei sich. Dann setzte sie sich an das Bett des Schlummernden.
Der Herr Pfarrer hatte die Tür leise zugedrückt und suchte seine Ursel, aber überall vergebens. Er wäre beinahe erschrocken, als er sie endlich in seiner Studierstube antraf. Aber er war Herr des Sturmes geworden und redete seiner weinenden Gemahlin aufmunternd zu.
„Mein trautes Lieb!“, sagte er, „dich rührt des ernsten Lebensganges Gewalt an, wie sie auch mich bis auf den Grund erschüttert hat. Aus der Hochzeit und Fröhlichkeit kommen wir her an unsern Herd, und alsbald tritt zu uns ein eine Gesandtschaft unsers Heilandes, uns zu weisen die große Aufgabe und den hohen Beruf des häuslichen Herdes, nämlich zu sein ein Zufluchtsort für Krankheit, Elend und Todesnot. Und ob ich traure und tief erschüttert bin, jubilieret doch heimlich mein Herz ob solcher Gesandtschaft, und daß mein lieber Hans, dem sie die Mutter verbrannt haben, die auch mich geliebt hat wie ihren Sohn, zur Versöhnung eingerückt ist. Wir wollen zu Gott beten, daß er ihn errette.“
Frau Ursula stand auf und umarmte ihren Gemahl und küßte ihn. Dann entfernte sie sich, ein Süpplein für des Heilands Gesandtschaft zu bereiten. Und als es fertig war, holte sie auch ein Krüglein Wein und brachte beides leise in die Kaplanstube. Leise wollte sie sich wieder entfernen, mußte sich aber gefallen lassen, daß ihr im Vorübergehen Frau Susanna dankbar die Hand drückte, sodaß sie ein wenig stehen bleiben mußte.
Nachmittags drei Uhr kam die Lindenelsa an auf ihrem Karren. Aber der Bader war vor dem Dorf abgestiegen und ging stolz vorauf. Im Pfarrhaus mußte er freilich bemerken, daß die lahme Magd mehr galt als er, was seinen Heilkünstlerstolz sehr in Alarm versetzte.
„Glück und Segen ins Haus!“, hatte die lahme Magd ausgerufen, als sie in die Pfarrstube getreten war. „Will mir net gefalln, daß der Eheeingang gleich vom Elend belagert wird. Wo ist der kranke Offizier?“
Nach des Baders Mitteilung glaubte sie, zur Hilfeleistung gerufen worden zu sein. Als aber der Bader dem Herrn Pfarrer und seiner Gemahlin erzählte, daß der Verwundete ihn expreß nach der Lindenelsa ausgesandt habe, flüsterte der Herr Pfarrer seiner Gemahlin zu: „Er wird Abschied nehmen wollen.“ Die lahme Magd hatte es verstanden und fragte: „Abschied von mir? Ein Offizier? Hihihi!“ Aber plötzlich machte sie ein ernsthaftes Gesicht und platzte heraus: „Das könnt nur der Marschall Hans sein“, und sah dann den Herrn Pfarrer mit großen Augen an.
„Sie hats erraten, Elsa!“, sagte der Herr Bötzinger. „Als Rittmeister ist er gekommen, aber zum Tod verwundet. Drüben in der Kaplanstube liegt er und schläft, und daneben sitzt seine arme Frau, die Susanna von Rudolstadt, und wacht und weint.“
„Ach, du liebstes Gottle!“, jammerte die lahme Magd und rang die krummen Hände. „Wenn er stirbt, so ists auch mit mir aus! Von der Hochzeit ans Sterbebett! Ach, du liebstes Gottle!“
Der Herr Pfarrer nötigte die klagende Magd zum Niedersetzen und bat den Bader, den Karren auf die Seite zu bringen und den Gaul einzustellen, es sei noch Platz für ihn im Stall.
Der Bader entfernte sich, und es trat die Jungfer der Frau Susanna leise ein und richtete aus, daß die gnädige Frau den Herrn Pfarrer zum Kranken bitten lasse.
Von tiefem Ernst erfüllt, begab sich Martin Bötzinger in die Kaplanstube. In halbsitzender Stellung lehnte der Rittmeister an den hinter seinem Rücken aufgeschichteten Pfühlen, und auf eine schwache Bewegung seiner Rechten entfernte sich sein Weib.
Zum erstenmal nach dem schrecklichen Tode seiner Mutter versenkten sich seine und des einstigen Jugendgespielen Augensterne in einander und gingen dann unter in der Salzflut eines überwältigenden Seelensturmes. Mit Leidenschaft ergriff Bötzinger die sich ausstreckende Rechte des Schmachtenden. Fest wie Eisen umklammerten sich diese Hände, und aus dem Sturm stieg der Stern der Liebe empor in strahlender Glut.
Ein tiefes Stöhnen des Verwundeten brachte den erschütterten Bötzinger einigermaßen zur Besinnung, und er erschrak vor der arbeitenden Brust.
„Stille, stille, mein Freund! Dein Zustand verträgt nicht diese Leidenschaftlichkeit. Wir haben einander wieder; nun gieße der Himmel seinen Frieden aus in unsre Seelen. Der Friede Gottes sei mit dir!“
Nach diesen Worten küßte Bötzinger die edle Stirn des Freundes, dessen Rechte erst jetzt aus des Geliebten Hand matt niedersank. Bötzinger reichte darauf dem Lechzenden einen Löffel Wein, und nach dieser Erquickung ruhte das große Auge des Leidenden mit unbeschreiblichem Ausdruck auf dem Antlitz des Jugendgenossen; es war, als hätte es dieses Bild der sehnenden Seele als einen bis jetzt verloren gewesenen Bestandteil ergänzend zuzuführen für ein neues, schöneres Leben: und ein überirdischer Glanz ging von ihm aus.
Nach längerer Pause hub Bötzinger an: „Der Bader von Ummerstadt hat die Lindenelsa hergebracht und ist noch da, dir die Kugel auszuschneiden. Ich fürchte aber, daß du zu schwach zu solcher Operation bist.“
Leise erwiderte der Rittmeister: „Ist nicht nötig – meine Uhr ist abgelaufen. – Die Schmach ist abgewaschen. – Meine Mutter erwartet mich. – Später will ich die Elsa noch sprechen – und deine Ursel will ich auch noch sehen – vor meinem Ende.“
Noch einmal küßte Bötzinger den Freund; dann zog er sich in das Familienzimmer zurück, wo Frau Susanna der Frau Ursel und der lahmen Magd den unglücklichen Überfall im Gauerswald erzählt hatte. Nach dem Eintritt Bötzingers begab sie sich wieder an das Lager ihres verwundeten Gemahls.
Nun erzählte die lahme Magd dem Herrn Pfarrer die eben vernommene blutige Affaire, und dieser rief aus: „So waltet auch unter den Schnapphähnen das ewige Recht der Vergeltung? Kein Sterblicher vermag auszuzählen die Schritte der Gerechtigkeit Gottes. Wer kann sagen, ob das Werk Gottes an diesem unserm sterbenden Freunde nicht schon vor dem Überfall geschehen war? Wenn seine erlösende Hand den Sterblichen angerührt hat, mag es seiner göttlichen Weisheit wohl einerlei sein, welches irdische Werkzeug für ihn hantieret. Sind wir reif zur Erlösung, die wir hier beisammen sind? Wer kann wissen, welch Leidensmaß notwendig ist für den oder jenen, um ihn auf die Stufe der Heiligung zu führen, die Gott gefällig ist? Wer kann wissen, welch irdisches Schicksal unsrer noch harrt?“ Eine feierliche Stille war nach den wuchtigen Fragen des jungen Seelsorgers eingetreten.
Da brach die lahme Magd das Schweigen. „Herr Pfarrer! Ist es denn gewiß zum Sterben mit dem Hans? Ich kanns net verwindn! Und nun bin ich da und krieg ihn net zu sehn?“
„Später will er Euch sehn und auch meine Ursula. Jetzt ist er noch zu angegriffen von unserm Wiedersehen.“
Die lahme Magd bedeckte mit beiden Händen das Gesicht und weinte still vor sich hin. Der Herr Pfarrer begab sich in seine Studierstube, und die Frau Ursel ging, für den Tisch zu sorgen. Als dieser wohlbesetzt war mit dem Besten, was Küche und Keller bot, nötigte sie den Bader, die Jungfer der gnädigen Frau, die Lindenelsa und ihren Gemahl, Platz zu nehmen zum Mahl. Sie selbst setzte sich zwar auch mit an den Tisch, war aber nicht imstande, einen Bissen über die Lippen zu bringen. So geschah es auch bei ihrem Gemahl, und auch die lahme Magd rührte nichts an von dem Aufgetragnen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
An den dreitägigen Hochzeitsschmaus unter Trompeten- und Paukenschall heftete sich dieses stille Trauermahl wie der Schatten an den Blütenbaum in der heißen Mittagssonne.
Und die Nachtigall schmetterte und schluchzte.
Das Abendgold säumte die Bergspitzen, und in den Tälern flackerte das Tagesleben zum letzten mal auf. Da begehrte der blasse Rittmeister in der Kaplanstube die Lindenelsa und die Frau Ursula zu sprechen.
Um einer möglichen allzugroßen Aufregung zu wehren, begab sich auch Martin Bötzinger mit in das Krankenzimmer.
Die Hände faltend, stand die lahme Magd vor dem Leidenden. Dieser streckte ihr seine Rechte entgegen und flüsterte matt: „Habt Dank! Dank! Dank! Meine zweite Mutter!“
Die beiden krummen Gichthände umschlossen die Rechte des einstmaligen Pfleglings, und das arme Weib schien in Schmerz und Jammer vergehen zu müssen. Um den heftigen Ausbruch des schluchzenden treuen Weibes zu dämpfen, legte der Herr Pfarrer wie segnend seine Hand auf das schwankende Haupt. Da ließ Elsa des Geliebten Hand frei und kniete nieder vor dem Bett. Hinter ihr stand Bötzinger, ihm zur Rechten Frau Susanna, zur Linken Frau Ursel. Nachdem der Rittmeister auch dieser die Hand wie zum Abschied gereicht hatte, sagte mit bebender Stimme Martin Bötzinger:
„Der ewige Frieden wohnt in den Hütten der Seligen. Die Erde hat ihn nicht, ob sie grüne und blühe, oder im unschuldigen Kleid des stillen Winters erscheine. Hienieden zerreißt der Wahn die heiligsten Bande. Nachbar feindet den Nachbar an; in der Kirche wütet Zwiespalt und Verfolgung; die Potentaten hintergehen einander in Eigensucht und Arglist, und die Völker ziehen gegen einander mit Mord und Brand.
Wenn der Habicht die Taube niederstößt, und der Wolf das Lamm zerreißt: so wütet der Sättigungstrieb. Aber in dem Reich des Geistes, dem der Mensch angehört, soll Wahrheit und Liebe die Speise sein. Doch die Menschheit liegt in dem Taumel des Dünkels und des Wahnes, und daraus steigt der Haß auf mit zweischneidigem Schwert und vermeint dem heiligen Geist zu dienen mit Scheiterhaufen und Blutbad.
Und in der Kinder Herzen gehet die Drachensaat auf und wuchert immer weiter fort im Leben, daß alle als haltlose Splitter vom Sturm wider einander geschleudert werden. Und so zeuget sich das Elend fort in tausend und abertausend Keimen.
Wo ist Rettung, wo ist Erbarmen, wo ist Vergebung und Versöhnung, wo ist der Weg zum Frieden?
Am Kreuz!
Wo geht die Sonne auf zur Genesung aus Jammer und Not?
Auf Golgatha!
Wo weht dir die erquickende Luft der Befreiung entgegen?
Auf dem Berg der Leiden.
Dulde, und abermals dulde! Liebe sei dein Odem, Erbarmen dein Wirken! Und wenn das Elend zermalmend über dich hereinbricht, so richte deinen Blick auf zum Kreuz auf Golgatha!
Steige empor von einer Leidensstaffel zur andern, mutvoll in Geduld, voll Opfermutes ausdauernd in Liebe, Erbarmen und Entsagung. Laß dich nicht anfechten des Fleisches Wahn und Ränke, so wirst du siegreich triumphieren ob alles Jammers und eingehen zu deines Herrn Freuden! Amen!“
Ein tiefes Röcheln des Verwundeten rief in der Gruppe der Andächtigen eine Bewegung des Schreckens hervor. Seine Arme zuckten krampfhaft die weitgeöffneten Augen rollten – einem langen Seufzer folgte die Ruhe des Todes.
Mit einem Schmerzensschrei stürzte sich Susanna auf den Entseelten.
Und die Nachtigall draußen im Hag schmetterte und schluchzte!
Das Fest des heiligen Geistes im Pfarrhause zu Poppenhausen im Jahre 1627 verlief still und in erhabner Trauer. Die feurig gedachten Pfingstpredigten des jungen Seelsorgers bekamen durch die Grundstimmung der Trauer den milden Glanz des Sternenlichtes. Und die junge Ehewirtin waltete im Hause in Wirklichkeit als zur Ehre einer Heilandsbotschaft. Das junge Ehepaar fühlte sich wie im Dienst der leidenden Susanna, und Gebärde, Miene, Blick und Wort spannen um das zerrissene Herz in Mitleid und inniger Liebe ein stillendes, heilendes Gewebe und erweckten tief unter dem Riß die Keime niegeahnter Empfindung: die Keime des Glaubens an eine erhabne, ewige Barmherzigkeit, die Keime überirdischer, alldurchdringender Liebe. Bis jetzt hatten sie noch geschlummert im Reich des dunkeln Unbewußtseins: nur durch den Himmelstau des Leidens und Mitleidens konnten sie geweckt werden.
Der Nachmittagsgottesdienst in dem Poppenhäuser Kirchlein zu unsrer lieben Frauen am zweiten Pfingstfeiertage des genannten Jahres war ein Trauergottesdienst; ein Sarg, mit Blumen bedeckt, stand vor dem Altar. Die Predigt des Pfarrers Martin Bötzinger aber war heilender Balsam für das zerrissene Herz und erquickende Nahrung für die erwachten Keime überirdischer, ewiger Liebe.
Die lahme Magd von Gompertshausen war bis zur Bestattung des mütterlich geliebten Rittmeisters da geblieben und saß auch im Kirchlein, und ihr Herz ward von dem Rest seines Dünkels geheilt.
Auch Reiter, Wagenlenker und Bader waren von Ummerstadt herüber gekommen zum Begräbnis; das ganze Dörflein nahm teil; von Heldburg hatten sich eingefunden der Ratsherr Michael Böhm mit seiner Ehewirtin, Bürgermeister Tobias Wehner, Petrus Wehner, Johann Friedrich Schwalb, Wolfgang Wustmann, der Herr Organist Nikolaus Fleischmann und viele unnennbare Weiblein und Männlein – der Herr Superintendent Sebaldus Krug war im Hinblick auf die Würde, die er bei der Gefangennehmung des Hexenmeisters in Gompertshausen entwickelt hatte, daheim geblieben; aber von der Burg waren die Liedermagd, der Herr Amtsschösser, der Schreiber und noch etliche anwesend. Alle waren von der Leichenpredigt ergriffen und gingen gehobnen Gemütes heim.
Diese Andeutungen mögen genügen, meinen lieben Leser zu überzeugen von dem großen Segen, der mit dem verwundeten Rittmeister, „der Heilandsbotschaft," im Pfarrhause zu Poppenhausen eingezogen war.
Am Tage nach der Bestattung zog die junge Witib mit ihrem Gefolge ihres Weges über Rauenstein. Die drei Reiter ließen es sich nicht nehmen, ihr das Geleit zu geben bis an den elterlichen Herd. –
Des alten Brattendörfers, des Großvaters der Lise, sei noch gedacht. Im Sommer des vorhergegangnen Jahres hatte er mit Hirsen und gedörrten Schlehen an der Heidecksburg angeklopft und von der gnädigen Frau erfahren, daß Susanna von dem Rittmeister Schweigmund von Unfind in die Ehe heimgeholt worden sei. Seitdem war er nicht wieder dorthin gegangen. Er saß nun in der Gesindestube und flickte Schuhwerk, als Frau Susanna in Rauenstein ankam. Er hörte davon und wurde auf sein Bitten vorgelassen und küßte wiederholt die Hand der gnädigen Frau. Auch vom traurigen Ende seines geliebten Marschalls hörte er. Da verkroch er sich ins Heu und klagte und jammerte laut, daß es zum Erbarmen war. Von der Stunde an kränkelte er, und im Herbst desselben Jahres begruben sie ihn auch.
Nach dreitägigem Aufenthalt in Rauenstein setzte Susanna ihre Reise fort. Im Wonnerausch des Maien war sie aus Rudolstadt gezogen: nun war ein Jahr vergangen, und wieder im Mai zog sie als Witwe heim.