Während dieser Vorgänge begab sich der Pfarrer ins Wirtshaus. Er war in großer Aufregung. Und die nahm zu, je näher er seinem Ziel kam.
In der Hausflur stieß er auf den Brauer und fragte den, wo die Frau Wirtin oder Fräulein Lisette zu sprechen sei?
Hermann, der mittelst seiner Kunst in Hopfen und Gerste sich als ein Meister über Männerlaunen fühlte, hatte wohl gemerkt, dass über die „Frauenzimmer‘ ein Ungeheuerliches hereingebrochen war, stand nun aber vor der Frage des Pastors wie die Katze vor dem Igel.
„Die Frau Wirtin wird wohl oben sein. Glaub, dass sie krank ist. Fräulein Lisette ist wohl nicht zu Haus. Kann Ihnen eigentlich keine Auskunft geben, Herr Pastor! — — Weeß nich!" —
Mit dem Schein großer Notwendigkeit schob sich der Kellermeister an dem Geistlichen vorbei.
Die Not des Pfarrers nahm zu. Er betrat die Stufen nach „oben“. Die Füße wurden ihm immer schwerer.
„Mein Glaube an weibliche Tugend und Reinheit ist mir bis auf die letzte Faser aus der Seele gerissen!“
Diese Stelle aus seinem Brief an Fräulein Lisette schoss in seinem Kopf hinüber und herüber, dass ihm der Hirnkasten dröhnte.
Mit großer Verzagtheit berührte sein Fingerknöchel dreimal die Türe zum Zimmer der Frau Wirtin. — Es blieb still wie im Grab. Eine kaum stärkere Wiederholung blieb ebenso erfolglos.
Einer dritten, etwas stärkeren Bitte um Gehör folgte ein unwillkürliches Räuspern des Aufgeregten. Dem Gottesmann fiel das Bild von der verdammten Seele am Himmelstor ein. Es arbeitete gewaltig in ihm.
„Wollen Sie mein Bekenntnis verschmähen, Frau Anna?" Diese Worte entrangen sich endlich, zwar etwas zitternd, aber vernehmlich, der keuchenden Brust.
Da öffnete sich die Tür, und die schöne Witwe empfing in großer Verlegenheit den Seelsorger. — Sie lud ihn ein, Platz zu nehmen. Es war wahrhaftig Bedürfnis für den Angegriffenen, Folge zu leisten.
„Habe vernommen, dass mein Brief an Fräulein Lisette große Missstimmung hervorgerufen hat, und komme, Aufklärung zu geben und Verzeihung zu erbitten!“ —
Frau Anna sah den Herrn Pfarrer erstaunt an und wusste nicht, was sie sagen sollte. — Da ging's plötzlich wie Sonnenlicht über ihr Antlitz. „Ich ahne, was kommen wird. Da ist der Kob im Spiel, dieser dumme Mensch!“ — Aber dem hellen Schein folgte bald eine purpurne Röte. Es war die Röte der Scham, welche der Scharfblick der Wirtin ihr ins Gesicht getrieben hatte. — Das falsche Spiel! — Früchte des falschen Spieles! „Polizeilich“ ist das freilich nicht verboten. Aber der Leichtsinn, aus dem es geboren ward, ist sträflich! —
Nun wäre die Frau Wirtin eigentlich in dem Fall, den Herrn Pfarrer um Verzeihung zu bitten. Die „Kanaille“ aber, wie sie Jakob Querengässer einmal nannte, hatte nicht den Mut, vor dem Herrin Pfarrer ein offenes Bekenntnis abzulegen. Ihr kam seine übergroße Verlegenheit zugute, sich im Schleier der Unschuld breit zu machen. „Der Kob war vorhin da. Und seinen Reden nach spielt er mit uns wie der Löwe mit der Maus, der Großhans, der dumme!“
„War Herr Jakob Querengässer auch da bei Ihnen?“, fragte verdutzt der Herr Pfarrer. —
„Nächsten Sonntag wär seine Verlobung mit unserer Anna. Mit dieser Erklärung ist er davon gelaufen. Der Mensch muss übergeschnappt sein!“ —
„Frau Wirtin, der Herr über alles, was Odem hat, leitet auch die Herzen der Menschen wie Wasserbäche. Aber wir Verblendeten sind zu hochmütig und weichen gar zu leicht ab vom Gottvertrauen.“
Die Hände der Wirtin lagen gefalten in ihrem Schoß. Und sie nickte sehr ehrerbietig zu dem ernsten Wort des Pastors.
„Meine verehrte Frau Wirtin! So habe ich mich denn auch schwer versündigt an Ihrer frommen Schwester. Ich schäme mich aber, die Quelle meiner Verblendung zu bezeichnen. Gleichwohl verschaffen Sie mir Gehör bei ihr, dass ich mein Vergehen in aufrichtiger Reue bekennen und Vergebung erflehen kann.“
Sie verneigte sich mit den Worten: „Werde die Lisette auf Ihren Besuch vorbereiten und ihre Fassung wieder herzustellen suchen. Denn die Ärmste war außer sich und hat in diesen Stunden schwer gelitten. Sie müssen wahrscheinlich viel Geduld haben, ehe mir das gelingen wird.“
Nun war der Herr Pfarrer allein, und seine Gedanken ergingen sich in den wunderlichsten Bildern.
Eine blühende Frühlingslandschaft tat sich vor ihm auf. Die Nachtigallen jubilierten, flöteten von Liebe und schluchzten in Schmerzen. — Da brach ein talpiger Riese durch das blütenreiche Grün und richtete Verwüstung an, wohin er trat, dass bald an den geknickten Zweigen die Safttropfen in der Sonne spielten wie Tränen der leidenden Natur. — Aus der Höhe schwebte eine Erscheinung hernieder in rosigem Flor. Sie verdichtete sich zu einem lächelnden Mädchen. Aber der Talp stürmte auf die Liebliche ein mit Dornen und Disteln, dass sie bald in blutiger Zerrissenheit zu Boden fiel. — Da erschien in dem Eingang zu einer Grotte eine junge robuste weibliche Person und winkte den Unhold zu sich hinüber. Und wie er sich näherte, schrumpfte seine Gestalt zusammen zu einem gewöhnlichen Bauersmann in Kleidern von einem Stadtschneider. Er glich dem Herrn Jakob Querengässer auf ein Haar. Und sie zog das Abbild des Kob in die Grotte nach.
Nun war alles verschwunden vor dem Träumer, und der Spiegel der Wirtin starrte ihn an und warf ihm sein eigenes Bild entgegen, vor dem er erschrak. Denn seine Blässe war die eines Toten. —
Der im Anschauen Verlorene sprang auf und machte einige hastige Gänge um den Tisch herum. Dabei trat ihm die Röte eines Lebendigen wieder ins Antlitz. Und als er sich wieder an den Tisch setzte, war es ihm, als säße er in seiner Studierstube, und als tue sich die Tür auf. Zu der kam ein Postament auf Rädern herein und fuhr an ihm vorüber. — „Wie bist du, meine Königin“ ging's ihm mit unbeschreiblichem Wohllaut durch die Seele. — „Wonnevoll! Wonnevoll! — — Durch tote Wüsten wandle hin, — und grüne Schatten breiten sich — — wonnevoll! — — Lass mich vergehn in deinem Arm! Wonnevoll!“ —
Als die Fuhre wieder an dem Pfarrer vorüberging, war aus dem königlichen Postament ein grünes Brettchen mit vier Rädchen in der Größe eines Fünfgroschenstückchens geworden, und darauf saß ein gackerndes Hühnchen aus Sonneberg. Es kutschierte durch die offene Studierstubentür hinaus. Hinterdrein folgte ein grunzendes Ferkelchen. —
So hatte der Herr Pfarrer eine geraume Zeit geträumt und geschwärmt. — Die Frau Wirtin hatte ihre schwedische Not mit Fräulein Lisette. Der musste sie die Augen erst waschen und kühlen zu einem guten Anblick. Dann wurde das Haar in glatte Flechten gebracht und die Büste in wohlgefällige Rundung. Und nachdem endlich Fräulein Lisette einigemal die Prüfung ihres Äußeren im Spiegel vorgenommen hatte, ward sie von der Wirtin in deren Zimmer geleitet zum Herrn Pastor. Dann zog sie sich still zurück in Lisettens Kammer. —
Der große Augenblick war gekommen.
Zwei in „stummes Leid“ und „göttliche Traurigkeit‘‘ eingemauert gewesene Herzen loderten frei und „wonnevoll“ auf.
Fräulein Lisette stand gesenkten Hauptes vor dem Herrn Pastor. Tief errötend ergriff er die beiden schlaffen Hände und drückte eine um die andere an seine Lippen.
Erlöst aus dem Bann der Lüge und Irrung! — Erlöst aus der Finsternis eines verschütteten Schachtes! — Befreit aus den verborgenen Schlingen eines verblendeten Schwarmgeistes der Naht! — —
Der Jubel des Überglücklichen wollte kein Ende nehmen. Er zog an den Armen des lebenden Mädchens, bis es ihm an der Brust lag. —
Die Nachtigallen schwiegen. Sie hatten bereits die Heimat verlassen. Aber hinter den Vorhängen der herbstlichen Dusternis schlugen glückliche Herzen hell und heiß einem längst herbeigesehnten Frühlingsleben entgegen. Drei ältliche Junggesellen schwelgten in unbeschreiblichem Glück, — der eine im Schwung eines aufschwebenden Pfaues, der andere im Mutwillen eines dichtenden Künstlers, fern von krummen Beinen, der dritte in unverwüstlicher Inspiration vor „seiner Königin“.
„Wonnevoll“ klang es nach in dem Herrn Pfarrer, als ihm Lisette an der Brust lag. Das sind die von ihm ungekannten Wonnen der Liebe, — jene überschwänglichen Wonnen des Unerklärlichen, das die Geschlechter aneinander fesselt. —
„Wir sind über das Reale hinausgeraten und hantieren nur noch mit Phantomen! —
Wir haben das Zölibat verdient!"
Dieses einstige Bekenntnis des Geistlichen war nunmehr tief versunken im Echtmenschlichen.
Der natürliche Mann kam zu blühender Entfaltung. Und Fräulein Lisette erglühte und schlug die Augen auf, und die Blicke der „Wonnevollen“ trafen ineinander.
— Da geschah es, dass jene sprachraubende Macht Mund auf Mund heftete in herzschmelzender Innigkeit und Hingebung.
So ein älterer Junggesell ist unbändig, wenn es ihn packt. Aber der Herr Pfarrer wurde in seiner Überseligeit schwächer und schwächer, dass ihm Tränen über die Wangen träufelten. „Ach, Fräulein Lisette, wie habe ich Sie verkannt! Wie habe ich Ihnen weh getan! Wollen Sie mir verzeihen? — Wollen Sie's vergessen, was ich an Ihnen gesündigt habe? — Mein Glaube an weibliche Tugend und Reinheit steht wieder hochaufgerichtet wie ein Fels, und ich umklammere diesen Fels in mächtiger Inbrunst als ein geretteter Schiffbrüchiger!" —
Darauf schloss er das glühende Mädchen auf's Neue in seine Arme.
Genug der Überschwänglichkeit!
In das Versöhnungsspiel hinein drang ein heftiges Pochen an der Stubentür. — Das überglückliche Paar schrak auf und lauschte betroffen. Da war aber die Frau Wirtin schon auf dem Plan und rief in ärgerlicher Erregung: „Was willst du, Molle? — Mach gleich, dass du fortkommst!“
„Such de kleene Anna. Hob wos Nutwend’gs auszurichten!“ —
„Ist nicht zu Haus. Hab sie zur Frau Querengässer gehn sehn.“ —
„Nicht für ungut! Lab’n Se wuhl! Adjes!“ —
So hatte Molle erfahren, wo die kleine Anna war. Und nun war er in das Querengässersche Haus eingefallen und hatte da seine Botschaft vom Stadtorganisten und dem Brunnbohrer Helck ausgerichtet.
Von Schlettwein aus war die kleine Anna zunächst wieder zur Frau Querengässer zurückgekehrt.
Herr Jakob Querengässer war in Gedanken hinaufgeraten an die einsamen Bäume vor der Zwergenhöhle. Da kam er zur Besinnung auf seinen Schatz und eilte nun nach Haus. Eben hatte sich die kleine Anna von ihrer künftigen Schwiegermutter verabschiedet. Kob traf seine Mutter allein in der Stube.
„Kob, ich wusste immer, dass ein richtig Glück speng ist. — In Euer Glück hinein scheint mir alleweil was Dusters zu komm'n. — Weißt du was darüber?“ —
„Hat öpper der Herr Pastor wieder einmal einen Kolleranfall? — Hat er uns nun gar was eingebrockt? — Soll denn unser Fuhrwerk nich wieder ins richtige Geleis kommen? ’S hat bisher von einem Loch ins andere kutschiert und von einer Pfütze in die andere.“ —
„Was su nur immer mit dem Herrn Pfarrer mir in die Quere kommst? — Kob, nun beicht einmal! Was hast du alleweile mit dem Mann, wenn ich grad an die Not der Anna denk? — Ich sagt's ja immer, dass ein wenig Gottesfurcht gut dabei wär! — Was willst du nun gar mit dem Koller? — Ich kann nich klug aus dir werden.“ —
„Du bist eine tüchtige Frau, Mutter! Aber die Geschichten von uns jungen Leuten verstehst du nimmer. — Der Pfarrer hatt' schon den Koller und ich auch, — weil's eine ganz andre war. Und das kommt alles von der unliebsamen Verwechselung — wie der Wirtin ihr Faulenzer gesagt hat. Aber damit ist nich Wermut am Gansbraten gemeint.“
Und Kob setzte sich ans Fenster, fuhr sich mit der Linken ans Kinn und sah hinüber nach dem philosophischen alten Weidenstock und murmelte: „Not der Anna!“
„Geh mir mit den Verwechselungen, dem Koller und all dem dummen Kram! — Deine Anna hab’n sie heut nach Schlettwein rufen lassen wegen einem Schlüssel, und sie weiß von nichts. Alleweil war sie da und hat mir's erzählt. Ich sagt’s ja immer! Wenn nur nix Ungrads dreinkommt!“ —
„Die Anna wegen einem Schlüssel? — Schockmillion! — Das versteh ich nich!“
„Ich auch nich! Und die Anna auch nich! Das ist's ja eben! Und ein Hexenmeister hätt's mit ihr, Herr Jeses Christes!“ —
„Ein Hexenmeister? — Mit meiner Anna? — Den soll doch gleich ein heiligs Kieseldonnerwetter ...“
„Kob, lass das Fluchen unterwegs! — Ein bißl Gottesfurcht wär gut dabei! — Dabei bleib ich!“ —
„Wer ist der Hexenmeister? Wo ist er, der Hund?“ —
„Als die Anna nach Schleppchen kam zu Märt'ns-Kaspars, wohin sie gerufen worden war, da war alleweile der Schlüsselmann gestorben. Der Stadtorganist und der Bohrmeister Helck waren dabei gewesen. Und die haben die Schlüsselgeschichte ein Geheimnis genannt, und das werde nun mit dem Mann begraben. Mehr bracht ich nich aus der Anna heraus.“
Da kratzte sich Kob hinterm Ohr. — — Ich hab's, Mutter! Weiß von dem Hexenmeister. Er war verwichen im Wirtshaus übernacht, als wir da einmal einen lustigen Abend hatten. Da hat der Koatsmüller die Beine vor ihm zurückgezogen. Denn als der Modelleur Rauchenbach das Männlein auskundschaftete, hat es von Rechenkunst gered't und von Selbstopfer und Anslichtbringen großer Haufen von Gold. Er hat 's Reißen im Gesicht und in den Schultern gehabt, als stäken böse Geister in ihm zur Plage und Qual. Kann schon ein Hexenmeister gewesen sein. — Aber was soll der mit meiner Anna zu schaffen hab'n? — Der Hallunke! Kreuzdonner ...“
„Kob, lass dein Fluchen! — Merkst du’s nicht, dass schon eine schwarze Wolke aufsteigt über der Anna! Und eh die Hingabet is, müsst ihr zum heiligen Abendmahl gehn. Das tu' ich partout nich anders! — Ich will mich nich allein drüber freun. Der Herrgott muss auch dabei sein. So gehört sich's. — Kob, lass den Himmel nich aus!“
Da griff Kob mit der linken Hand ans Kinn und sah wieder nach dem dickköpfigen Weidenstock drüben. Er sagte nicht mehr zur Mutter: „Das verstehst du nicht!“ —
Nach einer längeren Pause sprang Kob auf und rief: „Das Männlein war krank, Mutter! Wenn's Reißen über ihn kam, ist mir bang geworden. Und seinen Reden nach war's nicht richtig mit ihm im Kopf. Dadrin hat sich was festgesetzt, was ganz Dummes wahrscheinlich. Narrnspossen! Wenn sie die nur mit dem Kerl begraben! — Und du hast recht, Mutter! — In der Kirche ist mir hinter dem Blitzring die Anna mit Leib und Seele ins Herz gefallen. Und in der Kirche doll alle Dudternis, in der ich sonst gern hantiert hab, vergehn. Drum gehn wir erst nächsten Sonntag vormittags zum Abendmahl, und am Montag darnach kann die Verlobung auch noch sein.“
„Haduch! Haduch! — Kob, so macht mir's Freud!“
Der Eine
Steht allem für;
Der gibt auch dir
Das deine!