„Was wir von einander wissen, bleibt natürlich unter uns, Herr Bachrauch!“, warf der Pfarrer dem Modelleur zu.
„Versteht sich, Herr Pfarrer! Aber wenn ich bitten darf: nicht Bachrauch, sondern Rauchenbach!“
„So geht mir's öfter bei ungewohnten Namen. Nehmen Sie mir das nicht übel!“
Diese Verständigung fand im traulichen Wirtsstübchen neben der gewöhnlichen Gaststube statt. Da saß ein kleines altes Herrlein neben dem Koatsmüller an einem längeren Tisch mit weißer Ahornplatte und schnitt verzwickte Gesichter. Wenns ihm in der linken Wange zuckte, gab es ihm in der Iinken Schulter einen Riß, und wenns hinüberfuhr in die rechte Seite, hatten es da auch Wange und Schulter miteinander.
Der Koatsmüller rauchte aus seiner kurzen Pfeife „Böhners Faßtabak“, und der roch übel genug. Er rauchte diese Sorte eigentlich nur im offenen Feld, wenn er seine Arbeiter beaufsichtigte, hatte heut zum Sonntag aber vergessen, seine Schweinsblase mit Portoriko zu füllen. Als nun der Herr Pfarrer mit dem ihm Fremden eintrat, tat er keinen Zug mehr und ließ den Stinkkloben ausgehen.
„Herr Modelleur Rachenbauch!“, stellte der Herr Pfarrer seinen Begleiter vor.
„Bitte, Rauchenbach!“
„Sehen Sie, da haben Sie's. Also Rauchenbach, wohl zu merken!“
Das kleine Herrlein erhob sich: „Mein Name ist Schulz.“
Da kam der Brauer Hermann und seßte von seinem vorzüglichen Bier vor, das damals von dem gelehrten Paul de Lagarde durchaus nicht als „Dividendenjauche“ hätte gebrandmarkt werden können.
„Mein Durst und solches Bier, meine Herrn, das sind zwei sich ergänzende Dinge sondergleichen, just wie in meinem Fach Knie und Wade“, meinte der Herr Modelleur.
Der Pfarrer fuhr fort: „Und in der Philosophie Correlata, oder in der Kirche Ja und Amen!“
Da steckte der Koatsmüller seine Pfeife in die inwendige Rocktasche und lachte verschmitzt. – Aber vom kleinen Mann hätte man sagen können, daß er sich nicht gerührt hätte, wenn seine Wangen und Schultern nicht gewesen wären.
Nun wandte sich der Modelleur an diesen. „Sie sind wohl fremd hier zu Land? Reisen Sie etwa in Nadeln oder Häfteln, Fingerhüten oder Pinseln?“
Da erhob sich ein Sturm in den zusammenspielenden Körperteilen des Herrn Schulz. Endlich platzte er mit gedämpfter Stimme heraus: „Meine Lebensaufgabe ist, durch die Rechenkunst Gold herauszubringen, – durch Selbstopfer Verborgenes ans Licht zu fördern.“
Der Pfarrer saß sprachlos da und vergaß das Trinken. Der Koatsmüller riss die Augen auf und zog die Füße zurück wie vor einem Hexenmeister. Aber durch das Gesicht des Modelleurs zog der Hofnarr eines Zwergenkönigs mit Schellengeläute und rief: „Gotts Sakerment, Herr Schulz! Mir ahnte doch gleich was. – Aber wenn ich rechne, kommen immer Zahlen heraus, kein Gold. Und was das Verborgene betrifft, so hätte mich eine rechtzeitige Beleuchtung wahrhaftig bewahren können vor einer unheilvollen Verliebtheit – – nicht so, Herr Pfarrer?“ –
Der war noch verblüfft und dachte schon an Krankheit und Irrsinn. Er war aber durch den Modelleur wieder zurecht gekommen und diente ihm: „Sie meinen die krummen Beine?“
Das verstand der Koatsmüller auch nicht, und er befand sich recht in Verlegenheit vor diesen auf ihn einstürmenden Seltsamkeiten. – Gold auszurechnen: das hätte ihm zugesagt. Aber seinen Goldkasten ans Licht zu ziehen: das hätte ihm den Rest geben können. – Correlata? – Schockschwerenot! – Verliebtheit? – Krumme Beine! – Dem Müller ging das alles im Kopf herum wie ein Mühlrad, und er schüttelte den Kopf wie einen Mehlbeutel.
Kob schüttelte auch den Kopf und warf dem Koatsmüller ein „Hm!“ ums andere zu.
Jakob Querengässer und der Koatsmüller waren gute Bekannte. Die Koatsmühle liegt an dem Bach, der unser Dörflein durchfließt, und zu der Mühle gehören verschiedene Grundstücke in der Flur des Dörfleins. Der Müller war damals, als Jakob auf die Welt kam, schon 20 Jahre gewesen, kannte also den Kob von Kindsbeinen an. Sie hielten gute Nachbarschaft, aber einer war so kniefieselig wie der andere. Es kam öfter vor, dass Jakob Querengässer im Bachgestrüpp nahe der Mühle nach Eiern von seinen Enten suchte. Das ärgerte zwar den Müller, konnte ihn aber nicht aus dem guten Nachbarschaftsverhältnis herausbringen. Dazu war der Müller doch zu „gebildet.“ In diesem Punkt war er dem Kob bei Weitem überlegen. Der Müller war in seiner Schulzeit bei einem Vetter in Leutenberg erzogen worden und hatte da auch Latein gelernt. Seine Lieblingsausdrücke von jener Zeit her waren „quasi“ und „quod non“.
Heute erzählte der Koatsmüller dem Kob, wie er zugesehen, daß täglich, wenn seine
jungen Enten auf der Dungstätte herumliefen, eine Ratte aus dem Abzug gekommen sei und sich so ein kleines Watschelvieh heimgeholt habe. – Kob versprach, sich mit feiner Flinte auf die Lauer zu
stellen und den Räuber wegzuputzen. Das gefiel dem Nachbar Müller ausnehmend; denn er duldete kein Schießgewehr im Haus und verstand auch nichts vom Schießen. – Die Enteneier wurden des
fragwürdigen Eigentumsrechtes wegen klug umgangen.
Da kam der Organist vom nahen Städtchen und reihte sich der Gesellschaft ein. Er hatte noch von der bösen Ratte gehört und meinte: „Ihr müsst Euch eine richtige Katz anschaffen oder einen Rattenfänger. Damit seid Ihr gegen die Ratten besser bestellt als mit einem Jäger. Eine gute Katz ist auf einem Gehöfte so notwendig wie eine tüchtige Polizei in der Stadt.“ –
„Quasi!“, sagte der Koatsmüller. „Aber je besser eine Katze ist, desto gefährlicher kann sie werden. Mir haben die Katzen schon manche junge und sogar auch alte Tauben vom Hofe weggeholt.“
„Apropos!“, fiel der Organist ein. „Haben die Herren schon vom Orgel-Wolf gehört? So nennt man das Heulen der stillstehenden Orgel, in der verlorener Wind durch eine oder die andere Pfeife fährt. In alten Orgeln ist der Orgelwolf nichts Seltenes. Aber von einer Orgel-Katz hat gewiss noch nicht einmal ein Organist was gehört. Mir hat einmal die Orgelkatz einen verfluchten Streich gespielt. Will ich da zum Beginn des Gottesdienstes den Eingang spielen, ziehe das volle Werk und greife mit zwei Fäusten frisch hinein. Da kommt ein Durcheinandergeschrei zum Ausbruch, als wenn zehn böse Jungen nach Herzenslust auf der edlen Musikkönigin zu nichtswürdiger Ergötzlichkeit herumspielten. Meine Hände fahren zurück, als hätten sie in Brennnesseln gegriffen. Ich mache weitere Versuche: derselbe Unfug. Ich stoße die starken Register ab: dieselbe Konfusion! – Da entdecke ich, dass die unteren vierzehn Tasten noch in Ordnung sind. Mein Spiel musste sich also auf diese beschränken – mit zweifüßigen Stimmen –, um die richtige Tonhöhe zu bekommen. Es bleibt mir nichts übrig, als mich so bis zur Predigt zu behelfen. – Unser Herr Superintendent war musikalisch und spielte hie und da einmal an einem Wochentag zu seinem Privatvergnügen ein wenig auf unserer Orgel. Da er vom Orgelbau nichts verstand, am allerwenigsten ein so altes Instrument zu behandeln wusste, so dachte ich: da war einmal der Superintendent drüber! – Während der Predigt krieche ich in den alten Bau – was sich ja schon oft wegen einer lahmen Feder, oder einer in einer Zinnpfeife steckenden Turmschwalbe und dergleichen wegen nötig gemacht hatte – und finde, dass gruppenweise die Abstrakten (das sind dünne Spielstäbchen, die die Tasten mit den Ventilen verbinden) in falsche Leitgabeln eingelassen waren. Das konnte der Herr Superintendent nicht getan haben. Die Sache klärte sich dann folgendermaßen auf. Die Kirchenkehrfrau hatte einen großen schwarzen Kater, der seiner Herrin überallhin nachlief. Er war auch mit in die Kirche zum Kehren seiner Gebieterin und Pflegerin gefolgt. Die eine Tür zum Orgelgehäus schloss nicht gut, weil sie sich vorne gesenkt hatte und mit der Ecke auf dem Fußboden kratzte beim Auf- und Zumachen. Da es nun, wie gesagt, öfter einmal in dem alten Werk nachzuhelfen gab, blieb die Tür – um Geräusch zu vermeiden – so weit aufstehen, dass schon ein anständiger Kater bequem ein- und ausgehen konnte. Bekanntlich lieben es aber die Katzen, auf ihren Mäuseabenteuern solche verfängliche Öffnungen zu passieren. So war denn der schwarze Unhold, der mit auf das Kirchenchor geschlichen war, der Einladung der halboffenen vermeintlichen Kammertür gefolgt, hatte das Innere der Orgel für ein interessantes Mäuserevier gehalten und hatte in Ermangelung der Mäuse, die in einer Kirche nichts zu schleißen und zu beißen finden, einen schwungvollen unschuldigen Schmetterling verfolgt. Durch die dabei nötigen Kunstsprünge des Katers auf den Abstrakten war die schauderhafte Verwirrung herbeigeführt worden. So war ich von dem Superintendenten auf die Katz gekommen. Das war die Orgelkatz.“
Der Koatsmüller lachte, dass ihm die Äuglein übergingen. Das Wangen- und Schulterspiel des geheimnisvollen Herrleins wurde lebhaft. Sogar der egale Kob schlug lachend mit der Faust auf den Tisch. Und der Herr Rauchenbach meinte: „Gibt ein Dessin für unsere Fabrik, die Orgelkatz.“
Die Heiterkeit fand in der Vortrefflichkeit des Bieres eine so stützende, ja
hebende Macht, dass der Herr Modelleur ohne weitere Vermittelung ein Lied anstimmte. Sogar der Müller, Kob und der Pfarrer fielen kräftig in den Kehrvers ein.
Mausgrau ist des Müllers Flaus:
Wisst ihr auch, warum?
Mausgrau kommt ja her von Maus,
Mausen auch, fidelfum!
Klippklapp, klippklapp, klinglingling;
Ja, das ist ein ander Ding!
Rundum tanzen Rad und Stein:
Wisst ihr auch, warum?
Lustig muss die Müllerin sein
Tag und Nacht, fidelfum!
Klippklapp, klippklapp, klinglingling;
Ja, das ist ein ander Ding!
Rundum gehts der Magd im Kopf:
Wisst ihr auch, warum?
Hat für Kuh und Sau im Topf
Mehl genug, fidelfum!
Klippklapp, klippklapp, klinglingling;
Ja, das ist ein ander Ding!
Und der Knappe pfeift sein Lied:
Wisst ihr auch, warum?
Weil er mausgrau auch aussieht
Tag und Nacht, fidelfum!
Klippklapp, klippklapp, klinglingling;
Ja, das ist ein ander Ding!
Während der letzten Strophe tat sich die Türe des Stübleins ein wenig auf, und in die Öffnung schob sich eine seltsame Erscheinung, eine sonderbare Mannsgestalt in phantastischem Aufzug. Die Ärmel des Schlotterrockes waren mit Zigarrenbändchen, die beiden Brustflügel mit papiernen Ordenszeichen verschiedenster Form und Farbenmischung, die Achseln mit roten und gelben Schnurbüscheln, das Gesicht mit vierzehntägigen füchsigen Haarsprossen, die Augen mit wirren Brauen geschmückt. Der Hut schlug ins Groteske mit seinem Bänderwerk, seinen Wappen und dem großen Federbusch. Und der Kopf nickte und grinste in das Stüblein hinein mit großer Würdigkeit.
„Meine Herrschaften, wie steht der Kurs?“
„Wenn Sie grade was übrig haben?“
„Diener, meine Herrn! Nichts für ungut. Meine Tour führt mich grade daher. Wollt bIoß einmal vorsprechen.“
„Ah! Der Bildermolle!“, rief der Modelleur. – Du hast ja keine Bilder, Molle?“ –
„Die ho ich schun olle verschenkt, 'n Kinnern.“
„In wievieler Potentaten Dienst stehst du denn, Molle? Deine Ehrenzeichen, Orden, Wappen und Ordensbänder sind ja nicht zu zählen. Du musst dir große Verdienste um die Entwicklung der Menschheit erworben haben.“
„Dadervon ist das nich, Herr Rauchenbach. Mach m'r nur dan Spaß, die Welt in ihrer Lächerlichkeit darzustellen.“
„Quasi!“, rief der Koatsmüller. „Hermann, schenk dem Molle ein Glas Bier ein!“
Molle nickte dem Müller dankbargrinsend zu.
„Molle, du bist ein großer Geist, der vielfach verkannt wird.“
„In ener Ort kunn’ Se Racht hoe, Herr Modelleur. Der Größte ist dar, dar zu seinem Glücklichsein am wenigsten braucht. Das saten schun de alten Griechen.“
„Ich staune!“, rief der Pfarrer.
„E Schulkamerad vun m’r hot aach studiert, ho eber'n g'sass'n, und wenn ich Geld g’hot hätt‘, kennt ich alleweile wos ganz Grußes seie! ’S wer ober a weiter nischt. Und mit ollen Staat in der Walt ist's akkurat su wie mit mein'n.“
Dem Organisten imponierte zwar der philosophische Standpunkt des Bildermolle gewaltig; aber weil sich seiner Meinung nach diese Philosophie nach oben hin etwas zu sehr zuspitzte, gab er dem Gespräch eine andere Wendung.
„Molle, du musst einmal die „Hangeiche“ deklamieren.“
„Die Hangeiche? Die kann ich. Wenn ich den Herrn damit dienen kann?“
Der Herr Modelleur rief: „Los, Molle! Die Hangeiche!“ Der Brauer brachte ein Glas Bier für den Bildermolle. Er trank und geriet in eine ungeheuer ernste und feierliche Verfassung. „Also meine Herrn, die Hangeiche! Eine wahre Geschichte, die sich auf der Heide zwischen Pißnich und Rulscht zugetragen hat 1627.
Vorm Jahre war's, als ich mit müdem Schritte
Durchwanderte den nahen großen Wald;
Mit Mühe kam ich zu des Forstes Mitte,
Da sank ich hin und rief zum Führer: Halt!
Der Führer steht, ich ruh mit Wohlbehagen
In eines Baumes kühlem Schattenraum.
Sieh’, da erblick ich droben angeschlagen
'Ne große Tafel an dem hohen Baum.“
„Halt, Molle!“, rief der Herr Modelleur. „Die Sache ist mir so zu langweilig. Hast du die Ballade selbst gedichtet?“
Der interessante Deklamator grinste verschmitzt und hatte nicht übel Lust, mit „ja“ zu antworten. Aber der Koatsmüller sagte: „quod non! Die Hangeiche habe ich einmal gedruckt gesehn. Das Gedicht ist von Julius Eberwein.“ –
„Trifft zu!“, nickte der Bildermolle. Der Pfarrer kannte das Eberweinsche Werk auch nicht und hätte es gerne weiter vernommen. Er nickte dem bunten Redekünstler zu. Und dieser meinte: „Will die Einleitung weglassen.
Vor vielen Jahren lagen ’mal Soldaten
In jenem Dorf am Berg dort einquartiert,
('s war Wißbich, meine Herrn!)
Die hatten an des Bauers Bier und Braten
Sich lange wohl und weidlich delektiert.
(Warn gruß’n Hunger ghot hoe, meine Herrn!)
Und als sie satt gegessen und getrunken,
Marschierten jubelnd sie zum Dorf hinaus,
(e guter Tisch macht gute Laune!)
Und ach! der arme Bauer, freudetrunken,
Er segnet sich und sein gereinigt Haus.
(Warn nich schlacht geponst hoe, und mit der
Renklichket werd’s bei gen Suldoten aach nich
weit har gewasen seie.)“
„Meine Herrn, ich schlage vor, die Verse unserem Herrn Gelehrten zu erlassen. Mag er uns doch die Geschichte kurz und bündig erzählen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.“ Jakob nickte dem Modelleur Beifall zu, und der Stadtorganist und der Koatsmüller gaben ebenfalls ihr Einverständnis zu erkennen.
„Wie's die Harrn winschen. Will’s erzehle; is ene wohre G’schichte.
Als die Suldoten aus Wißbich naus worn – sie sin nach Pißnich zu marschiert – allzueilig warn sies nich g’hot hoe vun wagen dar Tafeleie – do hun se in Wißbich g’schwind Kerche g’hultn und sin zum Obendmohl gang – namlich die Bauern. Herre, dar Schreck! Do is d’r guld’ge Obendmohlskelch wack – e uralts Kleinod von 'm adeligen Herrn von der Weißenburg g’stift. – Dan hun de Suldoten g’stuhl'n! schrein die Bauern. Und d'r alte Schulz tritt ver und sate: Ein schlechter Kerl ist der, der uns das Heiligste geraubt hat. Sowas kann der Hauptmann nicht dulden. Ich lauf den Leuten nach und fordre unsern Kelch. – Er eilt, als wär' r nuch e junger Karl, dr Monnschaft noch und findt se im Walde gelogert, dn Hauptmonn unter ener Eiche. Zu dan sat dr Schulz: Huldreicher Harre! Geraubt ist unser Abendmahlskelch, aus Gold getrieb'n, ein altes heilges Stück, aus der Kirche heraus. Gewiss war's einer aus Eurer Mannschaft.
Da rollt der Hauptmann seine Augen wild und ruft: Wer hat den Kelch, wer ist der Kirchenräuber? Heraus damit, sonst trifft Euch allesamt die härt'ste Strafe! – Kanaillen! – – Es rührt sich einer. – Drum sat der Hauptmann zum Schulzen: So suche selbst, was du begehrst! Entdeckst du den Kelch, so wird der Dieb gehängt, wo nicht, so hängst du selbst an dieser Eiche! –
Do sucht dr Schulz das ganze Loger dorch: imsunst! Der Angstschweiß tritt ihm ins G'sicht. – Endlich sieht er was aus einem Tornister blinken, den sich ein Mann zum Rastkissen zurecht gelegt hatte. „Da ist er!“ ruft der Schulz in seiner Todesnot. Meine Herrn, Sie können sich denken, wie hastig da der Schulz nach dem Kelch gekrobbst hat. ’S is wohrhaftig kein Spaß, die Eiche ver ich zu sehn, wodran m’r aufgehängt werden soll. – Nu hon s'n Dieb! Nu is ja gut.“
„Quod non!“, ruft der Koatsmüller. „Das war nicht der Dieb!“
„Freilich nich!“, ruft Molle. „Er konnt aber soge, was er wullt: er hatte den Kelch; ar mußt'n g’stuhln ho, wenn gleich der richt'ge Dieb dan Kameraden erst den Bacher in den Tornister praktiziert hutte, – dar schlachte Karl! — Nun wird halt der Unshuld’ge aufgehängt. Verarst sat er ober: Ich kann meine Unschuld nicht beweisen; aber Gott soll für mich zeugen damit, daß er in diesem Wald nie wieder eine Eiche aufkommen lässt!
Das war sein Ietztes Wort, ehe er an der Eiche dort – alleweile eine Kiefer – seinen Geist aufgab. – Und wißt Ihr, meine Herrn, der, der den Kameraden hängen musste, der Henker, war der richt'ge Dieb! – Der ward dann flüchtig. Und weil ihn sein Gewissen peinigte – denn dodrser is gu do! – hat er sich selbst zuletzt an einer Eiche aufgehängt. — Das ist die Geschichte von der Hangeiche. Und die hat dort gstann'n, wo die Tafel auf der Heide ong’schlan is mit der Aufschrift „Hangeiche.“ Es is aber alleweile ’ne Kiefer, weil keine Eiche mehr dort aufkimmt seit dan Fluche, den der Unschuldige auf den Wald gelet hot.“
„Quasi!“, sagte der Koatsmüller.
„Schauerlich!“, rief der Herr Pfarrer.
Und das Herrlein mit dem Muskelspiel in Wange und Schulter bekam einige Risse nach dem Hals zu.
„Nu adjes, meine Herin! Wenn Sie aber grode was ebrig hun, und wenn’s grode posst?“ — Damit hielt Molle seinen schmuckstrotzenden Hut vor und machte seine graziösen Verbeugungen.
„Belästige die Herrn doch nicht, Molle! Mach, dass Du fortkommst!“
„Ah!“, grinste Molle der eintretenden Schwester der Wirtin zu. „Schönes Fräulein, wenn ich Sie seh, da geht mir der Himmel auf, wenn dort unter den Schönen auch keine verkomm’n mag, die sich mit Sie mess'n kann. Verzeihn Sie, Fräulein Lisette! Ich werd gleich gehn. Danke schene, meine lieben Herrn! Vergelt's Gott! Diener, Diener! Lab’n Se racht wuhl!“
Fräulein Lisette schlug die Türe weit zurück, um dem Bildermolle Raum zu schaffen zum bequemen Rückzug; denn selbst eine leichte Berührung mit einem seiner Bänder wäre dem Mädchen unangenehm gewesen.
„Der Sakermenter der!“, rief der Modelleur. „Wie der sich bei den Schönen einzuschmeicheln sucht. Der versteht’s besser wie wir, Herr Pastor!“
Und Jakob warf höhnisch den Bundesgenossen hin: „Ist aber auch noch ledig.“
Diese Zusammenstellung mit dem Bildermolle ihrem wunden Punkt nach fuchste den Pfarrer nicht wenig.
„Gleichwohl, Herr Querengässer, können wir von dem Manne Iernen. Wenn ich auch nicht vom Himmel reden möchte beim Anblick einer irdischen Schönheit: ich finde gleichwohl Fräulein Lisette reizend.“
Herr Jakob Querengässer griff mit der linken Hand ans Kinn.
Aber damit sollte es nicht abgetan sein. Dem Herrn Modelleur war Querengässers Rede auch vorgekommen wie Hohn. Und es reizte ihn, den Kob ein wenig zu verarbeiten. „Der Herr Querengässer hat vorhin dem Koatsmüller seine Jägerdienste angeboten, wenn auch nur gegen Ratten; aber so ein Jägerblut macht mir Spaß! Singen wir ein Jägerlied, nachdem wir den Müller bereits im Lied geehrt haben.“ Herr Rauchenbach stimmte an und die anderen fielen ein.
Ein Jäger ritt wohl auf die Birsch:
Das Schmaltier wollt’ er erlegen,
Das Schmaltier, oder den weißen Hirsch.
Da kam ihm traulich entgegen
Des Köhlers dralle Marei:
Vorbei war das Jagen, vorbei!
Trarari, Halli!
Herzallerliebste Mari!
Vom Rösslein stieg der Jägersmann
Und band es fest an der Eiche.
Nun rat einmal, wer raten kann,
Was flüstern die grünen Zweige? —
Das Schmaltier läuft an Marei
Und dem Jäger erschroden vorbei.
Trarari, Halli!
Herzallerliebste Mari !
Ei, Jägersmann wohl auf der Birsch,
Das Schmaltier ist Dir entgangen. —
Da trollt heran auch der weiße Hirsch
Mit siebenendigen Stangen.
In großen Sätzen — ei, ei! —
Kommt heil auch der Hirsch vorbei.
Trarari, Halli!
Herzallerliebste Mari!
„Herr Rauchenbach, ich hätte gemeint, daher hätte besser gepasst das Lied von der alten Ratten.“
„Wahrhaftig, der Müller hat Recht. Ei, dass ich nicht an die alte Ratte gedacht habe.“
„Singen wir es doch auch noch“, rief der Herr Pfarrer. „Korrelata dürfen gleichwohl nicht auseinander gerissen werden, so wenig wie Knie und Wade; ist es nicht so, Herr Modelleur Rachenbauch? — Ei, ei! Wollte sagen Rauchenbach!“
Nun ging dem Müller ein halbweges Licht auf über dieses verzwickte Wort, und er warf hinein: „Quod non! Stimmen Sie an, Herr Rauchenbach!“
Es war eine alte Ratten —
Die ält’ste, die wir hatten
Die stieg gern in das Hühnerhaus
Und soff die Hühnereier aus.
O jerum, valera!
War keine Falle da?
Was nützt die Rattenfalle
In einem Hühnerstalle?
Schlagt doch in eurer Rattennot
Das böse Vieh mit Knütteln tot!
O jerum, valera!
Ist denn kein Knüttel da?
Zur Tilgung solcher Füchse
Greift Jakob nach der Büchse.
Ruft schnell den Jäger Kob herbei,
Ist in Gefahr das Hühnerei!
O jerum, valera!
Der Jakob ist schon da!
Es brach ein Heiterkeitssturm aus. Aber der Koatsmüller rief: „Quod non! Das ist ein falscher Vers. Wo haben Sie den her, Herr Modelleur?“
„Ist so eben aus meinem Atelier hervorgegangen. Ist keine Hexerei, ein passendes Verslein aus dem Stegreif zu modellieren.“
Der Brauer trat ein und rief Fräulein Lisette hinaus, auf einen fremden Ankömmling zeigend, der Nachtquartier wünsche. Und in dem selben Augenblick trat Herr Schulz hinzu und brachte ein gleiches Anliegen vor.
Fräulein Lisette bat die Herrn, sich ein wenig zu gedulden, sie wolle einmal mit der Wirtin darüber reden und entfernte sich.
Der eben angekommene Fremde fixierte den Herrn Schulz auffallend und fragte ihn, ob er sich nicht einmal vor etwa 35 Jahren mehrere Wochen in der Gegend von Eisfeld aufgehalten habe? — Da begann an diesem das Reißspiel zwischen Wange und Schulter, bald hüben, bald drüben. Aber er tat, als hätte er den Fremden nicht verstanden, antwortete nicht und verschwand im Nebenstübchen, wo er seinen Platz wieder einnahm.
Der Fremde ließ sich zwischen den Bauern in der gewöhnlichen Gaststube nieder und fragte den ersten besten, wer das kleine Herrlein sei, das auch nach Nachtquartier gefragt habe. Es war aber den Bauern ein völlig Unbekannter.
Die Frau Wirtin kam selbst, eine Witwe von 25 Jahren, wohlgestaltet und schön von Antlitz, elastisch und weich in Bewegung und Manieren.
„Wo sind Sie her?“, wandte sie sich an den Fremden, „und was haben Sie für Geschäfte bei uns?“ —
„Ich bin von O. und soll bei dem Fabriksherrn in P. nah Wasser bohren. Mein Name ist Helck.“
„Hab schon davon gehört, dass Herr C. für seinen Garten Wasser schaffen will. Sie können da bei uns übernachten.“
Und nun wandte sich die schöne Wirtin dem Herrenstübchen zu, um da auch Bescheid zu geben auf die Frage nach Nachtquartier.
Als die schmucke Erscheinung in die Augen des Junggesellenbundes fiel, waren alle drei ein wenig düpiert. Selbst der Koatsmüller schmunzelte und rief: „Recht so, Frau Wirtin, daß Sie sich auch einmal bei uns sehen lassen! Wären Sie ein wenig eher gekommen, so hätten Sie zwei hübsche Jägerlieder mitsingen können, das eine von einem Hirschjäger, das andere von einem Rattenjäger, und doch quasi von nur einem Jäger.“
„Und noch ein wenig früher ein mausgraues Müllerlied“, warf Kob dem Müller zu.
„Sehn Sie“, sprach der Herr Pfarrer, „ob uns auch da der Herr Modelleur Rachenbauch mit seinen Liedern ein wenig in den Harnisch gebracht hat, — gleichwohl begrüßen wir Sie in großer Ehrerbietung als unsere liebenswürdige Wirtin.“
„Wenn ich bitten darf: Rauchenbach!“
„O, verzeihen Sie, Herr Rauchenbach! Werd’s merken.“
Lachend gab die Wirtin dem Herrn Schulz zusagenden Bescheid und nahm neben dem Herrn Querengässer Platz am Iustigen Tisch.
„Du siehst aus, Kob, als gingst du auf Freiersfüßen, geschniegelt und gebügelt. Auf wen halt du’s denn abgesehen?“
Kob griff mit der Ilinken Hand ans Kinn und blickte errötend an der schönen Nase der Wirtin vorbei. Er fühlte sich geschmeichelt durch die Anerkennung, die die junge Witwe seinem Äußeren zollte. „Du willst mich doch nur zum Besten haben, Anna!“
„Was denkst du, Kob? Dich zum Besten haben — den ersten Mann im Dorf und ringsherum? — Keiner vernünftigen Person wird das einfallen.“
Der Herr Modelleur räusperte sich. „Meine Herrschaften, ein klein Liedlein noch auf die schöne Wirtin!“
Weiß ein Weiblein hübsch und fein
Hinter einem Schild,
Strahlt wie Morgensonnenschein
Prächtig als Brünnhild.
Schöne Wirtin, sei mir gut:
Weih dir Mut und Blut!
Schenk mir einen Schoppen ein
Hinter deinem Schild,
Schöne Wirtin, jung und fein,
Stärker als Brünnhild!
Schöne Wirtin, sei mir gut:
Weih dir Mut und Blut!
Jakob hat’s ihr angetan:
Was führt er im Schild? —
Drückt sich an den Jakob dran
Mächtig die Brünnhild.
Schöne Wirtin, sei mir gut:
Weih Dir Mut und Blut!
Lachend sprang die Wirtin auf. „Siehst du, Kob, in welcher Meinung du bei den Leuten stehst? — Nun mach aber Anstalt zum Frein!“ — Und nachdem ihr Auge sich eines Blitzes nach dem Auge des Modelleurs hin entladen hatte, war sie hinaus.
Den Kehrreim hatten alle in der Wiederholung begeistert mitgesungen, besonders gewaltig Kob.
Der drückte sich eben durch die Hausflur und stieß im Hof zwischen Haus und Stallung auf ein weibliches Wesen, das er für Fräulein Lisette hielt; denn es war längst dunkel geworden. —
Mochte nun die Dunkelheit, oder die genossene Schmeichelei der Frau Wirtin, oder die Gemütsaufheiterung durch das Lied auf das Schildweiblein, oder die anregende Kunst des Brauers ihm die Brust mit Mut erfüllt haben, — Kob umfasste die Mädchengestalt, zog sie ein wenig an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Sie wär'n mir recht — meiner Mutter auch — Sie könnten mich glücklich machen!“
Im Brünnhildenlied hatte die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht. Die anregende Laune des Herrn Rauchenbach war auf einmal stumpf geworden wie die Schneide einer Stahlklinge in der Schmelzhitze eines Blitzes.
Kob kehrte unruhig, ja aufgeregt zur Gesellschaft zurück, brachte aber eben kaum noch einen Gedanken zum andern. Die kühne Tat seines Freiersmutes stand vor ihm wie eine freche Herausforderung an das Schicksal.
Der Organist und der Koatsmüller suchten bereits nach Stock und Kopfbedeckung.
„Auf baldiges Wiedersehen!“, rief ihnen der Pfarrer nach.
Es dauerte nicht lange, so saß der Herr Schulz, der Geheim-Künstler, noch allein da.