Jakob Querengässer

VIII. Und es war eine ganz andere.

 

Im Wirtshaus war es still wie in der Höhle des Zwerges oben hinter den zwei einsamen Bäumen. Es war abends im Zwielicht. Den Wanderer trieb noch nicht die Dunkelheit, ein Nachtquartier aufzusuchen; für die fleißige Dorfbewohnerschaft war es noch viel zu bald, sich ins Wirtshaus zu setzen; der Koatsmüller hätte wohl Zeit gehabt, zum Bier zu gehn, hütete sich aber, nur den Schatten eines Faulenzers auf sich kommen zu lassen, und der Stadtorganist gab noch Klavierstunde.

Aber einen Mann gab es, der nur bei Volllicht arbeitete. Wenn der unter dem Tisch ein Haar nicht mehr erkennen konnte, zog er den Arbeitskittel aus und den Gassatenrock („Bummelrock“, 16. u. 17. Jahrh.) an. Dann machte er einen Gang durch Flur und Wald. Jetzt kam er vom langen Berg am Pfaffengarten vorüber und steuerte dem Wirtshaus zu.

Der Brauer ging gerade nach dem Keller, um „abzuziehen.“ Die kleine Anna inspizierte die Magd im Stall beim Füttern; Lisette hatte in der Küche zu tun. Und die schöne Wirtin hatte sich in der oberen Stube eben auf das Kanapee gesetzt. Sie seufzte ein wenig, aber nicht so laut wie damals, als es die kleine Anna vernommen hatte.

Es pocht an ihrer Tür. Sie fährt in die Höh und reißt die Tür auf und hätte damit beinahe den Mann umgeworfen, der schon lange nicht mehr zu seiner Arbeit sehen konnte, den Herrn Modelleur Rauchenbach. Schnell ging die Tür wieder zu. Verschwunden war die schöne Wirtin und der Herr Modelleur mit. Dem scheint es bei seinen neuen Studien nicht zum zweiten mal krumm zu gehen.

Bald klopft es wieder an derselben Tür. Jetzt dauert es schon ein wenig länger, ehe sie sich öffnet.

Diener! Diener! Verzeih'n Se, wenn ich stehre, Freilein Lisette! — Hob do wos fer Se vun Harrn Quarengasser. Warn schun wisse, wie's g’ment is! — Viele, viele Grüße vum, schienes Freilein! — Pfehle mich Ihn’n!“ —

Die Frau Wirtin freute sich, dass weder in ihrer Stube, noch auf dem Vorsaal ein Licht brannte, und so diese Verwechselung möglich geworden war.

Nun brannte sie ihre Lampe an und öffnete das vom Bildermolle abgegebene Päckchen. An Herrn Rauchenbach sich wendend, sagte sie: „Ich weiß, dass Sie verstehen zu schweigen. Ich spiele da falsch. Aber dies falsche Spiel ist polizeilich nicht verboten.“

Da bin ich, hol's der Teixel! in die Hände einer falschen Spielerin gefallen! Man ist betrogen, mag man's machen, wie man will.“

Aber die Frau Wirtin schloss dem Modelleur den Mund mit einem Kuss. Das nahm der zwar nicht übel, vergalt aber der schönen Wirtin ihre Untat zwiefach. —

Aus dem Packpapier schälte sich das Ring-Etui heraus. Es ward geöffnet, und die falsche Spielerin steckte sich den Blitzring an die Hand.

Himmelsakerlot! Ein Diamant! — Der Kob muss den Koller haben! — Oder hat sich von der Verrücktheit des Bildermolle etwas auf den Herrn Querengässer übertragen? Was meinen Sie, mächtige Brunhild?“

Das kostete wieder einen Mundschluß, auf den ein lustiges Lachen folgte.

Der Kob ist und bleibt ein Rätsel. Unsre kleine Anna behauptet, er sei bis an die Ohren in sie verliebt. Dafür habe sie schon mehrfach Beweise. Und dieser Mensch schickt diesen teuern Ring an die Lisette, die ihn nicht mag und mit ihren Gedanken ganz wo anders hängt. Diesem Zwiespalt muss ein Ende gemacht werden. Und das kann nur durch mein falsches Spiel geschehen. Wenn dadurch dem Kob die Augen geöffnet werden, so wird er sie wie ein Schlaftrunkener reiben und mitten hineintappen in sein Glück.“

Sie sind eine gefährliche Person, starke Brun...“ —

Da hatte der Modelleur wieder einen zarten Deckel auf seinem losen Mund.

Den Ring da geb ich der kleinen Anna als ein Geschenk vom Kob! Ich habe nun einmal diese Schicksalsrolle übernommen zum Besten der Anna und des Kob: ich muss nun auf der eingeschlagenen Bahn bleiben. Übrigens habe ich schon bemerkt, dass die Augen des Kob bereits wie Kletten an der kleinen Anna hängen, wenn er sich unbeobachtet glaubt.“

Der Herr Modelleur verabschiedete sich und schlich sich wie auf Katerfüßen davon.

Die Wirtin ließ den Ring dann noch ein Weilchen an ihrer Hand brillieren. Auf einmal entstanden in ihrem schönen Antlitz einige eckige Linien, der Blick wurde unfreundlich, und sie streifte rasch den Ring ab und barg ihn im Etui.

Was soll die Frau des dummen Kob mit diesem Ring? Die muss Brennesseln und Disteln angreifen können, muss Schweinefutter kneten und — wenn's sein muss — Schweineställe ausmisten. — Zum ersten Feiertag damit in der Kirche Staat machen? — Nun ja! Dazu wär ein billigerer Ring auch gut genug. — Bei mir möcht's noch gehn. — Will später einmal mit der Anna red’n, ob sie einen Tausch eingehen möcht.“ —

Da haben wir's! Da kommt jene echt weibliche Schwäche, der Neid, zum Durchbruch. Die schöne Wirtin hat sich den jüngsten von den drei ältlichen Junggesellen erkoren, — sie möcht auch im Fingerschmuck voranstehen. —

Als sie der kleinen Anna das Geschent überreichte und ihr den Ring an den Finger steckte, und dieser Funken sprühte, da stand die kleine Anna wie versteinert und steif da vor Überraschung. Endlich sagte sie: „Jakob, das ist zu toll! — Aber dieser Ring soll mir die Gewalt Gottes im Licht bedeuten, in der lieben Sonne und im Blitz des Gewitters. Er soll mir heilig bleiben bis in den Tod!“ —

Da schlich sich die große Anna davon und dachte vor der Hand nicht mehr an einen Tausch.

 

In hölzerner Halsstarrigkeit hatte er's getan. Und es war schief gegangen. Dem Herrn Querengässer geht alles quer! Seine letzte Liebestat war wie seine erste im Wirtshaus, ganz seinem irrlichternden Wesen entsprechend, in der Dunkelheit zum Austrag gebracht worden. Sein lichtsprühendes Geschenk schlich in der Dunkelheit wie der Blitz in der Gewitterwolke. Wie zum Spott des Lichtscheuen zog das Schicksal seine Taten hinein in die Dunkelheit. Sie umlagerte ihn, zog ein in sein Inwendiges und machte ihn zu ihrem Gefäß. Es wurde immer dunkler in ihm. Kob, die Dunkelheit wird dich wie einen Schemen aufzehren! —

Siehe da! — Es tritt ein Lichtstrahl herein, — nicht der Blitz aus einem Ringstein ohne Wärme und Leben, — ein bezaubernder, warmer Strahl aus der Tiefe einer keuschen Mädchenseele. Du hast ihn schon einmal aufgesogen, Kob! Und noch einmal, — und noch einmal! — Und es ist seitdem über dich gekommen, dass die zunehmende Dunkelheit in dir im Kampf steht mit dem warmen Seelenstrahl. Und wenn der warme Seelenstrahl untergeht, trägt der Kob eine Finsternis in seinem Inneren herum wie eine Kuh. Und dann erwacht eine gewaltige Sehnsucht auf dem Grund der Finsternis, und Jakob Querengässer weiß nicht, wo aus noch ein.Himmelkreuzdonnerwetter! — Guck mich nicht mehr an, kleine Anna! — Hinweg! — Hinweg! — Die Lisette hat ihn nun einmal! — Die war schon dem Knirps in der Höhle nicht passend. — Wer dächt' denn aber auch, dass die kleine Anna so große Gewalt hätt! — Meine Mutter hat's schon geahnt. Jetzt dämmert's! — Aber die Lisette hat ihn nun einmal!“ — —

Kob stürmte hinaus, in die Dunkelheit hinein. Die Dienstboten in seinem Haus und seine Mutter waren bei ihrer gewohnten Arbeit in den Ställen.

Guten Abend, Herr Querengässer! Wohinaus so eilig?“ —

So grüßte auf einem Feldweg der von seinem Spaziergang zurückkehrende Herr Modelleur Rauchenbach.

Ach, Sie sind's! Hätt Sie beinah nicht erkannt, Herr Modelleur!“

Hab’n wohl eine Zusammenkunft in der Finsternis verabredet, Herr Querengässer? — Ein wenig Dämmerung ist ja gerade nicht übel. Aber von der Finsternis bin ich kein Freund. Können da sogar unliebsame Verwechselungen vorkommen. Mir ist das schon passiert.“ —

Meinen die krummen Beine?“

I, bewahre! Verwichen hab ich einmal in der Dunkelheit Eine ein wenig an mich gedrückt, und es war eine ganz andere. Das hätt eine dumme Geschichte geben können, wenn's nicht durch einen Zufall herausgekommen wäre.“

Da stand der Herr Jakob da wie ein Weidenstock am Teich, stumm, regungslos.

Na, Ieb'n Se wohl! Hab Hunger.“ Damit entfernte sich der Herr Modelleur.

Aber der Herr Jakob Querengässer blieb stehen wie angewurzelt. — „Hat in der Dunkelheit Eine ein wenig an sich gedrückt, — und es war eine ganz andere — — hat er gesagt. — — Ja, so hat er gesagt. — — Schockmillionkreuz — —.“

Kob lief davon, als würd er von zehn Wölfen verfolgt. Immer schleuniger schoss er weiter. — Und er schoss an eine alte Frau und rannte sie um.

Du dämlicher Kerl du!“, rief sie. „Siehst wohl nich, du Brummochse?“ —

Sie raffte sich auf, ging ihres Weges und keifte und schimpfte wie eine Furie auf den Herrn Jakob Querengässer.

Der aber stand da wie ein Verbrecher, keuchend und schweißtriefend. Er hätte in seiner Not gern alles über den Haufen werfen mögen, die Lisette, den Bildermolle, alles — — nur keine alte Frau mit solchem Leder auf den Zähnen!

Und es war eine ganz andere, hat er gesagt. — Verdammte Geschichte!“

Jakobs Seelenzustand wurde bedenklich. Nirgends Ruhe, nirgends Rast. — Da kam der Rasttag, der heilige Sonntag. Wird er dem Kob Ruhe bringen?

Wie gottesfürchtig und fromm hatte er als Junge in der Kirche am Sonntag die Hände gefaltet! Das wollte ihm schon lange nicht mehr gelingen. Sein Dünkel und seine Aufgeblasenheit warfen ihn zwar nicht mehr wie einen Spielball zwischen Reue und Ärger hin und her; dazu war der Ernst, in den ihn seine Heiratsnot zwängte, zu nachhaltig und starr: aber seine Lichtscheu und die Schwäche seiner Beobachtungskraft hatten ihn endlich dermaßen in Fesseln geschlagen, dass er zuweilen die Grenze der Verzweiflung hart streifte.

Als es zur Kirche läutete, packte den Kob eine so weiche Stimmung, als sehne er sich nach seiner Knabenzeit zurück. Dahinein klang beim dritten Kirchenläuten das Zusammenschlagen aller Glocken wie heilige Musik aus fernen, friedlichfrohen Zeiten.

Der Herr Jakob Querengässer brach sich einen Rosmarinstengel ab, klemmte ihn in das Konfirmationsgesangbuch und schritt feierlich dahin auf dem Kirchweg.

Etwas schneller kam hinter ihm drein die kleine Anna. Und als Kob an der Kirchentür ein wenig auf die Seite trat, um die ihm folgenden, nächsten Kirchengänger an sich vorbei zu lassen, stand plötzlich die Anna vor ihm. Sie wurde wieder schön rot bis hinter die Ohren und grüßte. Aber ihr „Guten Morgen!“ wäre ihr beinahe im Hals stecken geblieben. Sie fasste sich ein Herz und schlug die Augen auf. Und Kob konnte gar nicht anders: er musste hinein sehen. Der Rosmarinstengel in seinem Gesangbuch fing an zu zittern und zu beben. In so ein meertiefes Auge voll Glück und Seligkeit zu sehen, machte ihn schwindelig. Und als nun gar die kleine Anna im Vorbeihuschen ihm die Hand drückte, da war es Kob, als öffne sich die Erde unter seinen Füßen, ihn in ihre Finsternis aufzunehmen.

Da kam der Koatsmüller und grüßte: „Guten Morgen, Herr Nachbar! — Quasi ein Wunder, dass wir uns auch einmal hier treffen! Aber es freut mich, wenn wir einmal andere Lieder mit einander singen wie die Modelleurslieder.“

Nun suchten die Männer ihre Kirchenstände auf; denn eben verstummten die Glocken, und die Orgel begann, die Gemüter vorzubereiten zu der Stimmung, aus der die alten, ernsten Volkslieder in ewig schöner Herrlichkeit entsprungen sind.

Wenn der Herr Jakob Querengässer in seinem Stand auf der Empore den Kopf nur ein wenig seitwärts gebogen hätte, so hätte ihm die kleine Anna in die Augen fallen müssen. Die saß hinter einer Säule allein und sang so frisch und fromm, dass wohl auch der liebe Gott seine Freude an ihr haben konnte. Aber Kob wendete den Kopf nicht um ein Haar.

Er stierte grad vor sich hin und sang nicht und sah und hörte nicht. Aber auch der Mut und die Wut zu fluchen, waren dahin. Und was noch kein Mensch an ihm gesehen hatte, — auch seine Mutter nicht, seitdem er die Soldatenstiefel ausgezogen hatte, — das ereignete sich heute da im Gotteshaus: es rollte ihm eine Träne über's Gesicht und fiel auf den Rosmarinstengel. — War sein Dünkel ins Schmelzen gekommen? —

Der Gesang war zu Ende. Der Pfarrer stand auf der Kanzel. „Der Mensch ist wie Gras, das da frühe blühet und abends abgehauen wird.“ — So begann die Predigt. Dies Wort rüttelte den Herrn Querengässer auf. — Das war ja heut ein ganz anderer Mann auf der Kanzel. Herausgehoben aus allen weltlichen Beziehungen: so stand er oben. Er kam in Begeisterung, dass seine Augen flammten und seine Wangen sich röteten. — Ein zweiter Tropfen fiel auf den Rosmarinstengel.

Und nun griff Kob mit der linken Hand ans Kinn. Dabei bekam sein Kopf eine kleine Wendung zur Seite. Und, die er ganz vergessen hatte, die kleine Anna, saß unten wie eine fromme Büßerin und hatte ihre Hand mit dem Blitzring auf dem Gesangbuch im Schoß liegen, als ob sie das von jeher so gemacht hätte.

Ja, siehst du, Herr Querengässer, dass es dir mit deiner Ringsendung quer gegangen ist?

Und es war eine ganz andere — — hat er gesagt.“

Kob war aus seiner Andacht herausgefallen und wieder hinein in das alte Elend. „Molle ist etwas schwachsichtig, und in der Dunkelheit hat er's besorgen sollen. —

Und es war eine ganz andere — hat er gesagt.“

Da nahm Kob die kleine Anna unten im Schiff etwas mehr aufs Korn, wie es in der Kirche schicklich war. Und sein Auge wurde ihm wieder feucht. Wenn es zu einer Träne gekommen wäre, so wäre jetzt eine Freudenträne auf den Rosmarinstengel gefallen.

Der Herr Jakob Querengässer war windelweich. Sein Leben lag ihm vor der Seele wie eine Torheit. Es war ihm, als hätte er heute erst richtig sehen und hören gelernt. — Als der Gottesdienst zu Ende war, wartete er an der Tür auf die kleine Anna, ging dann einige Schritte mit ihr und flüsterte ihr zu, sie möge nachher zu einem kleinen Spaziergang ein wenig auf den Berg kommen, er wolle sie dort erwarten.

Die kleine Anna nickte dem Herrn Querengässer zu. Freundlich? — Das sagt zu wenig. — Wenn dicke Wolken am Himmel hinziehen, und darunter ihre Schatten die grünende, blühende Frühlingslandschaft ins Dunkel stellen, dass sie dem Wanderer sich wie ein elegisches Gedicht präsentiert, und die Sonne bricht durch einen Riss aus den Wolken hervor und lässt die Landschaft plötzlich in ihrer unbeschreiblichen Macht und Pracht erscheinen: so eine Herrlichkeit strahlte aus dem Antlitz der kleinen Anna bei der Einladung des Jakob Querengässer — aus dem Antlitz des harmlosen, bescheidenen, natürlichen Mädchens.

Es legte daheim schnell den Kirchenmantel ab und das Gesangbuch daneben, eilte in die Küche zu Fräulein Lisette und sagte ihr, dass sie einmal auf den Berg müsse, aber in wenig Minuten wieder da sein werde. Dabei hielt sie die Hand mit dem Blitzring hinter einer Kleidfalte verborgen. Denn die Lisette durfte vorderhand das Kleinod nicht sehen. Die würde es ihr doch nicht gönnen.

Ehe diese fragen konnte, was jene auf dem Berg zu tun habe, war sie schon fort. — Lisette schüttelte über das Gebaren der kleinen Anna den Kopf, half der Bratenbrüh mit etwas Wasser und Salz nach und lief zur Frau Wirtin.

Der Michel würde gesagt haben: „Ja, da hilft weder Zug noch Pflaster!“

Jakob stand am Berg hinter einer buschigen Akazie, und als die kleine Anna gestiegen kam, sah er seitwärts nach einem Felsen und griff mit der linken Hand ans Kinn, Was dieser Mann alles erlebt! — Ein Stelldichein am hellen, lichten Tag! -— Sowas ist ihm noch nicht vorgekommen, so alt er geworden ist.

Da hatte ihn Anna schon bei der Hand. „Ach, Herr Querengässer, was haben Sie mir für ein kostbares Geschenk gemacht! Und mein Geburtstag war gar nicht vergangene Woche; der ist erst übermorgen! Tausend, tausend Dank, Herr Querengässer! —

Kob hielt die Hand Annas fest und zog sie an sich und drückte sie. Und es muss ihr wieder „gut gedeucht‘ haben wie damals in der Dunkelheit. Denn sie schmiegte sich an ihn aufrichtig und rückhaltlos, dass der Kob schier trunken wurde. Und er zog sie nach und stieg mit ihr noch etliche Schritte höher. Da setzten sie sich hinter einen Felsen, und Kob küsste die kleine Anna zum ersten mal und tat einen großen tiefen Seufzer. Denn das war überhaupt der erste Kuss, den Kob in seinem Leben riskiert hatte.

Kob wurde schier unbändig in seinen Liebesäußerungen. Es hatte sich seiner eine Aufregung bemächtigt, der er kaum gewachsen war.

Anna, Anna, meine liebe gute Anna!“, rief er dem Kind ins Ohr und drückte ihren Kopf heftig an den seinen, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er sie ins Ohr gebissen.

In dem Kob hatte sich ein großes Kapital angehäuft, um das ihn die meisten unserer heutigen Junggesellen, ältliche und angehende, beneiden könnten. Wer würde sich heut rühmen können, im sechsunddreißigsten Jahr den ersten Kuss riskiert zu haben! — Und wenn die Spitzen ihrer Schnurrbärte hinter der Binde zu himmelstürmenden Spießen gezogen sind, und wenn sie jeden Sonntag Kanten in ihre Hosen bügeln lassen: für sie gibt es jene lieblichen Erscheinungen auf Gottes Erdboden nicht, die in Anspruchslosigkeit und natürlicher Frische sonst Jünglingsherzen entflammen konnten; für sie gibt es fleischerne Geldposten, oder

Nieten, — verschleierte Geschäftsfundamente, oder verschleierte Feilheit. — In Jakob Querengässer war noch eine hochgehende Lebenskraft gehäuft. Vor ihm müsste sich manches junge Bürschchen unserer Tage in seiner Blasiertheit und Abgelebtheit verkriechen. — Kein Wunder also, wenn er die kleine Anna beinahe ins Ohr gebissen hätte.

Sag mir einmal, Anna, wer mein Geschenk an dich besorgt hat?“

Meine Tante hat mir's abends in ihrer Stube überreicht. Ich kann's nicht vergessen, wie ich vor Freude ordentlich erschrocken bin.“

Die Wirtin ist eine gescheite Frau!“

Nich immer. Den Modelleur möcht ich nich. Der hat so stechende Augen. Und meine Tante ist schon ganz einig mit ihm. — Aber ich wollt in ein paar Minuten wieder zu Haus sein. Die sind längst rum.“

Höre, Anna, eh du gehst, muss ich dir was sagen. Wir wolln einander „Du“ nennen. Wir werden doch einander heiraten. Das „Gsie“ gefällt mir nich!“

Da reichte Anna dem Kob die rechte Hand hin, und er schlug ein, dass es einen kleinen Knall gab. Darnach drückte Kob seinen neuen Schatz an sich, und das hat ihr wieder gut gedeucht. —

Und es war eine ganz andere.